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ESSAY

Schweidler, Walter: Biopolitik und Bioethik. Über Menschenwürde als ethisches Prinzip des modernen Rechtsstaates

Frontlinien der Bioethik

Die Bioethik ist ihrem Wesen nach ein vehementer, quer zu den meisten weltanschaulichen Fronten verlaufender philosophischer Grundlagenstreit. Umstritten sind die grundsätzlichsten Fragen: ob Menschsein und Personsein sich umfangmäßig decken, ob der Personbegriff überhaupt für die Klärung moralischer Fragen in Bezug auf die Grenzzustände des menschlichen Lebens relevant ist, ob die „Menschenwürde“ Grundlage einer rationalen Behandlung bioethischer Probleme ist, ob die Würde, wenn sie denn von wesentlicher Bedeutung ist, allem menschlichen Leben zukomme oder nur Menschen als Wesen, denen bereits ein bestimmter Entwicklungsstand ihres Lebens zuzuschreiben ist und ob es überhaupt auf so etwas wie „Natur“ in diesen Fragen ankommt. Wer die wichtigsten Frontlinien überspringt, an denen dieser Grundlagenstreit sich abspielt, der nimmt die Perspektive „seiner“ je eigenen, jedoch nicht eine Perspektive ein, die man in einem akzeptablen Sinne als die „der“ Bioethik bezeichnen könnte.

Kann man diesen Perspektivismus überhaupt vermeiden? Zumindest eine elementare Frontlinie zieht sich unerbittlich durch die wesentlichen Kontroversen: eine Linie, die man nicht überschreiten kann, die einen vielmehr dazu zwingt, den ethischen Standpunkt, den man einnimmt, diesseits oder jenseits von ihr zu verorten. Es ist dies die Frontlinie zwischen deontologischer und teleologischer Moralbegründung, zwischen dem Verständnis moralischer Normativität vom Prinzip der Selbstzweckhaftigkeit der Menschheit oder aber von dem der Optimierung der Glücks- und Leidbilanz erlebter oder zu erlebender Bewusstseinszustände her. Wer die ethische Qualität einer Handlung danach bemisst, ob sie ihrem objektiven Sinne nach die Unantastbarkeit der Würde jeglichen menschlichen Lebens bezeugt, urteilt in aller Regel signifikant anders über Fragen wie die der verbrauchenden Embryonenforschung, der pränatalen Diagnostik, des möglichen Einsatzes von Klonierungstechnik zu therapeutischen Zwecken oder auch der aktiven Sterbehilfe als jemand, der das ethische Maß außerhalb der Handlung in den Folgen sucht, die sie für die Glücks- und Leidbilanz erlebten oder zu erlebenden Lebens mit sich bringt.

Eine Vermittlung der beiden gegensätzlichen Kernstandpunkte auf der Ebene der originären Moralbegründung scheint nicht möglich zu sein. Zu unüberwindlich sind die Antithesen der theoretischen Kontroverse, zu unversöhnlich die politischen und rechtlichen Antagonismen, die sich einstellen, wenn der Grundlagenstreit auf die Ebene konkreter Entscheidungen durchschlägt. Man braucht dazu nur etwa an die strikt gegensätzlichen Urteile der beiden Senate ein und desselben Verfassungsgerichts zu der Frage zu denken, ob ein mit undiagnostizierter Behinderung zur Welt gekommenes Kind ein Schadensfall sei oder nicht. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass im Moralbegründungsstreit noch diesseits der eigentlichen Regelungsproblematik schon auf der elementarsten Ebene, nämlich derjenigen der Beschreibung, also der Identifikation des objektiven Gehalts einer bestimmten Handlung, unversöhnliche Gegensätze herrschen können. Wenn das Geschehen von der einen Seite als Hilfshandlung bei der Erfüllung des mutmaßlichen Todeswunsches einer unwürdig leidenden Sterbenden gesehen wird, von der anderen Seite aber als Verdurstenlassen einer hilflosen Patientin vor den Augen derer, die für ihre Rettung verantwortlich wären, dann stößt alle argumentative Rationalität an die Grenzen, jenseits derer sie von einer nicht noch einmal argumentativ einholbaren Übereinstimmung der Diskurspartner in ihrem Blick auf die Wirklichkeit abhängig ist. Man kann auch sagen: dann stößt die Moralbegründung auf ihre uneinholbaren kulturellen und somit letztlich auch politischen Ausgangsbedingungen.


