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Medizin: Das Arztethos muss erweitert werden

MEDIZIN

 

Das Arztethos muss erweitert werden

 

Die Medizin ist im Umbruch. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene sind dabei die sogenannte „evidenzbasierte Medizin“ und auf der gesellschaftlichen Ebene die politischen Antworten auf die Probleme einer sozialen Finanzierung des Gesundheitssystems unter Bedingungen der Mittelknappheit zu nennen.

 

Urban Wiesing (Leiter des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen) und Georg Marckmann (sein Stellvertreter) untersuchen in dem Band

 

Wiesing, U. / Marckmann, G.: Freiheit und Ethos des Arztes. Herausforderungen durch evidenzbasierte Medizin und Mittelknappheit. 93 S., kz., € 10.—, Lebenswissenschaften im Dialog 8, Karl Alber, Freiburg,

 

was diese Vorgänge für das Arztethos bedeuten.

Das alltägliche Geschehen beim Arzt wird durch ein rollengebundenes, antizipatorisches Vertrauen ermöglicht. Dieses Vertrauen basiert streng genommen nicht auf dem Erfolg der ärztlichen Maßnahmen, da diese nicht garantiert werden kann, sondern auf der fachlichen Kompetenz und moralischen Integrität, die durch die Zugehörigkeit zum ärztlichen Berufsstand erwartet werden darf. Dem Patienten bleibt nichts anderes übrig als antizipatorisch darauf zu vertrauen. Nur dadurch, dass die ärztliche Ethik für einen ganzen Berufsstand verbindlich ist, ermöglicht sie es, dem personalen Vertrauen den Charakter eines Systemvertrauens zu verleihen. Dieses Vertrauen nimmt eine zentrale Stellung in der Arzt-Patient-Beziehung ein. Und trotz einzelner Verfehlungen und trotz der allgegenwärtigen Medizinkritik erfreut sich der ärztliche Berufsstand bei jeder Umfrage nach wie vor höchster Wertschätzung.

 

Evidenzbasierte Medizin

 

Zur evidenzbasierten Medizin (EBM) gehören drei zentrale Elemente:

 

a) Die besten zur Verfügung stehenden externen Nachweise: Unter externe Nachweise (external evidence) versteht man das wissenschaftlich aufgearbeitete Wissen zu vergleichbaren Fällen.

 

b) Die individuelle klinische Erfahrung, d. h. die Fachkenntnisse und Fähigkeiten des einzelnen Arztes

 

c) Deren Integration: Damit soll beides auf optimale Weise verbunden werden. Die externen Nachweise, und zwar die derzeit be­sten verfügbaren, müssen gefunden und im Entscheidungsprozess genutzt werden. Zu den individuellen Besonderheiten des Einzelfalles gehören auch die Wünsche und Präferenzen des Patienten, die es in den Entscheidungsprozess zu integrieren gilt. Andernfalls droht ein Paternalismus durch unpersönliche Umsetzung externer Nachweise gegen die Präferenzen des Patienten. Externe Evidenz und individuelle ärztliche Erfahrung müssen nicht nur integriert, sondern gleichermaßen mit den individuellen Wertvorstellungen des Patienten vermittelt werden.

 

Mit ihrer radikalen Ergebnisorientierung sucht die klinische Forschung im Rahmen der evidenzbasierten Medizin, ob eine Intervention wirkt. Im Einzelfall ist die verfügbare externe Evidenz systematisch abzufragen und anzuwenden. Würde man darauf verzichten, würde man der neuesten Entwicklung hinterherhinken und die Patienten den Preis bezahlen lassen. Eine Nutzung externer Evidenz ist also geboten, sofern sie dem Patienten dient. Die große Herausforderung für die ärztliche Praxis besteht darin, ungerechtfertigte Variabilität medizinischer Praxis zu reduzieren und gleichzeitig die gerechtfertigte, d. h. in der relevanten Besonderheit des Einzelfalles begründete Variabilität zu erhalten. Doch sofort stellt sich die Frage, was als gerechtfertigte und was als ungerechtfertigte Variabilität gelten kann. Eine Orientierung bietet auch hier die moralische Grundausrichtung der Medizin und das Arztethos.

