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INTERVIEW

Rössler, Beaten: Autonomie

aus: Heft 4/2017, S. 84-93

Frau Rössler, Ihr Buch ist in den Medien auf großen Anklang gestoßen. Woher erklären Sie sich das breite Interesse am Thema Autonomie?

Das hat, denke ich, ganz unterschiedliche Gründe: zum einen die Tatsache, dass viele sich offenbar direkt angesprochen fühlen von der Idee, dass wir zwar selbstbestimmt leben wollen und sollten, aber durch unzählige Schwierigkeiten im Alltag immer wieder daran gehindert werden, weil wir immer schon in Beziehungen, in Verpflichtungen, verstrickt sind. Deshalb ist auch das Zitat von Iris Murdoch, dass man "immer schon bis zum Hals im Leben" steckt, so unmittelbar einleuchtend. Dagegen versuche ich, trotz dieses Gefühls, oder vielleicht besser: trotz dieses Phänomens des alles beherrschenden Alltagschaos, die Möglichkeit von Selbstbestimmung zu verteidigen und zu erklären.

Zum anderen wurde häufig thematisiert – und das ist sicherlich zur Erklärung des Medieninteresses wichtig –, dass ich auch Autonomie bei der Entscheidung, eine Burka zu tragen, für möglich halte. Ich diskutiere dies und argumentiere für eine solche Möglichkeit – auf ungefähr 3 von knapp 400 Seiten. In Interviews, zu denen ich eingeladen wurde, hat dies durchgehend eine wichtige Rolle gespielt – besonders in Deutschland gibt es nicht nur Parteien, sondern auch viele Gruppierungen, die ganz schlicht davon ausgehen, dass Frauen, die eine Burka tragen, das immer völlig gegen ihren eigenen Willen tun und nur ihren repressiven Männern oder einer repressiven Religion folgen. Ich halte dies für empirisch ebenso wie normativ für falsch – und ich versuche, gegen solche, wie ich finde simplifizierenden, Positionen zu argumentieren, ohne die tatsächlichen sexistischen Stereotypisierungen und Repression zu verharmlosen, aber auch ohne die Möglichkeiten des autonomen Handelns zu unterschätzen.

Wie sind Sie persönlich auf das Thema gekommen?

Ich habe mich schon lange immer wieder mit Theorien von Autonomie beschäftigt, unterrichte auch regelmäßig in Seminaren Kant und Autonomie- und Freiheitstheorien seit Kant. Bei vielen dieser Theorien hatte ich immer ein gewisses Unbehagen angesichts der Tatsache, dass sie davon ausgehen, dass wir unser Leben durchgehend und selbstverständlich selbst bestimmen können und wie wichtig das ist, aus politischen, ethischen und moralischen Gründen. Über Freiheitshindernisse wird häufig nur in dem Sinn diskutiert, dass sie überwunden werden können und müssen. Dies liegt anders in der Hegelschen Tradition, in der es allerdings wenig konkrete Autonomietheorien gibt, und es liegt auch anders in den Ansätzen relationaler Autonomie, an die ich dann auch explizit anknüpfe.

Auf der anderen Seite bin ich eine sehr passionierte – und relativ wahllose – Romanleserin und habe immer wieder gesehen, dass die meisten Romane so gelesen werden können, dass sie genau von diesen Möglichkeiten und Grenzen individueller Freiheit handeln. Häufig wird ja, gerade in der analytischen Philosophie, ein strikter Unterschied gemacht zwischen den Gattungen, und früher hielt ich das auch für richtig. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass gerade diese Romane helfen können, das Unbehagen an den Autonomietheorien zu erklären und wenn schon nicht zu überwinden, so doch helfen können, theoretisch damit umzugehen.

Denken Sie, dass wir in unserer Gesellschaft zu wenig oder zu viel Autonomie haben?