Ersetzung von Bioethik durch Biopolitik?

Das ist aber auch der Grund, aus dem der politischen Philosophie in diesem Kontext eine genuine Rolle zuwächst. Die Reflexion auf die spezifisch politischen Vermittlungsbedingungen des Gegensatzes von deontologischer und teleologischer Moralbegründung gewinnt handlungsorientierende Bedeutung, gerade wenn sie den bioethischen Grundlagenstreit nicht als im Sinne der einen oder der anderen Position gelöst betrachtet – und: wenn sie nicht etwa selbst den Anspruch zu usurpieren versucht, ihn lösen zu können. Ein solcher umfassender, den ethischen zugunsten des politischen Gesichtspunkts suspendierender Anspruch würde sich dann ergeben, wenn man die ethische Frontlinie zwischen deontologischer und teleologischer Moralbegründung für einen weltanschaulichen Gegensatz erklären wollte, dessen adäquate Bewältigung innerhalb der Institutionen des Zusammenlebens im demokratischen Rechtsstaat eine Angelegenheit der Entscheidung durch politische Abstimmung sei.

Eine Begründungsintuition dafür wäre etwa: Der moderne Rechtsstaat gewinnt seine Legitimität wesentlich aus der Suspension weltanschaulicher, insbesondere religiöser Konzeptionen der umfassenden normativen Orientierung des menschlichen Lebens, indem er die Gegensätze, zu denen die Vielfalt solcher Konzeptionen und der sich daraus ergebende Konflikt zwischen den ihnen folgenden weltanschaulichen Lagern führen muss, gerade durch die friedenserzwingende Regelungsmacht seiner spezifisch rechtlichen Normen aus der Ordnung des politischen Zusammenlebens heraushält. Wo sich aber zeigt, dass grundsätzliche Tatbestände bis in die Kategorien ihrer deskriptiven Erfassung hinein aus Gründen weltanschaulich bezogener Differenzen umstritten sind und ohne erkennbare Aussicht auf Beilegung dieser Differenzen umstritten bleiben werden, dort muss er seine Regelungsmacht einsetzen, um den Streit aus der Ordnung des Zusammenlebens herauszuhalten. Wo insofern die Verständigung über konkrete Fragen bioethischer Art nicht anders zu erreichen ist, kann und muss er sie zur Sache der demokratischen Abstimmung machen, so dass es den verschiedenen weltanschaulichen Lagern überlassen bleibt, im Ringen um die öffentliche Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ihre Standpunkte zur Geltung zu bringen und um ihre gesamtgesellschaftliche Akzeptanz zu werben.

In einer derartigen Sichtweise wäre es nichts anderes als die Logik der Legitimation des demokratischen Rechtsstaats selbst, welche im Umgang etwa mit den Fragen nach den Grenzen des menschlichen Lebens und dem normativen Status seiner Grenzzustände die Suspension der bioethischen durch biopolitische Beschreibungs- und Entscheidungskategorien verlangt. Programmatisch dafür könnten die Sätze von Jürgen Habermas angeführt werden, der in seiner Erörterung über die Zukunft der menschlichen Natur postuliert, dass es zu einer eindeutigen Entscheidung über den ethisch relevanten Status etwa der frühen Stadien des menschlichen Individuums nur „auf der Grundlage einer weltanschaulich imprägnierten Beschreibung von Tatbeständen“ kommen könne, „die in pluralistischen Gesellschaften vernünftigerweise umstritten bleiben“, während „nur weltanschaulich neutrale Aussagen über das, was gleichermaßen gut ist für jeden, … den Anspruch stellen“ können, „für alle aus guten Gründen akzeptabel zu sein“. (S. 60 f.)