 

Gegner der evidenzbasierten Medizin argumentieren, dass die external evidence retrospektives, überindividuelles Wissen darstelle, welches aufgrund dieser Eigenschaften im Einzelfall nur von begrenztem Wert sei. Externe Nachweise bestehen ihrerseits meistens nur aus Wahrscheinlichkeitsaussagen, welche wiederum nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf den Einzelfall zutreffen. Deshalb müssen die fallbezogenen Besonderheiten und individuellen Verhältnisse berücksichtigt werden. Auch das individuelle ärztliche Erfahrungswissen enthält allgemeine Aussagen, die der Arzt in einem impliziten Lernprozess bei der Behandlung vieler Einzelfälle erworben hat. Man kann hier von „heuristischem Wissen“ sprechen, das in Form von „Faustregeln“ zwar die Lösung klinischer Probleme ermöglicht, jedoch weder die Richtigkeit noch die Eindeutigkeit dieser Lösung garantieren kann.

 

Bei der Nutzung externer evidence gilt es ferner zu berücksichtigen, dass sie stets mehreren Verzerrungen unterliegt, die sich dadurch ergeben, dass man sich bei Studien darauf beziehen muss, was messbar ist. Allerdings sind ärztliche Entscheidungen ohne externe Nachweise insgesamt mit größerer Unsicherheit verbunden, sodass Ärzte schlechter ihrer moralischen Verpflichtungen nachkommen können, das Wohlergehen des Patienten wirksam und sicher zu fördern.

 

Ärztliche Freiheit und Mittelknappheit

 

Fast alle Gesundheitssysteme der westlichen Industrienationen kämpfen mit einer zunehmenden Diskrepanz zwischen wachsenden medizinischen Möglichkeiten, wachsendem Bedarf und begrenzten finanziellen Ressourcen. Die Frage ist nicht mehr, ob Gesundheitsleistungen rationalisiert werden müssen, sondern wie dies auf eine ethisch vertretbare Weise am besten geschehen kann. Dem traditionellen ärztlichen Ethos zufolge sind Ärzte allein dem Wohlergehen und Willen des einzelnen Patienten verpflichtet. Sie sollen unter den verfügbaren medizinischen Maßnahmen diejenigen auswählen, die am besten einen Behandlungserfolg des Patienten erwarten lassen. Das erfordert eine sorgfältige Nutzen-Schaden-Abwägung sowie vor allem die Berücksichtigung individueller Patientenpräferenzen. Der Arzt ist dabei nur den Interessen seines Patienten verpflichtet. Unter den Bedingungen der Mittelknappheit verändert sich jedoch diese Situation.

 

Eine weitere Konfliktdimension tritt hinzu, wenn Ärzte mit finanziellen Bonus- oder Malus-Zahlungen zur Einsparung von Ressourcen angehalten werden. Die Verpflichtung gegenüber dem Patienten kollidiert hier mit dem finanziellen Eigeninteresse des Arztes, eine ebenfalls dem traditionellen ärztlichen Ethos zuwiderlaufende Konfliktkonstellation. Auch bietet das Arztethos keinerlei Orientierung, wie der Arzt die konkurrierenden Interessen verschiedener Patienten gegeneinander abwägen soll: Welcher Patient sollte Priorität beim Zugang zu knappen Ressourcen genießen? Eigentlich ist es ethisch unvertretbar, Patienten im Rahmen einer Rationierung medizinisch nützliche Maßnahmen vorzuenthalten, solange noch Wirtschaftlichkeitsreserven im System vorhanden sind. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es möglich ist, den zunehmenden Kostendruck durch medizinischen Fortschritt und demographischen Wandel bei einer normativ vorgegebenen Ausgabenbegrenzung ausschließlich durch Rationalisierungen, d.h. durch Mobilisierung von Effizienzreserven, zu kompensieren. Rationalisierungen in der Medizin sind methodisch nicht einfach umzusetzen: Was im Einzelfall medizinisch rational, d. h. vernünftig ist, lässt sich häufig nur schwer bestimmen. Rationalisierungsmaßnahmen stellen die Medizin vor die Herausforderung, immer wieder zu überprüfen, welche medizinischen Maßnahmen bei welcher Indikation sinnvoll eingesetzt werden sollten. Und obwohl allgemein anerkannt ist, dass im deutschen Gesundheitswesen noch erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind, lässt sich das Ersparnispotential quantitativ nur schwer abschätzen.

