PhilosophiePhilosophie

01 2016

Michael Hampes Kritik der gegenwärtigen akademischen Philosophie

aus: Heft 1/2016, S. 34-43
 
Die Philosophie hat es mit Erkenntnis zu tun, die sich in Behauptungen ausdrücken kann. Diese akkumuliert sich jedoch nicht einfach wie bei den Erfahrungswissenschaften in   einer sich ausdifferenzierenden Terminologie. Vielmehr beginnen viele der „großen“ doktrinären philosophischen Autoren begrifflich gleichsam von neuem. Die Auseinandersetzung mit einem philosophischen Werk, das bestimmte Innovationen des Denkens anstrebt, ist deshalb einem Erziehungsprozess vergleichbar. Wer sich zum ersten Mal mit Spinoza oder Whitehead auseinandersetzt, nachdem er schon Platon und Aristoteles oder Descartes und Kant studiert hat, muss umlernen. Ist dieses Umlernen erfolgreich, soll es dazu führen, dass anders über die Welt gesprochen, gedacht und vielleicht auch einmal anders in ihr gehandelt wird.
 
Über die jeweiligen Anfänge solchen philosophischen Denkens und Argumentierens, über begriffliche Grundentscheidungen, ist keine argumentative Auseinandersetzung mehr möglich. Aber, so der an der ETH Zürich lehrende Michael Hampe in seinem Buch
 
Hampe, Michael: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. 456 S., Ln., € 24.95, 2014, Suhrkamp, Frankfurt,
 
man kann von ihnen erzählen. Es ist möglich, plausibel zu machen, wie eine Person zu ihren begrifflichen Grundentscheidungen gekommen ist. Solche narrativen Darstellungen stellen das individualistische Spiegelbild transzendentaler Untersuchungen dar. Sobald menschliche Subjektivität historisiert wird, wandeln sich viele transzendentale Argumente zu historischen Narrationen. Philosophie, die doktrinär und explanatorisch erfolgreich sein will, wird in Erfahrungswissenschaft übergehen. Philosophie, die die Beschreibung des Konkreten sucht, wird zur Literatur. So sind Wittgensteins späte Texte vor allem als Literatur so bedeutsam und nicht, weil sie vermeintlich die Vorversion der Doktrin einer inferentiellen Semantik bieten. Dass Dichtung die Philosophie darin übertrifft, die konkreten Individuen der Welt sprachlich zu thematisieren, dürfte unbestritten sein.
 
Aber welche Funktion kann die Philosophie haben, wenn sie einerseits nichts erklärt, andererseits gelingende Literatur in der Prägnanz der Explikation von Innenperspektiven nicht überbieten kann? Für Hampe bleibt ihr als ausreichendes Kriterium in dieser Gegenüberstellung nur die lehrende Haltung, die sie mit größerer Penetranz manifestiert als die Literatur. Die doktrinäre Philosophie, der, anders als der schönen Literatur, eine Lehrkanzel zur Verfügung steht, scheint die Sprache „top down“ durch ein System oder eine Theorie des Diskurses regulieren zu wollen. Das Versagen doktrinärer Vereinheitlichungsbemühungen, die Tatsache, dass philosophische Lehren außerhalb der Akademie kein Gehör finden, hat mit der Stärke der explanatorischen und narrativen Alternativen in Wissenschaft und Kunst zu tun.
 
Während die Vorsokratiker etwas behaupten und versucht haben, es zu begründen, ist Sokrates im Gegensatz dazu kein Behauptender im Sinne eines Vertreters einer Lehre, sondern nur jemand, der denen, die etwas behaupten, zur Seite steht, ihre Behauptungen untersucht und prüft. Das Aufhören des Behauptens kann also auch ein Ergebnis des philosophischen Denkens und Unterredens sein. Deshalb hält Sokrates keine Vorlesungen und schreibt keine Lehrbücher. Eine sokratische Philosophie unterscheidet sich grundsätzlich von einem Projekt der behauptenden und erklärenden Wissenschaften, das die Vorsokratiker in Gang gebracht haben. Dieses Projekt ist ungeheuer erfolgreich gewesen, kein anderes Projekt ist bekannt, das bessere Erklärungen liefert als die experimentell vorgehenden Erfahrungswissenschaften. In deren Schatten ist diejenige Philosophie, die nicht zur erklärenden Wissenschaft geworden, aber doktrinär geblieben ist, weitgehend in der kulturellen Bedeutungslosigkeit versunken und nur noch eine rein akademische Veranstaltung. Philosophische Erklärungen beziehen sich in der doktrinären Philosophie fast nur noch auf selbstgemachte akademische Fragen.
 
Hampe sieht in Aristoteles den Großvater dieser Vorgehensweise. Mit dessen Vorlesungsskripten hat sich eine monographische Darreichungsweise der Philosophie etabliert: Ein Text, der Vormeinungen und Behauptungen zu einem Thema sammelt, Argumente und Gegenargumente prüft und kritisiert und dann zu Behauptungen kommt, die eindeutig einem Verfasser als seine Theorie zu- zuordnen ist.
 