Die Position von Habermas erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als eine, auf
die eine derart radikale Ersetzung von Bioethik durch Biopolitik nicht gestützt werden kann. Habermas hält die entscheidende Sphäre fest, die man nicht ausblenden darf, wenn es um die Vermittlung zwischen weltanschaulich unentscheidbaren und politisch regelungsbedürftigen bioethischen Konflikten geht, nämlich die Sphäre der ihrerseits ethischen – und also nicht ethisch neutralen – Legitimation der weltanschaulichen Neutralität des modernen Staates. Der „Vorrang des Gerechten vor dem Guten“, zu dem sich Habermas im Blick auf die ethische Charakterisierung der modernen Idee von Staatlichkeit bekennt, verbietet zwar die Rückbindung des Prinzips universaler, allein auf vernünftige Reziprozität autonomer Subjekte gegründeten Rechtlichkeit in einer eudaimonistischen Konzeption gelingenden Lebens, aber er „darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die abstrakte Vernunftmoral der Menschenrechtssubjekte selber wiederum in einem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten ethischen Selbstverständnis der Gattung ihren Halt findet“ (S. 74). Darin, dass die „Technisierung der Menschennatur“ dieses gattungsethische Selbstverständnis antaste, besteht nach Habermas gerade der Kern der Problematik, die uns zur neuartigen Reflexion auf die politischen Implikationen bioethischer Streitfragen zwingt.

Differenz zwischen weltanschaulicher und ethischer Neutralität

Mit der Differenz zwischen weltanschaulicher und ethischer Neutralität markiert Habermas weit über seinen eigenen Standpunkt hinaus die Voraussetzungen, unter denen allein die Legitimationsbedingungen des demokratischen Rechtsstaats mit dem bioethischen Grundlagenstreit vermittelbar sind. Die Fragen nach einem die Menschenwürde nicht verletzenden Umgang mit den Grenzstadien menschlichen Lebens sind Implikationen nicht nur der Formulierung weltanschaulicher Sinnkonzeptionen, vor deren normativen Regelungsansprüchen der moderne Staat seine Bürger zu schützen beansprucht. Sie sind insbesondere Implikationen jener universalen Normativität, auf die er, dieser Staat, allein die Alternative stützen kann, die er als Quelle der von ihm errichteten und durchgesetzten Ordnung des Zusammenlebens in Anspruch nehmen muss, wenn er nicht als rein dezisionistisches Machtprodukt auf einer Ebene mit Diktatur und Tyrannei stehen soll.

Mit den Begriffen der Würde und des Rechts des Menschen bezeichnet dieser Staat nicht einen unbestimmten Willkürraum, den er, etwa als Agent der darin entfesselten Privatinteressen, von weltanschaulichen Sinnkonzeptionen freizuhalten hätte, sondern genau diejenige Sinnkonzeption, die er diesen als die einzig ihm verfügbare entgegensetzt und auf die er sein Gewaltmonopol und seine faktisch unbegrenzte Macht zu begründen vermag: die Sinnkonzeption, die sich aus der autonomen Souveränität jedes Menschen über die ihm natürlich verliehene Spanne Zeit seines Lebens ergibt. Er kann und darf diese Sinnkonzeption nicht erzeugen, auch nicht einfordern, aber er lebt – nach dem berühmt gewordenen Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde – gerade als freiheitlicher, säkularisierter Staat von ihr als dem Inbegriff der Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Denn nichts anderes als diese jedem einzelnen aufgrund seines Menschseins zustehende Souveränität über die Sinnkonzeption seines Lebens ist es, in deren rationaler Vereinbarung sich die Prinzipien der Ordnung begründen, aus welcher der Rechtsstaat nicht nur seine normativen Strukturen, sondern auch noch die Existenz seiner Institutionen und damit noch sich selbst begründet, da er ja – eben als Rechtsstaat – diese Institutionen der Ordnung unterwerfen muss, die er durch sie und sich erst schafft und erhält. Gerade um sich und seine Gewalt gegenüber den je partikulären privaten Interessen zu legitimieren, hat er überhaupt nichts anderes, worauf er sich stützen könnte, als den schlechthin nicht partikulären, sondern universalen Horizont normativer Ansprüche, also den der Rechte aller Menschen, soweit er diesen gegenüber Verantwortung trägt.

