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02 2015

Stefan Müller-Doohms großangelegte Habermas-Biographie

aus: Heft 2/2015, S. 48-35


Als der Soziologe Stefan Müller-Doohm nach Abschluss seiner Adorno-Biographie Habermas mitteilte, als nächstes wolle er eine Habermas- Biographie schreiben, war dieser nicht begeistert: Dass jemand in seinen „Gedärmen wühlen“ wolle, so sein Kommentar, habe für ihn etwas Befremdliches. Habermas hat aber dennoch den Autor bei seiner Arbeit unterstützt, er war zu persönlichen Gesprächen bereit, und Müller-Doohm durfte den 200 Aktenordner umfassenden Briefwechsel in Habermas’ Privathaus sichten.

Pünktlich zum 85. Geburtstag von Habermas erschien das 750 Seiten umfassende Werk

Müller-Doohm, Stefan: Jürgen Habermas. Eine Biographie. 750 S., Ln., € 29. 95, 2014, Suhrkamp, Berlin.

Im Mittelpunkt des voluminösen Werkes steht der Intellektuelle, nicht der Philosoph Habermas. Müller-Doohm bindet das intellektuelle Engagement von Habermas in die Zeitgeschichte ein, der soziologische Hintergrund des Autors macht sich vielfach bemerkbar. Im ersten Teil des Werkes ist ihm dies gelungen: Spannend erzählt er die Geschichte der vielen Debatten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in die Habermas involviert ist. Dabei ist der Autor nicht immer neutral: seine Darstellung ist eine Habermas wohlwollende. Im zweiten Teil entrinnt der Autor der Gefahr eines ermüdenden Aufzählens von Vorträgen, Begegnungen mit anderen Geistesgrößen und der Entgegennahme unzähliger Preise nicht. Eine andere Schwäche des Bandes ist die Darstellung der philosophischen Positionen, die Habermas vertreten hat, und deren Zusammenhang mit den philosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Es gelingt Müller-Doohm nicht immer, diese auf den Punkt zu bringen. Er greift dann zu einem Trick: Er zitiert einfach die zentralen Passagen. Eine Gesamtdarstellung der Philosophie Habermas in ihrem Kontext steht noch aus.

Das Jahr 1929, das Jahr der Geburt von Habermas, geht als das Jahr der großen Wirtschaftskrise in die Geschichte ein. Habermas wächst in Gummersbach in einer protestantischen Familie auf, sein Vater ist Syndikus der Industrie- und Handelskammer. Eine unauffällige Familie, „geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte“. Bei der Geburt sind mehrere Operationen notwendig, dennoch lässt sich die Gaumenspalte, mit der der Säugling zur Welt kam, nicht ganz beseitigen; eine Nasalierung ist die Folge, unter der Habermas seither leidet. Mit zehn Jahren wird er Mitglied des Deutschen Jungvolkes, später dann der Hitlerjugend. Noch im Februar 1945 wollen die Feldjäger den 15jährigen Habermas zum Militär abholen, durch Zufall ist er die Nacht über nicht zu Hause, und kurz darauf kommen die Amerikaner. Habermas erlebt die amerikanische Besatzung als Befreiung, „historisch und persönlich“. Durch den Nürnberger Prozess erfährt er erstmals vom realen Ausmaß der Schreckenstaten des Naziregimes: „Unsere eigene Geschichte“, so Habermas, „ließ dies anders erscheinen. Man sah plötzlich, dass es ein politisch kriminelles System war, in dem man gelebt hatte.“ Von nun an zeigt sich Habermas als vehementer Kritiker von jedweder Blindheit gegenüber dem, was „die Nazis allem, was Menschenantlitz trägt, angetan haben.“ Hinzu kommt eine rückhaltlose Identifikation mit der Idee der Demokratie. Die Zäsur von 1945 hat bei Habermas existentielle Denkprozesse ausgelöst, „ohne die ich wohl kaum zur Philosophie und Gesellschaftstheorie gelangt wäre“.

Zum Sommersemester 1949 schreibt sich Habermas an der Universität Göttingen ein, um im Hauptfach Philosophie zu studieren. Die obligatorische Zulassungsprüfung absolviert er bei Nicolai Hartmann, der Fragen über Rilke und Kant stellt. Neben dem Studium hat Habermas genügend Muße, um ein Theaterstück Der Pazifist zu schreiben. Er beginnt sich auch für bildende Kunst zu interessieren. In Göttingen fühlt sich Habermas aber nicht wohl, er scheitert mit einem Dissertationsentwurf und geht 1950 für ein Semester nach Zürich, unternimmt in der Schweiz ausgedehnte Fahrradtouren. So radelt er mit einem Freund über Amsteg bis nach Chiasso, von wo aus sie im „Heiligen Jahr der Pilger“ mit dem Zug bis nach Rom fahren. Danach setzt er sein Studium in Bonn fort und freundet sich mit dem sieben Jahre älteren Karl-Otto Apel an. Habermas hat schnell den Ruf, erstaunlich schnell und auffallend gut zu schreiben und dabei höchst originelle Einfälle zu Papier zu bringen.
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