Doch seit Sokrates ist die Philosophie ja auch postdoktrinär. Ihre Vertreter üben Kritik an der herrschenden Moral, an den politischen Ideologien, am religiösen Aberglauben oder der wissenschaftlichen Weltauffassung. Sie treiben das voran, was als Projekt der  europäischen Aufklärung charakterisierbar ist. Ihre Vertreter heißen Montaigne und Lichtenberg, Nietzsche und Wittgenstein, Rorty und Feyerabend, und ihre Kritik ist ein von Sokrates bis in die Gegenwart nicht zu ersetzendes philosophisches Geschäft. Als Religions-, Wissenschafts- und allgemeine Kulturkritik betreffen die Fragen der nichtdoktrinären Philosophie auch Nichtphilosophen. Sie überhaupt stellen zu können, macht die Geistesfreiheit der europäischen Zivilisation aus. Die nichtdoktrinäre Philosophie versucht zu verhindern, dass Menschen durch religiösen, politischen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Dogmatismus unfrei werden.
 
Hampe sieht in der Philosophiegeschichte eine Pendelbewegung zwischen diesen beiden Arten von Philosophie. Sie findet sich als Kontrast von traditioneller und kritischer Philosophie bei Horkheimer, als Unterschied von systematischem und therapeutischem Denken bei Hegel und Kierkegaard oder Russell und Wittgenstein, von konstruktivem und skeptischem Denken bei Descartes und Montaigne oder Kant und Hume statt.
 
 
Aber auch nach 2500 Jahren abendländischer Philosophie gibt es keine allgemeingültigen philosophischen Lehren vorzutragen, so wie es gegenwärtig gültige Lehren etwa in der Physik gibt. Philosophie ist immer mit etwas Persönlichem verbunden, sie ist selbst in den akademischen Institutionen mit einem existentiellen Engagement zu betreiben, und wenn Philosophie ohne dieses existentielle Engagement als eine allgemeinverbindliche Lehre vorgetragen wird, hört sie auf, Philosophie zu sein. Deshalb sollte Philosophie vor allem als eine reflektierende Tätigkeit, der einzelne Menschen nachgehen, unterrichtet werden, so wie die Malerei und der Umgang mit Pinsel, Farbe und Leinwand. Das Erlernen einer reflektierenden oder gestaltenden Tätigkeit besteht nicht im Lernen von Theorien. Philosophie muss vor allem geübt werden, wie eine Sprache, bis man in ihr denken kann, ähnlich den Künsten. Bei einem solchen Verständnis von Philosophie ist die Deplaziertheit lehrbuchartiger Texte und Überblicksvorstellungen verständlich. Diejenigen, die eine philosophische Vorlesung halten oder ein philosophisches Lehrbuch schreiben, gehen nicht unbedingt der Tätigkeit des Philosophierens in diesem Sinne nach, sondern reden und berichten über Texte von Leuten, die dieser Tätigkeit einmal nachgegangen sind. Das ist in etwa so, als würde eine Unterrichtsstunde in Schwimmen darin bestehen zu berichten, was ein großer Schwimmer bzw. viele große Schwimmer über ihre Erfahrungen aufgeschrieben haben.
 
Dass der sokratische Impuls an den Hochschulen (noch) präsent ist, sieht man vor allem daran, dass eine Kanonisierung philosophischer Texte, die geprüft werden, nicht gelungen ist. Das hat mit den persönlichen Vorlieben derer zu tun, die das Fach unterrichten, sowie mit den agonalen Bewegungen in der Geschichte der Philosophie. Die Aktualitätsschwankungen historischer Autoren gehen wiederum darauf zurück, dass bestimmte philosophische Traditionen dem eigenen Denken der heute Unterrichtenden, die sich in bestimmten philosophischen Auseinandersetzungen involviert sehen, näher liegen als andere. Auch taugen für bestimmte philosophische Grundhaltungen und Ausgangspunkte nur bestimmte Autoren als „Gewährsleute“. Anders als diese sind die Unterrichtenden selbst nicht immer in der Lage, ihr Denken systematisch zu organisieren und auszudrücken, und greifen deshalb auf die Tradition zurück. Aber wer Heraklit, Plotin und Hölderlin als Vorläufer von Heidegger liest, lernt gerade nicht, wie es nach Heidegger weitergehen könnte, sondern lediglich, welches historische Bühnenbild Heidegger für seinen Auftritt brauchte.
 
Neben der Erfahrung mit Begriffen hat die nicht hergestellte, sondern den Menschen aufgrund ihrer Lebenssituation zustoßende Erfahrung eine große Bedeutung für das philosophische Denken. Philosophische Autoren der Vergangenheit beziehen sich deshalb nicht einfach auf einen anderen damaligen „Theoriestand“, sondern auch auf einen Erfahrungshorizont, der uns heute fremd vorkommen kann. Wenn wir so ernsthaft wie unsere Vorfahren philosophieren wollen, dann können wir uns nicht nur auf das Studium ihrer Texte beschränken. Vielmehr müssen wir auch den Mut schöpfen und die Fähigkeit lernen, auf die eigenen Lebenserfahrungen zu antworten. Diese Lebenserfahrungen wandeln sich durch die Änderungen in Wissenschaft und Technik, durch die sozialen und politischen Umbrüche und auch durch die Kunst, die neue ästhetische Erfahrungen möglich macht. Auf all das muss eine Philosophie reagieren, die in ihrer Gegenwart welthaltig sein will.
 