Mir ist nie ganz klar, was eigentlich zu viel Autonomie im Blick auf Personen heißen soll – es ist sehr missverständlich, glaube ich, zu implizieren, dass Menschen zu frei oder autonom sind, wenn sie mit der Freiheit keine anständigen Dinge tun. Oder dass die Marktgesellschaft deshalb ungehindert wuchern kann, weil Personen zu viel Autonomie haben. Ich halte es nicht für sehr sinnvoll, diese gesellschaftlichen und sozialen Probleme mit Hilfe des Begriffs von Autonomie lösen zu wollen – die Marktwirtschaft sollte gerade aus Gerechtigkeitsgründen, die ihrerseits mit der Möglichkeit von Autonomie verbunden sind, eingeschränkt werden. Das ist aber etwas anderes als zu meinen, wir bräuchten weniger Autonomie. Historisch gesehen kann man sicherlich sagen, dass wir in heutigen liberal-demokratischen Gesellschaften über mehr individuelle Handlungs- und Lebensmöglichkeiten verfügen als noch vor fünfzig oder hundert Jahren, und in diesem historischen Vergleich gilt das für alle sozialen Milieus, ebenso wie für Männer und Frauen. Ich finde die Frage jedoch fruchtbarer, wenn man sie so stellt, dass Ungleichheiten in jetzigen Gesellschaften deutlich werden: wo verhindern, auch in liberalen Demokratien, Strukturen der Ungleichheit – kapitalistische, patriarchale, rassistische – individuelle Autonomie, wo sorgen sie für sehr differente Handlungsspielräume. Diese Strukturen lassen sich dann kritisieren und gegebenenfalls verändern. Übrigens mache ich in meinem Buch gerade einen Unterschied zwischen Freiheit (negativer wie positiver) und Autonomie, weil ich den Autonomiebegriff als substantieller verstehe als entweder nur die Abwesenheit von Hindernissen oder die Bereitstellung vernünftiger Optionen; auch das Selbstverhältnis, die (ausreichende) Selbstkenntnis des Subjekts gehört zu den Aspekten, die erklärt werden müssen und ohne die eine Person nicht autonom sein kann. Auch deshalb ist es schwierig zu sagen, dass Personen in einer Gesellschaft entweder zu viel oder zu wenig Autonomie haben. Dennoch bleibt Autonomie als Fähigkeit graduierbar.

 

Bei zwei einander ausschließenden Positionen suchen Sie in der Regel die Mitte. Ist dies ein grundsätzliches, an Aristoteles' Mesotes-Lehre orientiertes Konzept, oder drängt sich dies von Ihrer lebensweltlichen Grundhaltung auf?

Bei Aristoteles ist die Mesotes ja kein Kriterium, das wir anwenden, um zu schauen, was die richtige Handlung oder Haltung wäre – und auch bei mir ist dies nicht so. Sie kann also auch kein Kriterium sein, das mir helfen könnte, zwischen mehr oder weniger plausiblen Theorien – oder Affekten, oder Haltungen – zu unterscheiden. Wenn wir darüber nachdenken, was in einer Situation die richtige Handlung wäre, dann stellt sich heraus, dass die tugendhafte Handlung die ist, die zwischen zwei ‚Schlechtigkeiten' liegt. Die Mesotes bestimmt dann aber nicht die Entscheidung oder die Handlung vorab, sondern kann sie und ihre Bedeutung vielmehr im Nachhinein erklären; und in diesem Sinn knüpfe ich (allerdings nicht explizit) an Aristoteles an, übrigens auch, was seine Ausführungen in der Nikomachischen Ethik zur Methode in der Ethik und zur Rolle der Phronesis betrifft.

Doch eine solche vernünftige Mitte-Haltung drängt sich sicherlich nicht von meiner lebensweltlichen Grundhaltung auf – die ist nämlich eher nicht so balanciert. Die vernünftige Mitte ist vielmehr ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass mittlere Positionen fast durchgehend theoretisch die überzeugendsten sind, begreift man sie als Antwort auf entsprechende Fragen. So ist es beispielsweise im Blick auf die Frage nach der Ambivalenz von autonomen Personen weder normativ noch lebensweltlich angemessen, nur solche Handlungen als selbstbestimmt zu beschreiben, die völlig ambivalenzfrei sind – doch auch nicht solche, die die Person immer wieder schwanken und zweifeln lassen und deshalb am Handeln hindern. Dasselbe gilt für die Phänomene von Selbsttäuschung oder Entfremdung – auch hier sind die mittleren Positionen der Tatsache geschuldet, dass meine Theorie versucht, normativ konsistent und zugleich phänomenal angemessen zu sein. Dieses Streben nach phänomenaler Angemessenheit sorgt, so glaube ich, für viele der Differenzen zwischen meinen Überlegungen und anderen Theorien.

Bei der Diskussion der Positionen ist Harry Frankfurt immer wieder Ihr Gegner. So sehen Sie Autonomie als „graduierbare Fähigkeit", im Gegensatz zu Frankfurts „rigoroser Autonomie". Kann man Sie so verstehen: je mehr wir die soziale Umwelt (Zwänge, Sanktionen, Rücksichten) einbeziehen, desto geringer wird die Autonomie? Wo ist dann ist die Schwelle bzw. rote Linie?