Nur auf die Rechte anderer und letztendlich die Rechte aller kann er sich berufen, wenn er die einzelner beschneidet; kein Sittengesetz und keine übergesetzliche Ordnung, keine „Menschenpflichten“ und kein Menschenbild kann er in Anspruch nehmen, wenn es um die konkrete Durchsetzung rechtlicher Eingriffe in das Leben seiner Bürger geht. Und auf Rechte und Würde der Menschen muss auch die Demokratie zurückgreifen, wenn sie für sich, wie ironisch auch immer, in Anspruch nimmt, eine vielleicht schlechte, aber doch die beste Form der Organisation von Regierungsgewalt unter allen zu sein, die geschichtlich erprobt worden sind. Denn woran diese Kraft der Demokratie erprobt wurde und woran sie sich dergestalt bewährt hat, das kann ja nicht demokratische Abstimmung gewesen sein. Die ethische Legitimität eines auf Abstimmung und Mehrheitsherrschaft beruhenden politischen Systems kann sich nicht an etwas beweisen, worüber sich abstimmen lässt.

Es ist also zwischen weltanschaulicher und ethischer Neutralität der Biopolitik deutlich zu unterscheiden. Ein argumentum ad hominem für diese Unterscheidung liegt schon allein darin, dass der bioethische Grundlagenstreit quer zu vielen weltanschaulichen Lagergrenzen steht. So findet man einerseits in Ostasien in den Auseinandersetzungen um die Verwertbarkeit menschlichen Lebens für fremdnützige Zwecke Fronten wieder, die ganz parallel zu denen bei uns verlaufen, und andererseits in dem relativ homogenen weltanschaulichen Kontext wie dem der katholischen Kirche in Deutschland einen erbitterten Streit um die Beteiligung am staatlichen System der Abtreibungslegalisierung, dessen theoretischer Hintergrund im Kern kein anderer war als die Kontroverse zwischen deontologischem und teleologischem Moralverständnis.

Will man die Grenzlinie zwischen ethischer und weltanschaulicher Neutralität positiv markieren dann muss man auf das zurückkommen, was Habermas als die „Selbstbehauptung eines gattungsethischen Selbstverständnisses“ (S. 49) charakterisiert hat, „von dem es abhängt, ob wir uns auch weiterhin…gegenseitig als autonom handelnde Personen anerkennen können“ und dessen Verteidigung „ein politischer Akt selbstbezüglichen moralischen Handelns“ als Ausdruck „einer reflexiv gewordenen Moderne“ ist (S. 50).

Menschenwürde als Legimitation

Das ethische Selbstverständnis des modernen Rechtsstaates, die Quelle, gegenüber der er prinzipiell nicht neutral ist, weil sich seine Legitimation aus ihr speist, wird innerhalb unseres politischen und rechtlichen Diskurses mit dem Begriff der Menschenwürde bezeichnet. Um die spezifische Stellung dieses Begriffs im Kontext von Ethik und Politik zu rekonstruieren, hat es keinen Sinn, auf eine unmittelbare Definition zuzusteuern, in die man unweigerlich die bioethischen Auseinandersetzungen, in denen es um den moralischen Status menschlicher Wesen geht, schon hineinträgt. Sondern man muss von der Funktion ausgehen, die ihm innerhalb des rechtlichen und politischen Diskurses seine normative Bedeutung gibt. Sie lässt sich mit zwei ganz grundsätzlichen formalen Kennzeichnungen markieren, nämlich als genuin pragmatische und als prohibitorische.

„Pragmatisch“ meint, dass der Würdebegriff seinen primären Sinn, also nicht nur seine Konkretisierung, in Bezug auf Handlungen gewinnt. Nur weil und insofern es Arten und Weisen menschlichen Handelns gibt, in denen die Voraussetzungen, die spezifisch menschliches Handeln erst konstituieren, missachtet werden, kann man davon sprechen, dass Würde verletzt wird, obwohl sie doch zugleich unantastbar ist und dem Verletzten selbst gerade nicht genommen werden kann. Nicht durch irgendeinen Zustand des Opfers, sondern durch die Tat und deshalb durch den Täter wird die Würde verletzt. Deshalb entscheidet darüber, bis wohin der Bereich möglicher Würdeverletzung reicht, nicht der Horizont, der sich aus der Wahrnehmung oder Wahrnehmbarkeit der Verletzung durch das Opfer, sondern derjenige Horizont, der sich aus dem Umfang der Verantwortung ergibt, die dem Täter zuzuschreiben ist. Nicht etwas, das ich ihm nehmen kann und dem ich etwas antun könnte, macht die Würde dessen aus, der von Würdeverletzung betroffen ist, sondern seine Würde bestimmt sich aus etwas, das ich ihm nicht nehmen kann und dem ich aufgrund dessen nichts antun darf.