Hampe vertritt ein Verständnis von Philosophie, wonach die reflektierende philosophische Tätigkeit ein Experimentieren mit Begriffen ist, um die Fähigkeit zu erwerben, auf die eigenen Erfahrungen reflektierend zu reagieren und gegebenenfalls das menschliche Leben in der Kultur, in der man sich selbst entwickelt hat, zu verändern. In diesem Anspruch – auf die eigene persönliche Erfahrung reagieren und das Leben in der  eigenen Kultur verändern zu können – unterscheidet sich die nichtdoktrinäre Philosophie von der Wissenschaft, die Veränderungen im Leben über Technik durchsetzen kann. Das philosophische Experimentieren mit Begriffen geschieht aus der Überzeugung heraus, dass unser Sprechen und Leben so miteinander verbunden sind, dass eine gemeinsame Veränderung in unserem Sprechen auch eine Veränderung in unserem Leben darstellt, wenn sie denn „ernst gemeint“ ist. Weisheitsliebe ist in diesem Sinne die Neigung, das Leben durch Nachdenken begrifflich zu einem besseren Leben zu machen.
 
Hampe sieht in Sokrates den exemplarischen Vertreter dieser Art Philosophie. Seine Tätigkeit kann schwerlich als die Errichtung  einer Lehre in unserem heutigen Sinne gedeutet werden. Denn eine gut begründete Lehre ist nicht nur eine Behauptung, mit der sich nur eine einzelne Person identifiziert. Vielmehr handelt es sich bei ihr um einen Zusammenhang von vielen Bedeutungen, Behauptungen und Begründungen, der von vielen und so allgemein akzeptiert ist. Der vom sokratischen Impuls angetriebene Philosoph verfügt nicht über eine solche Lehre. Er ist ein Zweifelnder, der nichts besser weiß als die anderen, ja für den sich das vermeintliche Wissen der anderen und die Sicherheit, mit der sie es vertreten, als eine Gefahr für ihre Freiheit und die Freiheit der Gemeinschaft darstellt. Dieses Wissen um das Nichtwissen lässt sich nicht als eine Doktrin weitergeben.
 
Worum geht es, wenn durch das Experimentieren mit Begriffen in philosophischen Gesprächen über das menschliche Leben nachgedacht werden soll? Sokrates sprach davon, dass wir uns in solchen Gesprächen um unsere „Seele“ kümmern. Heute sagen wir, dass es um unsere Subjektivität geht. Was ist darunter zu verstehen?
 
Für die menschliche Subjektivität ist der Zeichengebrauch wesentlich. Wir lernen Zeichensysteme durch Anpassung zu gebrauchen. Wenn wir verstehen lernen, was Vernunft sein soll, passen wir uns an die Regelsysteme mathematischer Zeichenprozesse an. Denn Mathematik ist das erste und grundlegende Abrichtungsinstrument des kindlichen Geistes (Jurisprudenz und Philosophie spielen in der Grundausbildung ja keine Rolle). Dabei verwirklichen wir unsere subjektive Tendenz, Verbindungen herzustellen, im Rahmen der mathematischen Symbolismen. Ebenso kann man logische Schlussregeln und argumentative Prinzipien als etwas betrachten, das man vor allem anhand mathematischer Paradigmen erlernt. Hampe sieht Rationalität, verstanden als eine Reihe von Schlussprinzipien, nicht vor allen anderen Paradigmen gegeben, vielmehr konstituiert das Paradigma der mathematischen Plausibilität unsere Auffassung von Vernunft. Wenn ein Schüler Mathematik lernt, stellt er gedanklich Verbindungen zwischen den von ihm verwendeten Zeichen her, die nicht bloß assoziativ, sondern inferentiell zu sein haben. Es kann keine falschen Assoziationen, aber durchaus falsche Inferenzen geben. Inferentielle Übergänge sind allgemein normiert, assoziative dagegen nicht. Assoziative Verknüpfungen sind lebensgeschichtlich relativ, inferentielle nicht. Logik ist kein beliebiges Thema der Philosophie, sondern zentral für das, was Philosophie ausmacht – sofern wir unter Philosophie die argumentative Auseinandersetzung mit den grundlegenden Themen unseres Weltverhältnisses verstehen. Die Frage, an was sich Subjekte anpassen, wenn sie Inferenzen erlernen, ist deshalb nicht eine beliebige Frage, sondern betrifft die Natur des Anpassungsprozesses, der vermeintlich unsere Rationalität konstituiert.
 