 

Explizite Leistungsbegrenzungen bieten im Hinblick auf das Arztethos einen gewichtigen Vorteil: Der Arzt kann sich an Vorgaben orientieren, die „oberhalb“ der individuellen Arzt-Patient-Beziehung erarbeitet wurden, und muss nicht selbst Nutzen und Kosten medizinischer Maßnahmen ermitteln und danach die Bedürfnisse verschiedener Patienten gegeneinander abwägen. Entscheidungs- und Interessenkonflikte auf ärztlicher Seite lassen sich auf diese Weise reduzieren. Explizite Rationalisierungen weisen zudem einige gerechtigkeitsethische Vorteile auf: Sie sichern die Transparenz und vor allem auch die Konsistenz von Verteilungsentscheidungen. Wenn in Regeln ausdrücklich festgelegt ist, welcher Patient bei welcher Gesundheitsstörung welche Gesundheitsleistungen erhält, werden die Patienten in vergleichbaren Situationen auch gleich behandelt, womit eine wichtige Gesundheitsforderung erfüllt wäre. Vermutlich erhöht das Bewusstsein der Gleichbehandlung auch die Akzeptanz von Leistungsbegrenzungen bei Versicherten und Patienten. Explizite Rationierungen in Form von Standards oder Richtlinien bieten überdies den großen Vorteil, dass Kosten und Qualität der Versorgung gleichermaßen beeinflusst und damit bewusst gegeneinander abgewogen werden können.

 

Bei impliziten Leistungsbegrenzungen ist die Gesamtmenge der Ressourcen begrenzt, es ist aber nicht im Einzelnen festgelegt, welcher Patient welche Leistungen erhält. Auch wenn der Arzt im Einzelfall nicht an verbindliche Versorgungsstandards gebunden ist, so muss er dennoch Kostenerwägungen berücksichtigen. Setzt er bei einem Patienten eine sehr teure Therapie ein, so fehlt ihm das Geld möglicherweise bei der Behandlung anderer Patienten. Damit gerät der Arzt in die Rolle eines Doppelagenten, der die Bedürfnisse verschiedener Patienten gegeneinander abwägen muss. Es besteht die Gefahr, dass medizinische Leistungen nach intrans­parenten von Arzt zu Arzt und von Patient zu Patient wechselnden Kriterien verteilt werden. Ein solches Vorgehen ist nicht nur medizinisch irrational, sondern auch ungerecht, weil Patienten in vergleichbaren Situationen nicht gleich behandelt werden. Überdies droht eine Benachteiligung der schwächer gestellten Mitglieder der Gesellschaft, wenn ihnen das erforderliche Wissen fehlt, um bestimmte medizinische Leistungen aktiv einzufordern. Wägt man Vor- und Nachteile ab, so weisen deshalb explizite Rationierungen einige Vorzüge auf.

 

Allein aus pragmatischen Gründen wird es sich aber nicht vermeiden lassen, dass Ärzte im Rahmen von impliziten Rationierungen Verantwortung für Verteilungsentscheidungen im Einzelfall übernehmen. Denn auch bei bestem Willen ist es schlichtweg unmöglich, die gesamte Medizin mit Versorgungsstandards wie z.B. kostensensiblen Leitlinien zu überziehen.

 

Unter den Bedingungen der Mittelknappheit halten die beiden Autoren eine Erweiterung des Arztethos um die Verpflichtung, verantwortungsvoll mit den knappen Gesundheitsressourcen umzugehen, für ethisch geboten.