PhilosophiePhilosophie

04 2015

Helmut Holzhey:
Pathische Urteilskraft. Gedanken zum Leiden im Anschluss an ein Buch von Hartwig Wiedebach

aus: Heft 4/2015, S. 44-53

 

Wiedebach, Hartwig: Pathische Urteilskraft. 272 S., Ln., € 25.—, 2015, Karl Alber, Freiburg.

Es ist ein anderer als der philosophisch vertraute Geist, der in diesem Buch weht: nicht der Geist der transzendentalen Grundlegung oder einer auf produktiver Negativität aufbauenden Dialektik und auch nicht der Geist des Abwägens von Argumenten auf der Basis fragloser Rationalität. Fern jeder Dogmatik läuft das Buch aber auch nicht auf Lebenskunst hinaus oder liefert dafür eine „bündige Methodenlehre“ (34). Sein Geist lässt sich nur durch Stichworte wie „Befangenheit im Menschlichen“ (26), „Hingabe“ (als „Kraft in der Befangenheit“, 19), „denkendes Erleiden des Lebens“ u. ä. andeutend umreißen. Es beginnt mit dem Satz: „Dies ist ein Versuch, aus Befangenheit im Menschlichen heraus in eben dieser Befangenheit Orientierung zu verschaffen.“ Orientierung wird für den Umgang mit menschlichem Leiden gesucht. Dabei ist Leiden jedweder Gestalt (das „Pathische“) nicht nur das Thema der Gedankengänge des Buches, es prägt auch ihre stilistische „Form“. 

Wiedebach legt keine Abhandlung vor und gleichwohl keinen philosophischen Roman. Das Buch erwächst vielmehr aus in philosophischer Strenge (28) fortgehenden Überlegungen, die wohl der Theorie verpflichtet sind, aber nicht auf streng allgemeine Urteile führen. Wiedebach spricht von einer „Einkehr in die Beschränkung“ (10), die er teils üben, teils thematisieren will. Dazu gehören ein „Wechselspiel“ (34) von Sowohl – Als auch, die Anerkennung zweier Formen von Wissenschaftlichkeit (31), ein „fragmentarisches Begreifen“, in dem es um ein „Sichtbar-Werden“ geht, oder das Aushalten von Widersprüchen im Selbstverständnis eines Menschen. „In pathischer Gebundenheit über das Pathische zu reflektieren, ist mein Ziel.“ (10) Reflektierendes Erkennen erscheint so selbst als ein „pathisches Geschehen“, das in „Urteile mit Zügen des Erleidens und Gehorchens“ mündet (11). Die ernste Anstrengung, das pathische Moment im menschlichen Leben und dessen Reflexion bzw. Erkenntnis angemessen zur Sprache zu bringen, macht das Besondere und Auszeichnende dieses Buches aus. 

Zentriert auf das Thema des Leidens gehe ich im Folgenden weder auf Wiedebachs Ausführungen zu einer aus „leidenschaftlicher Befangenheit“ entspringenden situationsbezogenen Sachlogik (69) ein noch auf den „pathischen Konnektionismus“ (107ff.) noch auf die der pathischen Wissenschaftlichkeit zugeordnete abdukrive Logik (215ff.). Ebenso wenig sind diejenigen Teile des Buchs, in denen Wiedebach in kritischer Interpretation der einschlägigen Schriften insbesondere Viktor von Weizsäckers auf die Praxis medizinisch-ärztlichen Handelns eingeht, Gegenstand dieses Beitrags. 

Pathisches Urteilen 

Um aber nun zunächst dem gewohnten Stil einer Buchanalyse zu fröhnen: Was besagt, genauer besehen, „pathisches Urteilen“ bzw. „pathische Urteilskraft“? Die ungewöhnliche Verknüpfung des sprachlich kaum vertrauten „pathisch“ mit der aus Kants Werk bekannten „Urteilskraft“ ist erklärungsbedürftig. 

Urteilen ist, erkenntnislogisch betrachtet, eine Handlung des Verstandes, in der Begriffe oder Sätze mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit des Urteilsinhalts verbunden werden. Eine spezifische Urteilskraft ist hierbei insofern vonnöten, als diese Verknüpfung unter allgemeinen Regeln steht, die richtig angewandt werden wollen. Mit Hilfe der Urteilskraft bestimmen wir, ob ein Gegebenes unter eine Regel zu subsumieren ist oder nicht. Neben der Subsumtion unter eine gegebene allgemeine Regel oder, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft neu formuliert, der Subsumtion eines Besonderen unter das gegebene Allgemeine, die von der bestimmenden Urteilskraft geleistet wird, führt Kant auch für das in umgekehrter Richtung vom Besonderen aufs Allgemeine zielende Urteil ein „Vermögen“ ein, das er reflektierende Urteilskraft nennt. Den Leitfaden, an dem sich die reflektierende Urteilskraft orientiert, ist der Gedanke der „Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“ (Akad.-Ausg. V, 179f.).

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