Spinoza zufolge passen wir uns an die grundlegende Wirklichkeitsstruktur an, wenn wir in unserem Denken mathematische Strukturen realisieren. Weil er sich die Wirklichkeit als ihrem Wesen nach rational vorstellt, ist die Anpassung an eine mathematische Strukturierung des Denkens nicht nur eine Anpassung an die Rationalität, sondern an die Wirklichkeit, wie sie ist. Für Hegel ist das Paradigma der Vernünftigkeit kein mathematisches mehr. Doch die Idee, dass sich die partikularen Subjekte an die allgemeine Weltvernunft anzupassen haben, gilt für ihn ebenso. Brandom führt gegenwärtig diese Tradition fort, indem er an Stelle Gottes oder des Weltgeistes ein allgemeines Sprachspiel setzt – für Hampe ein ebenso unplausibles Abstraktum wie die Großstrukturen seiner Vorläufer. Er plädiert vielmehr dafür, diesen Traditionen ein Ende zu setzen. Es gibt keine Sprache, verstanden als Regelsystem, der wir alle zu folgen haben und der wir uns anpassen müssen, wenn wir vernünftig sein wollen. Eine solche Sprache läuft auf eine die Kreativität abtötende Philosophie als Sprachpolizei hinaus, die versucht, größere Innovationen des Sprechens als unvernünftig zu verhindern. Die Wissenschaft ist da, wo sie kreativ ist, immer ein dissidentes, abweichendes Sprechen. Hampe folgt darin Wittgenstein, der die Paradigmen des mathematischen Zeichengebrauchs nicht durch Einsicht in die Verhältnisse zwischen abstrakten Gegenständen, sondern durch Zwang oder Abrichtung erworben sieht. Rationaler Zeichengebrauch geht demnach darauf zurück, dass Subjekte durch Zwang an ein bestimmtes Zeichenhandeln angepasst werden. „Die Mathematik“, schreibt Wittgenstein, „ist ein buntes Gemisch von Beweistechniken. – Und darauf beruht ihre mannigfache Anwendung und ihre Wichtigkeit.“. Für Hampe ist klar: „Wir werden zum Schließen ebenso abgerichtet wie zum Fahrradfahren“. Wer nicht Fahrrad fahren kann, hat aber im Leben nicht unbedingt Probleme, wer nicht addieren kann, dagegen schon. Deshalb scheinen uns die mathematischen Probleme zwingender, wir bezeichnen sie mit dem Titel „vernünftig“ und grundlegende Schlüsse als „logisch“. Dabei wird ausgeblendet, dass Zeichensysteme eine zufällige, historisch gewachsene Struktur haben. Eine Großstruktur namens Vernunft existiert womöglich nicht, sondern lediglich eine Vielfalt von Allgemeinheiten ganz unterschiedlicher Art.
 
Personen reagieren auf Lebensformen, in denen sie aufgewachsen sind. Aufgrund der Verarbeitung einer solchen Lebensform kann eine Person mit der sozialen Lebenswelt, in der sie aufgewachsen ist, in Konflikt geraten und sich unter Umständen von der Lebensform ablösen. Dazu ist es notwendig, dass diese Personen sich in einem Erkenntnisprozess von der betreffenden Lebensform distanzieren können, und dazu müssen sie sich die Lebensform vergegenwärtigen, so dass die Determinanten nicht mehr im Verborgenen wirken (deshalb hat Freiheit etwas mit Erkenntnis zu tun). Menschen können aber auch Begriffe aufgeben oder neue einführen. So wurde der Begriff „Hexe“ als einer, der sich auf eine reale Differenz bei Frauen bezieht, weitgehend aufgegeben und dagegen der Begriff „Menschenrecht“ eingeführt. Durch beide Prozesse wurde nicht einfach ein Begriff aufgegeben bzw. ein neuer eingeführt, vielmehr wurde eine Lebensform verändert: Es wird weniger gefoltert.
 
Semantische Interventionen in die umgangssprachliche Bedeutung von Begriffen geschehen aus Motiven der Systemkonstruktion. Vor allem in der frühen Neuzeit finden sich idealtypische theoretische Systembildungen, in denen alle Begriffe fein aufeinander abgestimmt sind und die Sprache zu einem Stillstand gekommen scheint – am deutlichsten bei Spinoza mit seinem Parallelismus von Ausdehnung und Denken, indem der vernünftigen kausalen Ordnung der Körper eine inferentielle Ordnung von Ideen entspricht. Philosophische Freunde eines solchen vereinheitlichten Sprechens und Leben denken, dass Bedeutungsdifferenzen mit Ungenauigkeiten, wenn nicht gar mit Irrationalität im Sinne von Widersprüchlichkeit zu tun haben. Philosophen sehen darin oft etwas, was in einem Disput expliziert und in einer Vereinheitlichung aufgehoben werden muss.
 