Lassen Sie mich erst die erste Frage beantworten: nein, es ist keineswegs so, dass uns gesellschaftliche Bedingungen oder soziale Kontexte immer daran hindern, autonom zu sein – im Gegenteil: ich versuche zu zeigen, in welcher Weise die sozialen Bedingungen Autonomie gerade ermöglichen können. Allerdings haben in liberal-demokratischen Verhältnissen diese Bedingungen eine strukturelle Doppelwertigkeit oder Janusköpfigkeit: sie ermöglichen Autonomie, aber sie können sie auch gerade verhindern, aufgrund der Strukturen von Ungleichheit, die ich gerade schon angesprochen habe. Nennen muss man hier auch die Tatsache, dass wir in einer Konsumgesellschaft leben, die – vor allem einhergehend mit der Digitalisierung der Gesellschaft – unsere Autonomie einschränken, uns manipulieren kann. Bei Frankfurt spielen die sozialen Bedingungen keine Rolle, weil er Autonomie nur als internen Willensbildungsprozess beschreibt, aber ich gehöre zu den Kritikern, die zu zeigen versuchen, aus welchen Gründen das nicht richtig ist.

Die zweite Frage betrifft die nach der Schwelle, diesseits derer Personen Autonomie zugeschrieben werden kann: die Bestimmung einer solchen Schwelle ist wichtig, und sie betrifft sowohl den internen Willensbildungsprozess wie auch die externen – kulturellen, politischen, sozialen – Umstände und die Frage, wie beides zusammenspielt. Personen müssen, um autonom zu sein, in der Lage sein darüber nachzudenken, wie sie handeln, sich entscheiden wollen, welche kurz- und langfristige Pläne sie verfolgen wollen usf. Wir kennen diese Debatten über eine solche Schwelle natürlich auch aus der medizinischen Ethik, in der die Autonomie einer Person eine zentrale Rolle spielt. Die sozialen und politischen Umstände können jedoch entweder entgegenkommend sein – um einen Terminus von Habermas aufzugreifen – und die Möglichkeit individueller Autonomie gerade stützen. Oder sie können der Idee individueller Freiheit oder Autonomie feindlich gegenüberstehen – dadurch wird Autonomie, so versuche ich zu argumentieren, nicht unmöglich, aber gegebenenfalls extrem schwierig. Wenn ich gegen Frankfurt also argumentiere, dass Autonomie eine graduierbare Fähigkeit ist, dann tue ich dies aus verschiedenen Perspektiven.

Gemäß Harry Frankfurt kann sich eine Person für eine Volition entscheiden und zu ihr stehen. Ist das nicht dasselbe, was sie eine authentische Entscheidung nennen?

Dies ist sicher eine Form einer authentischen Entscheidung, und ich knüpfe durchaus an diese Idee von authentischen Entscheidungen an, wie etwa auch Joseph Raz. Der wichtige Unterschied liegt darin, dass man sich, so argumentiere ich gegen Frankfurt, nicht mit einem Wunsch (wievielter Ordnung auch immer) identifiziert, sondern dass man sich auf der Basis von Gründen, die man für die richtigen, die eigenen hält, entscheidet. Der Voluntarismus von Frankfurt wird in einer solchen Konzeption, in der Personen aus Gründen – auf der Grundlage von Projekten und ihrer praktischen Identität – handeln und entscheiden, gerade kritisiert. Ein anderer Unterschied ist jedoch der, dass ich denke, Personen Autonomie auch dann zuschreiben zu können, wenn sie nicht vollkommen authentisch sind – wenn sie etwa von ihren eigenen Projekten (leicht) entfremdet sind, wenn sie in Beziehungen leben, in denen sie sich nicht (immer) zu Hause fühlen usf. Auch hier muss man wieder darauf verweisen, dass Autonomie graduiert werden kann.

Sie schreiben im Kapitel „Bedingungen individueller Autonomie" im ersten Satz „Freiheitsrechte ermöglichen Autonomie". Ein Sklave, der sich gegen seine Unterdrückung wehrt, ist der durch seinen Aufstand, auch wenn er scheitert, nicht doch auch autonom? Freiheitsrechte wären demnach für Autonomie hilfreich, aber nicht eine zwingende Bedingung?