Genau das besagt die klassische Definition der Person durch Kant, nach der die Würde des Menschen darin besteht, die Maxime seines Handeln aus der Perspektive „aller vernünftigen als gesetzgebenden Wesen“ nehmen zu müssen, die eben deshalb, weil ich meine Handlungsmaxime aus ihrer Perspektive nehmen, das heißt mich vor ihnen rechtfertigen muss – „Personen“ heißen. (GMS BA 82f.)

Es ist genau diese Einsicht, die Patrick Bahners in einer biopolitischen Auseinandersetzung einmal Hubert Markl entgegengehalten hat: „Die Frage nach dem Status des Embryos findet ihre Antwort nicht in seinen natürlichen Eigenschaften, sondern in der moralischen Welt, die durch die Handlungen anderer konstituiert wird…Der Erwerb der Menschenwürde ist ebenso eine widersinnige Idee wie ihre Verwirkung. Es kommt nur darauf an, ob sie dem Embryo in dem Moment zukommt, in dem er zum Objekt unserer Handlungen wird.“ (Geyer, Chr., Hrsg., Biopolitik, S. 208f.) Würde ist keine Eigenschaft, sondern ergibt sich aus dem Verhältnis, das – nach der Grundidee Kants, die Habermas im Ansatz unverändert aufgenommen und die in neuerer Zeit Robert Spaemann noch einmal philosophisch umfassend begründet hat – sich in der Differenz zwischen „etwas“ und „jemand“, zwischen Person und Sache konstituiert. Diese Differenz findet sich nicht im „Status“ menschlicher Wesen, wie immer ihre leibliche Verfassung sich zu irgend einem Zeitpunkt darstellen mag, sondern sie findet sich in der Unterscheidung zwischen menschlichen und unmenschlichen Handlungen, so dass etwa Fragen wie die, ob einer menschlichen Zelle oder einem menschlichen Organ „Würde zukomme“, völlig an der Sache vorbeigehen; was zählt, ist die Frage, welcher Umgang mit dem menschlichen Wesen, ohne das es diese Zelle oder dieses Organ nicht gäbe, geboten ist – und diese Frage haben deontologische und teleologische Betrachtungsweise immer noch gemeinsam, ungeachtet ihres Streits über die Maßstäbe, die das so Gebotene konkret bestimmen.

Die prohibitorische Funktion des Würdebegriffs

Durch die Biomedizin ist ein Spektrum radikal neuer Handlungsmöglichkeiten erwachsen, die gerade die Differenz zwischen Person und Sache wenigsten ansatzweise zu dekonstruieren vermögen. Daraus erwächst eine beide streitenden Lager gleichermaßen herausfordernde biopolitische Aufgabe. Deren Lösung kann nicht in einem Akt des politischen Dezisionismus, sondern nur im Rückgang auf die Prinzipien bestehen, vor denen sich auch das biopolitische Handeln im Rechtsstaat noch auszuweisen hat. Damit kommt der Funktion des Würdebegriffs entscheidende Bedeutung zu, die ich die „prohibitorische“ genannt habe. Der Würdebegriff ist ein Rechtsbegriff, und als solcher gewinnt er seinen konkreten Gehalt aus der Funktion, die Kant in der Metaphysik der Sitten als das strukturelle Grundmerkmal von Rechtsgewährleistungen im staatlichen Zusammenleben überhaupt bestimmt hat, nämlich „Hinderung eines Hindernisses“ also Negation der Negation, Beseitigung von Unrecht zu sein. Wenn wir mit der „Würde des Menschen“ einen Rechtsbegriff an die Spitze der Legitimationspyramide der Ordnung unseres Zusammenlebens stellen, dann binden wir uns damit nicht an eine inhaltliche Definition, aus welcher sich ableiten ließe, welche Wesen diese Würde zukommt und welchen nicht. Wir binden uns vielmehr an eine unserer Rechtsordnung aufgegebenen Begrenzungsleistung, konkret an das für alle ethisch verantwortlich Handelnden grundlegende Verbot, andere Mitglieder des Rechtsverbandes daraufhin zu beurteilen, ob ihnen Würde zukomme oder nicht. Dieses Definitionsverbot ist die eigentliche Substanz des ethischen Selbstverständnisses des Rechtsstaats: er schützt seine Bürger ohne jede denkbare Ausnahme vor der Definitionsmacht, die ihnen das Menschsein abzusprechen ermöglichte.