Hampe plädiert dagegen dafür, verschiedene Lebensformen einfach nebeneinander zu lassen. Nur wenn die Wirklichkeit Menschen nicht zu einer einzigen Sprech- und Lebensform zwingt, sind auf Dauer verschiedene von ihnen möglich. Er hält es für eine irrtümliche Überzeugung, dass Menschen in jeder Hinsicht ihre Semantiken einander anpassen müssten, wenn sie sich rational verhalten wollen. Vielmehr ist es gerade umgekehrt: Sofern sie sich rational zu ihrer sozialen Welt verhalten wollen, müssen sie gerade unterschiedlich sprechen, weil sich diese sozialen Welten als gegebene Rationalitäten ebenso voneinander unterscheiden wie die Wüste vom Meer. Menschen können sich dafür entscheiden und wollen, einzeln oder kollektiv, als Sportverächter oder als Leitungssportler usw. zu leben. Mit Hilfe ihrer sprachlichen Reflexionsfähigkeit ist es Menschen möglich, sich von den biologischen Tendenzen des Lebens zu distanzieren und sich zu ihnen zu verhalten. Dazu müssen sie sich jedoch einen Überblick über die in der Regel zerklüftete semantische Landschaft verschaffen, und ein nicht unerheblicher Teil der philosophischen Arbeit hat damit zu tun, sich solche Überblicke zu verschaffen. Wer Menschen und Gruppen von Menschen ihre Individualität zugestehen will, sollte davor zurückschrecken, einen zu großen Druck in Richtung semantischer Vereinheitlichung auszuüben. Warum sollte das Verschwinden der individuellen Lebenserfahrungen in einer vereinheitlichten Begriffsverwendung zu mehr Rationalität führen? Für Hampe ist es eine philosophische Illusion, dass menschliche Kommunikation, sofern sie rational ist, „auf die Erziehung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt ist“.
 
Die Vorstellung, dass es in natürlichen Sprachen um propositionale Wahrheit geht, ist bestimmend. Es ist dies jedoch eine szientifische Perspektive, die die Relevanz des gewöhnlichen oder alltäglichen Lebens und deren selbstzweckhaften Tätigkeiten unterschätzt. Wäre das alltägliche Leben nur eine Vor- oder Verfallsform der Wissenschaft, verstünde man nur schwer die Rückwirkung von Wissenschaft auf das Alltägliche. Hampe plädiert dafür, Erklären und Deduzieren nicht als die einzigen Formen von Rationalität zu verstehen. Wer nicht erklärt oder schließt, kann immer noch Strukturen des Handelns und Denkens realisieren, die in   einem gewöhnlichen Sinn als vernünftig gelten können, weil sie fortsetzbar sind und Übereinstimmungen im Handeln des Menschen erzeugen. Beobachtbare Tatsachen und Wahrheiten existieren in vielen symbolischen Kontexten, von denen wiederum viele nichts mit Erklärungen und theoretischen Schlusszusammenhängen zu tun haben. Es gibt sowohl theorieunabhängige Wahrheiten und Tatsachen als auch theorieunabhängige Irrtümer, die alle, trotz ihrer Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Theorien, für unser Leben höchst relevant sind. Hampe hält es für wichtig, für neue Verwendungsweisen von Begriffen zu werben und so die Einsicht in für wahr gehaltene Aussagen zu erzeugen. So ging es Platon, Hegel und Nietzsche nicht in erster Linie darum, Theorien zu vertreten. Sie haben in ihren Schriften etwas ganz anderes gemacht: Denkvorgänge gezeigt, Begriffsentwicklungen vorangetrieben und Vorurteile entlarvt.
 
Die meisten akademischen Philosophen verstehen sich als Vertreter von „Schulen“ und nicht als Praktiker, die der Kunst des Nachdenkens nachgehen und anderen helfen, sie zu erlernen. Für Hampe hat Philosophieren dagegen nichts mit dem Vertreten eines Ismus wie Realismus oder Konsensualismus zu tun. Vielmehr geht es darum, dass Menschen der Orientierung bedürfen, dass sie etwas suchen, was sie in ihrem Leben anleitet. Wie aber unterscheidet sich eine Philosophie, wenn sie nicht erklärt, sondern vor allem über begriffliche Landschaften nachdenkt und mit neuen Konstellationen experimentiert, von der Dichtung? Eine Philosophie, die sich dem Gewöhnlichen mit Hilfe der Dichtung nähert, wird damit noch nicht selbst zur Dichtung. Denn die Narration steht in ihr nicht für sich selbst. Sie hat vielmehr den Charakter eines Belegs für Gedanken, die sich nicht auf wirkliche oder fiktive konkrete Personen und Geschehnisse beziehen. Es geht in ihr um die begrifflichen Formen der Tatsachen des Alltäglichen, sofern sie für viele Menschen relevant sind. Menschen ist zwar nie etwas einfach nur gegeben, doch das bedeutet nicht, dass alle Erfahrung einer Formierung durch Subjektivität unterliegt und dass alle Beobachtung theoriebeladen ist. Die Wahrnehmung der Gestalt eines Skarabäus-Käfers ist für einen Menschen, der die Hieroglyphen kennt, anders als für jemanden, der diese Schrift nicht beherrscht. Hungrige nehmen Brot anders wahr als Satte. Doch weder die Hieroglyphen geschweige denn der Hunger sind Theorien. Ohne die Annahme einer nichttheoretischen, subjekt-individuellen und subjektiv-kollektiven Formung der Beobachtung können wir uns gar nicht verständlich machen, wie das Unternehmen der wissenschaftlichen Theoriebildung entstanden sein könnte und wieder auf den Alltag zurückwirkt.
 