Ja, genau das versuche ich deutlich zu machen: Freiheitsrechte, liberal-demokratische Gesellschaften, sind weder eine notwendige, noch auch eine hinreichende Bedingung für individuelle Autonomie – sie ermöglichen Autonomie, aber zum einen muss man auch in liberal-demokratischen Gesellschaften noch von Strukturen sprechen, die individuelle Freiheit oder Autonomie verhindern; zum anderen ist es auch unter Bedingungen totalitärer Staaten nicht ausgeschlossen, dass Personen Autonomie entwickeln, mit anderen zusammen versuchen, wenigstens in verschiedenen Hinsichten eigene Handlungsräume, Ziele, Pläne zu entwickeln. Auf die erste Alternative habe ich gerade schon hingewiesen, nämlich auf die Janusköpfigkeit sozialer Bedingungen – als Autonomie ermöglichende wie auch als sie verhindernde. Ich diskutiere dies unter anderem am Beispiel der adaptierten Präferenzen: etwa, wenn Frauen sich entscheiden, sich für weniger anspruchsvolle, dafür leichter zu erreichende Optionen zu bewerben (wie der Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind, wenn er sie nicht erreichen kann). Das macht solche Personen nicht im Ganzen nicht-autonom; aber es zeigt, dass man auch unter liberal-demokratischen Bedingungen kritisch sein kann gegenüber dem Anspruch von Personen, dass sie autonome Entscheidungen getroffen haben. Andererseits ist auch unter nicht-liberalen oder nicht-demokratischen Bedingungen Autonomie möglich: das zeigen etwa politische Bewegungen in totalitären Staaten, aber es zeigen auch individuelle Versuche, sich von bestimmten repressiven Strukturen zu befreien oder innerhalb dieser Strukturen individuelle Handlungsspielräume zu erobern. Andere Autonomietheorien binden die Möglichkeit von Autonomie begrifflich an das Leben in liberalen Demokratien, weil nur in ihnen etwa die für Autonomie in ihren Augen notwendigen Formen der rechtlichen, sozialen, Anerkennung zu finden sind; wenn man das nicht einfach als terminologisches Problem begreifen will, dann müssen solche anspruchsvollen Theorien anders erklären können, wie es zur Möglichkeit von autonomen Handlungen und Personen unter diesen nicht liberal-demokratischen Bedingungen kommen kann.

Ein wichtiges Thema ist für Sie dasjenige des „gelungenen Lebens". Mit welchen Gründen können wir das Leben dessen, der sich autonom dafür entscheidet, für den Rest seines Lebens an eine Maschine angekoppelt zu sein, die ihm ununterbrochen Glücksmomente im Hirn erzeugt, als misslungen bezeichnen?

Diese Erfahrungsmaschine, wie sie in etwas komplizierterer Form von Robert Nozick als Gedankenexperiment beschrieben wird, gilt ja vor allem der Widerlegung des Hedonismus. Ich lese diesen Text regelmäßig in einem Seminar über Themen des guten Lebens, und immer gibt es mindestens ein, zwei Studierende, die nichts gegen eine solche Maschine hätten (manchmal sagen sie dann, sie würden vielleicht warten wollen, bis sie alt sind, so ungefähr 60...). Das ist natürlich hilfreich, weil es dazu zwingt, genau die Gründe herauszuarbeiten, die gegen eine solche Maschine sprechen. In meinem Buch suche ich zu zeigen, dass wir ein Interesse an einem auf Wahrheit, also nicht auf Illusionen, beruhendem Leben haben, dass wir unser Leben selbst leben wollen und dass es unsere eigenen Handlungen sein müssen, die wir vollziehen. Dies sind Argumente – oder mindestens Überlegungen – die ungefähr so auch von Robert Nozick selbst vorgebracht werden, ebenso wie von Susan Wolf oder Nomy Arpaly. Und es sind Argumente nicht nur für die Möglichkeit eines selbstbestimmten, sondern auch für die eines sinnvollen Lebens. Doch man kommt hier schnell an einen Punkt, an dem man noch substantieller argumentieren muss: denn man muss deutlich machen, dass es um die grundlegende normative Frage geht, wie wir leben wollen. Auch die angeblich puren Hedonisten erkennen dann, dass sie noch andere Prioritäten haben. Dass diese Einsicht und diese Prioritäten damit zusammenhängen, dass Personen ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, ist dann der nächste argumentative Schritt. Und hier kann man deutlich machen, warum das Leben an der oder in der Maschine als misslungen bezeichnet werden muss.