Damit erst ist das Kriterium eindeutig bestimmt, aufgrund dessen die weltanschauliche Neutralität und die ethische Bindung des Staates auf nichtdezisionistische Weise miteinander vereinbar gemacht werden. Die oben zitierte Forderung Habermas’ nach weltanschaulich neutraler Darlegung dessen, was gleichermaßen gut ist für jeden und was für alle aus guten Gründen akzeptabel ist, kann der sich in ihrem Sinne legitimierende Staat nur erfüllen, wenn er die Bestimmung des Kreises, aus der sich ergibt, wer in diesem Sinne „jeder“ ist und wer zu „allen“ gehört, der Dezisionsmacht einzelner Kräfte oder noch so umfassender Teile des je existierenden Gesellschaftsverbandes entzieht. Dafür sind das Definitionsverbot und das mit ihm sachlich eng verknüpfte Verbot der Instrumentalisierung jedes menschlichen Lebens für fremdnützige Zwecke die ausschlaggebenden Elemente.

Damit ist nun der Punkt erreicht, an dem das Wort von der „Gattung“ im Kontext bioethischer Diskussion einen präzisen Sinn erhält. Entsprechend der Position von Habermas darf die Forderung nach der Bewahrung des „gattungsethischen“ Selbstverständnisses nicht als weltanschaulich „imprägnierte“ Auffassung betrachtet werden – wenngleich sie selbstverständlich eine Implikation sehr vieler weltanschaulicher Positionen sein kann und ist – , sie ist vielmehr Ausdruck des „Reflexivwerdens der Moderne“ oder konkreter: Bedingung der Legitimität und Legitimationsfähigkeit des spezifisch modernen, sich nicht metaphysisch rechtfertigenden Rechtsstaats. Sie gehört ihrer philosophischen Substanz nach auf die Seite der ethischen Bindung, die er zu bewahren, nicht der weltanschaulichen Konflikte, die der moderne Staat aus sich herauszuhalten hat. Denn sie ergibt sich nicht aus irgend einem positiven Postulat der „Heiligkeit“ oder Ehrwürdigkeit der Spezies homo sapiens als solcher, sondern ganz simpel als Reflex des Definitionsverbots, das im Legitimationskern unserer politischen Ordnung wohnt: Wenn es die Logik unserer Rechtsgewährleistungen wesentlich verlangt, uns des Urteils über die Zugehörigkeit anderer menschlicher Wesen zum Rechtsverband der Personen im Unterschied zu den Sachen zu enthalten, dann bleibt als subsidiäre Instanz, aus der sich ergibt, wer zu diesem Verband gehört, nur die Gattung übrig: weil und insofern wir unser Zusammenleben auf Normen gründen, die in abstrakter und prohibitorischer Weise unsere Integrität schützen, können wir zwischen den natürlichen Bedingungen unseres Daseins und der abstrakt allgemeinen Ordnung unseres Zusammenlebens keine dezisionistische Zwischeninstanz dulden, die über die Zusammensetzung der Menschheit verfügungsbefugt wäre.