Alltägliche Überzeugungen müssen nicht wissenschaftlich beglaubigt sein. Wenn ein Jugendlicher der Überzeugung ist, dass er nicht so leben möchte wie seine Eltern, weil er ahnt, vermutet oder gar weiß, dass seine Eltern in ihrer Lebensform nicht glücklich geworden oder gerecht behandelt worden sind, dann hält er es für wahr, dass die Lebensform seiner Eltern eine falsche, weil ungerechte und unglückliche war. Dazu muss er keine psychologische oder juristische Forschung betreiben. Wer fragt: „Woher weißt du, ob deine Eltern unglücklich waren, sind sie psychologisch getestet worden?“, hat keine Ahnung von den Evidenzen der Lebenserfahrung, die sich durchaus gegen wissenschaftliche Evidenzen behaupten können.
 
Die philosophy of mind glaubt, menschliches Handeln mit Rekurs auf Naturgesetze bzw. mit Rekurs auf Intentionen und Überzeugungen erklären zu können. Hampe hält das für einseitig. Es geht dabei um die Frage, ob ich die Handlung eines Menschen aus ihrer Lebensgeschichte heraus oder als Körperbewegung neurologisch erklären will, ob ich dem betreffenden Wesen begegnen oder es verobjektivieren möchte.
 
Die Auffassung von der Vorherrschaft der Theorie hat vor allem in den Erziehungsprozessen verheerende Folgen. Kinder werden darauf abgerichtet, Zeichenprozesse, die ihnen vorgegeben werden, zu beherrschen. Sie werden trainiert, ihr Interesse zu reagieren, zurückzustellen und sich diszipliniert an die vorgegebenen Kategorien in der Ordnung der Tatsachen zu halten. Das hat jedoch zur verheerenden Folge, dass das Interesse, etwas zu der Welt, die man ja noch nicht kennt, beizutragen, verschwindet. Aber erst durch die Reaktion auf die Tatsachen wird das Gegebene bewertet und erfährt sich das Einzelwesen als ein zur Bewertung der Weltzustände fähiges und berechtigtes Wesen. Diese Fähigkeit der Bewertung des Gegebenen legt die Grundlage zu einer freien Lebensführung, die die eigene Verschiedenheit ernst nimmt. Für Whitehead ergibt sich daraus, dass sich in Erziehungsprozessen die disziplinierte Erfassung von Tatsachen mit ihrer freien und weisen Bewertung für das Leben abzuwechseln habe. Ein Erziehungssystem, das diesen Rhythmus vernachlässigt, wird Vielwisser hervorbringen, die sich gegenüber den vielen Einzelheiten, die sie wissen, handlungsunfähig machen. Die Reaktionsfähigkeit auf die Welt, aus der heraus die Geschichte entsteht, die mein Leben, meine Existenz ausmacht, hängt von der Fähigkeit ab, ein Muster zu bilden, zu erkennen, zu deuten und dann in Vorbereitung einer Reaktion zu variieren.
 
Theorie und Erzählung, wissenschaftliche und ästhetische Reflexion, lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen. Die Vorstellung, es gebe eine einheitliche Form der Erkenntnis- und Überzeugungsgewinnung in Form des vernünftigen Arguments überhaupt, hält Hampe für naiv. Er hält die Rede von der „wissenschaftlichen Vernunft“ für ein Symptom wissenschaftshistorischer Uninformiertheit. Solange Rationalitätstheorien von den konkreten Erkenntnisstrategien und Begründungspraktiken innerhalb und außerhalb der Wissenschaften abstrahieren, behandeln sie nichts Wirkliches in der menschlichen Welt, sondern ein philosophisches Konstrukt, an dessen Beschwörung man sich zwar seit der Kantischen Transzendentalphilosophie in der Zunft gewöhnt hat, das jedoch wegen seiner Abstraktheit wenig kritisches Potential gegenüber den Problemen der wissenschaftlichen Welt entfalten kann. Die Lebenserfahrung einzelner Personen, die sich durch ihre Reaktion auf die Welt formt und deren potentiell paradigmatischer Charakter in der Kunst sichtbar gemacht werden kann, spielt in den meisten philosophischen Theorien keine Rolle. Das liegt daran, dass die meisten Philosophiekonzeptionen nahelegen, es müssten nicht konkrete Erkenntnisstrategien von Menschen erkundet werden, um zu verstehen, was vernünftig ist. Vielmehr müsse normativ über diese Strategien gewacht werden, weil „der Philosophie“ (und das ist dann immer eine bestimmte) ja schon a priori bekannt ist, was vernünftig ist.
 
Bereits Platon, Kant und Rousseau hofften über den Weg der Erziehung eine bessere Gesellschaft verwirklichen zu können.
 
Siehe dazu unsere Fragen an Michael Hampe auf den folgenden Seiten.
 
 
Fragen an Michael Hampe
 
Ihr Buch wurde als „generelle Abrechnung mit der gegenwärtigen akademischen Philosophie“ (Deutsche Zeitschrift für Philosophie) wahrgenommen und dazu gleich zwei Symposien veranstaltet (eins in Berlin, eins in Frankfurt). Was ist es, das Sie getroffen haben, dass die Zunft so aufgeregt reagiert?
 
Warum mein Buch mehr Aufmerksamkeit als andere, die zur gleichen Zeit publiziert worden sind, auf sich gezogen hat, kann ich selbst nicht in einer generellen Weise beantworten. Ich kann berichten, dass ich zahlreiche positive Rückmeldungen erhielt, vor allem von graduierten Studierenden, aber auch von Kollegen, die sich meist auf drei Punkte bezogen, die vermutlich auch an den Orten, an denen die Symposien abgehalten wurden, eine Rolle spielten: Erstens sagten mir Studierende, dass sie froh seien, dass die von ihnen selbst als problematisch, teilweise auch kindisch empfundene Pflege eines rechthaberischen Habitus in der akademischen Philosophie, in dem sich weniger Enthusiasmus für Erkenntnisprojekte manifestiere denn eine Art bellizistischer Behauptungswille für Positionen wie “Realismus“ oder “Externalismus” usw., die außerhalb der Akademie gar nicht wahrgenommen werden, endlich einmal thematisiert werde. Zweitens haben sich Kollegen bei mir gemeldet, die berichteten, dass Studierende sie auf das Buch angesprochen und gebeten hätten dazu Stellung zu nehmen, was sie von der Unterscheidung zwischen doktrinärer und nicht-doktrinärer Philosophie selbst halten und wie sie sich einordnen würden. Drittens haben sich Kollegen gemeldet, die das Buch als eine für sie persönlich anregende Lektüre empfunden haben, die ihnen selbst klarer gemacht habe, warum die Literatur für sie in der philosophischen Arbeit von Bedeutung sei.
 
Ihr Buch wurde als Kritik einer zunehmend doktrinär verfahrenden Philosophie gelesen. Aber ist Ihr Buch nicht genauso doktrinär wie die kritisierte Philosophie?
 
Nein, denn das Buch ist ein metaphilosophisches. Es untersucht das Verhältnis von doktrinärer und nicht-doktrinärer Philosophie auf der einen und das von Philosophie, erklärender Wissenschaft und Literatur auf der anderen Seite. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Lyrik und Dramatik oder von Biologie und Chemie ist selbst ja auch nicht ein lyrisches bzw. dramatisches oder biologisches bzw. chemisches Unterfangen. Die Unterscheidung zwischen doktrinärer und nicht-doktrinärer Philosophie ist nicht erschöpfend. Weil differenzierte philosophische Überlegungen aber immer auch metaphilosophisch oder selbstreflexiv sind, ist umgekehrt ein metaphilosophisches Buch natürlich auch ein philosophisches. Ferner hat das Buch hypothetische Züge (angenommen die Welt ist eine von Einzelwesen) und polemische. Weil es einen Überblick über die Position der Philosophie zwischen Literatur und Wissenschaft geben will und polemisch ist, trägt es den Untertitel “Kritik”. Denn dieses Wort steht für beide Tätigkeiten: etwas durchmustern und gegen etwas vorgehen. Es ist also im weitesten Sinne kritische Philosophie.
 
Die „großen Werke“, schreiben Sie, beginnen begrifflich von neuem. Wann ist das letzte große Werk erschienen?
 
Das weiß ist nicht. Ich habe ja nicht alle philosophischen Bücher, die in allen Sprachen in den letzten zwanzig Jahren erschienen sind, gelesen. Die Frage kommt mir auch ein wenig albern sportlich vor. Die Identifikation des letzten großen philosophischen Buches ist ein schönes Thema für einen philosophischen Schulhofstreit. Für mich selbst waren Wittgensteins Tractatus, seine Philosophischen Untersuchungen und Über Gewissheit, Deweys Experience and Nature und Whiteheads Process and Reality wichtige Werke. Für mein hier thematisches Buch waren ferner Brandoms Making it Explicit und Cotzees Elisabeth Castello sehr wichtig. Das sind auch beides große philosophische Werke. Das sage ich, obwohl ich Brandom stark kritisiere.
 
Was ist es, was einen Autor antreibt, neue begriffliche Grundentscheidungen zu suchen?
 
Unzufriedenheit mit den gängigen Sprechweisen, seien es umgangssprachliche oder wissenschaftliche, als Ausdrucksmittel für die eigenen Erfahrungen und Zielvorstellungen lassen einen nach neuen Sprechweisen und neuen Begrifflichkeit suchen.
 
Sie sagen, doktrinäre Philosophie gehe, wenn sie denn erfolgreich sein wolle, in Erfahrungswissenschaft über? Kants Philosophie, doktrinär und erfolgreich zugleich, ist doch nicht in Erfahrungswissenschaft übergegangen?
 
Doch, natürlich. Schon Hegel hat die Kantische Vorstellung, es gäbe eine nicht von der Geschichte tangierbare Struktur erkennender Subjektivität, die wir als normative Richtschnur unserer Erkenntnisprojekte nehmen können, in der „Phänomenologie des Geistes“ historisiert. Seitdem gibt es eine ganze Reihe von historisch-empirischen Erkenntniskritiken, von Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“, die sich auf empirische Kulturwissenschaften stützt und diese wiederum befördert hat, bis zur wissenschaftshistorisch informierten Wissenschaftsphilosophie der Gegenwart. Dann untersucht die empirische Kognitionsforschung mögliche nicht-historische und kulturell invariante Strukturen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Und schließlich ist das empirische Studium der Sprache an die Stelle der Kantischen Urteilstheorie getreten. Das hat natürlich alles den richterlichen Anspruch der Kantischen Erkenntnislehre geschwächt. Insofern hat die Kantische Transzendentalphilosophie ihre Transformation in empirische Projekte nur zum Teil überlebt. Aber so ist das immer bei diesen Transformationen. Neben den doktrinären Aspekten der Kantischen Lehre von den Erkenntnisvermögen ist seine Philosophie aber auch ein Aufruf zur Autonomie: “Sapere aude!” Sie ist im eminenten Sinne kritisch und in vieler Hinsicht nicht-doktrinär.
 