Die ethische Grundlagenkontroverse

Damit ist jedoch nicht die Lösung, sondern erst das Problem umrissen, vor welches sich im Kontext der bioethischen Kontroversen die politische Philosophie und Theorie gestellt sieht. Die eigentliche Problematik stellt sich dadurch, dass es eben nicht eine weltanschauliche, sondern eine ethische Grundlagenkontroverse ist, die den bioethischen Streit kennzeichnet. Weltanschauliche Differenzen kann man mit Normen regeln, ethische Grundlagendifferenzen hingegen transformieren sich über Normen in die staatlich geregelte soziale Realität hinein, wofür die zahllosen Inkonsistenzen, Widersprüche, dilatorischen Kompromisse und offenen Interpretationsdissense, die die Gegenwart unseres biopolitischen Diskurses kennzeichnen, ein klarer Beleg sind – Widerrechtlichkeit bei Straflosigkeit der Abtreibung, europäische Förderung national verbotener Forschung und so vieles mehr bis hin zur aktuellen Auseinandersetzung um den Stichtag, von dem her sich die Grenze zwischen zur Forschung freigegebenen und nicht freigegebenen Stammzellen schreibt. Wie können wir mit dieser Situation umgehen, und welche Rolle wächst durch sie insbesondere der politischen und politikwissenschaftlichen Reflexion zu?

Gerade wegen der absehbaren Unüberwindbarkeit der Grundkontroverse auf der Ebene der theoretischen Moralbegründung ist diese Rolle von großer Bedeutung. Die Vermischung zwischen dieser Grundlagenkontroverse und der genuin politikphilosophischen und politiktheoretischen Analyse haben Implikationen, die einer durchaus möglichen rationalen Bewältigung der Situation erheblich im Wege stehen.

Einige der aktuellsten Positionen gegenwärtiger Philosophie sind durch diese Vermischung gekennzeichnet. Mehr als fraglich ist es, ob die entscheidende Differenz zwischen weltanschaulicher Neutralität und ethischer Bindung mit John Rawls’ Dichotomie von „umfassenden Lehren“ über das Gute und einer „öffentlichen Konzeption“ des Gerechten, durch welche die Bürger sich dem ethischen Anspruch unterwerfen, den die Erhaltungsbedingungen des demokratischen Staates ihnen auferlegen, zu fassen ist. Diese Differenz wird konterkariert, wenn man als den letzten Inhalt, dem gegenüber die ethische Bindung bestehen soll, eben die Existenz, Erhaltung und Stabilität derjenigen Ordnung einsetzt, die sich durch diese Bindung doch legitimieren soll. Hier wird die Überführung von Legitimations- in Akzeptanzbedingungen zum ethischen Programm gemacht. Noch deutlicher zeigt sich diese Tendenz in Ronald Dworkins Versuch, die letztlich politisch-rechtliche Bewältigung der bioethischen Grundkontroverse auf der Basis eines demokratischen Konsenses, der an den Friedens- und Stabilitätsbedingungen rechtsstaatlicher Ordnung ausgerichtet ist, in den ethischen Kernbegriff des „Lebens“ so zu transformieren, dass zwischen dem Respekt vor dem Leben und dem vor dem sozialen Konsens im Grunde nicht mehr zu trennen ist.

Differenz zwischen Normkultur und Nutzenkultur

Mit der Transformation der biopolitischen Problematik auf die Ebene solcher fundamentaler Kategorien der theoretischen Moralbegründung wie Gerechtigkeit, Leben, Person konterkarieren wir das Ziel, politische Rationalität in den ethischen Grundlagenstreit hineinzutragen. Den Erfordernissen der Trennung zwischen der theoretischen Kontroverse zwischen deontologischer und teleologischer Moralbegründung und der politiktheoretischen Rekonstruktion des genuin biopolitischen Aufgabenfeldes können wir nur durch die Einführung einer Dichotomie begegnen, die auf einer anderen als der originär ethischen Ebene angesiedelt ist und die ich die Differenz zwischen Normkultur und Nutzenkultur nenne. Mit „Normkultur“ meine ich in etwa den Zusammenhang, den ich in zwischen dem Würdebegriff und der „gattungsethischen“ Legitimationsbasis des modernen Rechtsstaats hergestellt habe. Was innerhalb des ethischen Grundlagenstreits ein wertloses argumentum ad hominem wäre, ist im politiktheoretischen Kontext eine wesentliche Ausgangsfeststellung, nämlich dass alle für unser Leben wesentlichen nationalen und internationalen Rechtsgewährleistungen auf dem Bekenntnis zu einer solchen Normkultur aufruhen. Dennoch entwickelte sich in fortgeschrittenen Industriegesellschaften und im Zuge ihrer globalen Konsequenzen eine Schicht gesellschaftlichen Konsenses, der gerade auf die Relativierung dieses Zusammenhangs unteilbarer Würde gerichtet ist. Entstanden ist eine „Nutzenkultur“, für die die Überzeugung charakteristisch ist, dass es Kriterien der Abwägung von menschlichem Leben daraufhin gibt, wie dessen Status und damit auch seine potentielle Existenz mit konkurrierenden ethischen Gütern zu vereinbaren ist. Es geht mir hier nicht um eine philosophische Letztbeurteilung der Nutzenkultur, wohl aber um ihre rationale Einordnung und auch Begrenzung im Verhältnis zur Normkultur.

Für die Nutzenkultur sind Lebensqualität und Selbstbestimmung des Individuums Grenz- und Sinnfaktoren aller staatlichen und gesellschaftlichen Normativität. Sie formuliert damit selbst Bedingungen, die nach ihrem Verständnis die Normkultur in modernen Gesellschaften erst überlebensfähig machen. Sie geht davon aus, dass die Normkultur nur existieren kann, weil es dem Menschen letztendlich um die Qualität seines Lebens geht, weil er ein glückliches Leben haben will. Ihr liegt die Behauptung zugrunde, dass die Normkultur nur existieren kann, weil die menschliche Selbstbestimmung höher steht als die Normen, die ihr dienen, und dass das Ziel der menschlichen Lebensverbesserung eines ist, das gleichgewichtig neben die Prinzipien des Schutzes menschlichen Lebens überhaupt tritt. Der „einzigartige Zufall“, dem der Mensch sein individuelles Selbstverhältnis verdankt, ist für sie zwar Ausgangsbasis, aber nicht legitimierender Horizont seiner Ansprüche gegenüber der Gesellschaft und den anderen Menschen.

Die Kontroverse zwischen Norm- und Nutzenkultur kann auf diese Ebene als ein Streit um den Legitimationshorizont des modernen Rechtsstaates in Relation zu einem ihm adäquaten Begriff menschlicher Selbstbestimmung und Lebensverbesserung rekonstruiert werden. Dieser Streit prägt auch die bioethischen Auseinandersetzungen, geht darin doch um einen Hintergrund, über dessen Unabdingbarkeit sich die streitenden Seiten letztlich einig sein können und. Die Reflexion über das Menschsein zwischen Norm- und Nutzenkultur ist wesentlich eine Besinnung auf die ethischen Souveränitätsbedingungen moderner Staatlichkeit.

Ich sehe die die Reflexion auf die funktionalen Implikationen der Prinzipien der Selbstbestimmung und der Lebensqualität für die Konkretisierung der unser Zusammenleben tragenden Normkultur als eine genuine, gegenüber jeder ethischen Grundlagenreflexion eigenständige Aufgabe der politischen Theorie und Philosophie. Die Grenze, an der diese Reflexion wieder in grundsätzliche ethische Stellungnahmen zurückführen muss, ist dort, wo die Nutzenkultur dazu herangezogen wird, politischem Dezisionismus den Boden zu bereiten, indem die Prinzipien der Würde und des Rechts des Menschen als weltanschauliche Hintergründe der modernen Staatlichkeit ausgeklammert und ihr gegenüber in eine weltanschauliche, insbesondere religiös aufgeladene Ecke verwiesen werden.


UNSER AUTOR:

Walter Schweidler ist Professor für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Praktischen Philosophie an der Universität Bochum.

Von der Redaktion gekürzter Text. Der vollständige Text (mit den Literaturangaben) erscheint in:
Clemens Kauffmann (Hrsg.): Biopolitik im liberalen Staat. Baden-Baden: Nomos, 2009. (Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft).

Von Walter Schweidler ist soeben erschienen:
Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik. 412 S., Ln., 2008, € 48.—, 2008, Karl Alber, Freiburg.
Das Buch enthält vereinigte und systematisch aufeinander bezogene Beiträge zu einem an der zeitgenössischen Philosophie orientierten Begriff von Metaphysik.