Philosophie sei immer mit etwas Persönlichem verbunden, schreiben Sie. Aber beinhaltet die gegenwärtig zu beobachtende Verwissenschaftlichung der Philosophie nicht gerade die Austilgung alles Persönlichen?
 
Ich bin mir nicht sicher, ob es gegenwärtig so etwas wie eine Verwissenschaftlichung der Philosophie wirklich gibt. Es gibt einige wenige Philosophen, die sich dicht an erklärenden Wissenschaften orientieren, die die Philosophie des Geistes etwa an die Kognitionsforschung heranführen. Dort werden dann auch tatsächlich standardisierte (oder unpersönliche) Untersuchungs- und Darstellungsformen gepflegt und doktrinäre Philosophie in erklärende Wissenschaft überführt. Die Neigung in manchen Kreisen der analytischen Philosophie jedoch, sich immer auf dieselben Beispiele und argumentativen Figuren zu beziehen, hat m. E. weniger mit Verwissenschaftlichung zu tun als mit geistiger Borniertheit und stilistischer Eintönigkeit. Da wird eher Wissenschaftlichkeit simuliert als tatsächlich der explanatorische Fortschritt vorangetrieben. Das liegt auch daran, dass die akademische Philosophie das standardisierte Aufsatzschreiben für peer-review-journals, wie es in den Erfahrungswissenschaften verbreitet ist, nachgemacht und den Erfolg in diesem Kontext zum akademischen Beförderungskriterium gemacht hat. Etwas, was übrigens jüngst in der New York Times kritisiert wurde.
 
Täuscht der Eindruck, dass das, was Sie nichtdoktrinäre Philosophie nennen, an den Instituten zurückgedrängt wird? In Zürich soll sogar empfohlen werden, Nietzsche in den Sommerferien zur Erholung (und nicht als ernsthaftes Studium) zu lesen.
 
Es gibt berufungspolitisch bedingte Schulbildungen. Gegenwärtig kann man in der Schweiz eine starke Homogenisierung der philosophischen Landschaft beobachten. Meist berufen philosophische Kommissionen Leute, die etwas ähnliches machen, wie die Mitglieder der Kommission selbst auch. Wer etwas anderes macht, wird dann leicht als unseriös oder gar unphilosophisch ausgegrenzt. Nur einmal, in Dublin zur Zeit als der Ryle-Schüler Bill Lyons dort Head of Department und ich da Gastprofessor war, habe ich erlebt, dass in einer Kommission gesagt wurde, jetzt haben wir einen, der analytische Philosophie des Geistes macht, zwei, die Geschichte der Philosophie machen, nun brauchen noch jemanden für rezente französische Philosophie und jemanden für Kritische Theorie. Wenn ein philosophisches Institut sich nicht, wie Bill Lyons das damals anstrebte, pluralistisch entwickelt, sondern selbst homogenisiert, dann entstehen überall (nicht nur in Zürich) Ausgrenzungstendenzen. Am einen Ort macht man sich dann über Nietzsche und Kierkegaard als Schwätzer lustig und am anderen über Frege und Chisholm als Erbsenzähler. Das ist überall gleich albern. Nietzsche wird im übrigen inzwischen aber auch in Zürich wieder regelmäßig und seriös studiert.
 
Sie sehen eine Pendelbewegung. Also müsste das Pendel bald wieder zu einer eher literarischen Philosophie umschlagen. Sehen Sie dazu erste Anzeichen, ein Vorschein oder ein Ereignis?
 
Ich bin kein Prophet. Aber es gibt an vielen Orten ein verstärktes Interesse am Verhältnis von Philosophie und Literatur und Philosophie und Film. Vielleicht hat deshalb auch mein Buch solche Aufmerksamkeit erhalten. Und ich selbst wollte mit meiner metaphilosophischen Betrachtung und den Büchern, die ich davor geschrieben habe, nicht-doktrinäre Philosophie fördern. Schließlich glaube ich, dass das, was man “Aufklärung” nennt, sehr viel mit kritischem Denken und nicht-doktrinären Formen der Philosophie zu tun hat. Und nichts scheint mir unsere europäische Lebensform, die gegenwärtig durch religiöse Fundamentalismen und szientistische Borniertheiten eingeschnürt wird, nötiger zu haben, als eine Renaissance der Aufklärung. Autoren wie Diderot und Nietzsche waren für mich bedeutende Aufklärer. Es würde mich enorm freuen, wenn wir Leute, die mit derartigem philosophischem Einfallsreichtum und solcher stilistischer Kraft begabt sind, wieder in der Öffentlichkeit sähen.