Ihr Begriff „gelungenes Leben" unterstellt ein intellektuell reichhaltiges Leben. Wir finden ihn aber problematisch, da er intellektuell einfache und erst recht geistig behinderte Menschen ausschließt. Sollte man daher „gelungenes Leben" nicht besser durch „interessantes Leben" ersetzen? Denn uns scheint, dass ein Leben, das nicht auf schwierige Entscheidungsprozesse angewiesen ist, letztlich durchaus ein glücklicheres Leben sein kann als das Leben eines auf Reflexionen angewiesenen und mit Selbstzweifeln verbundenen Menschen.

Das sind wichtige Fragen, und ich versuche, sie mit Hilfe richtiger – angemessener – Unterscheidungen und Erklärungen zu beantworten: so mache ich einen Unterschied zwischen dem glücklichen und dem gelungenen Leben gerade deshalb, weil es Menschen gibt, die nicht autonom sind und von denen wir dennoch sagen wollen, dass sie ein glückliches, ein gutes Leben haben, wie etwa kleine Kinder. Auch behinderte Menschen können selbstverständlich ein gutes oder glückliches – oder eben unglückliches - Leben führen, genau dafür argumentiere ich. Der wichtige Unterschied liegt zwischen dem gelungenen als selbstbestimmten Leben und dem glücklichen. Ich erkläre das gelungene Leben so, dass in ihm alles zusammenkommt: Selbstbestimmung, Respekt für Andere, Glück, Sinn. Man kann nämlich auch umgekehrt ein sinnvolles Leben führen, wenn es unglücklich ist – die niederländische Schriftstellerin Anna Enquist zum Beispiel, deren Tochter vor 15 Jahren, gerade mit dem Studium fertig, bei einem Fahrradunfall in Amsterdam tödlich verunglückte, ist, so sagt sie selbst in Interviews, nicht glücklich und denkt jeden Tag an ihre Tochter. Dennoch hat sie – nicht nur aus der fremden, sondern auch aus ihrer eigenen Perspektive – ein sinnvolles Leben, sie schreibt wunderbare Bücher, ist Psychoanalytikerin, außerdem Pianistin und hat deshalb viele Projekte – oder Vorhaben, auch Beziehungen – die ihrem Leben Sinn geben. Es ist völlig plausibel, eine deutliche Differenz zu ziehen zwischen dem Sinn und dem Glück des Lebens.

Wenn wir erwachsen sind und ein mehr oder weniger normales Leben in einem liberal-demokratischen Sozialstaat führen, werden wir immer Entscheidungen fällen müssen – leichte (wer kocht heute und was essen wir?) und schwierigere – will man Kinder haben, zum Beispiel, oder welche Ausbildung will man machen, welchen Job versuchen zu bekommen. All dies sind Probleme, vor die nicht nur Intellektuelle gestellt werden. Auch eine Sorte Entscheidungen die zwischen diesen existentiellen und den leichten Entscheidungen liegen, werden von allen erwartet: welche Kranken- oder auch Autoversicherung soll ich wählen, welche Schule für das Kind usf. Und das politische Wahlrecht habe ich dabei noch nicht einmal erwähnt. Ich halte deshalb nicht so viel von dieser Haltung, dass nur ‚wir' – die Philosophen, die Akademikerinnen, die schlauen Leute – über ihr Leben nachdenken, während andere Menschen alles genau so tun wie ‚man es halt tut', oder nur ihren unmittelbaren Wünschen folgen, oder eben blind entscheiden – wie der wanton bei Harry Frankfurt – und auch so leben wollen.

Das ist letztlich vielleicht eine empirische Frage; aber das Leben in unseren komplexen Gesellschaften verlangt gerade von allen, dass wir uns permanent entscheiden. Nun brauchen wir nicht über jede Entscheidung lange nachzudenken, aber es gibt viele, bei denen gerade dies notwendig ist. Deshalb haben eine Reihe von Autonomietheorien vorgeschlagen, Autonomie in verschiedenen Hinsichten zu stützen – wie etwa das nudging von Sunstein und Thaler, oder auch die Ideen assistierter Autonomie bei kranken Menschen. All dies kann sicherlich hilfreich sein, trotz der Gefahren des Paternalismus und der Entmündigung von Personen. Aber in modernen, komplexen Gesellschaften, in denen wir frei und autonom handeln können und wollen, kommt niemand um Reflexion – und gegebenenfalls um Zweifel und Selbstzweifel – herum, ob dies unser Leben glücklicher macht oder nicht.

Ein autonomer Mensch ist letztlich ein einsamer Mensch. Der in der Gemeinschaft aufgehobene Mensch spielt bei Ihnen so gut wie keine Rolle. Können wir für ein „gelungenes Leben" die Gemeinschaft vergessen, weil sie die Autonomie einschränkt?

Die Idee, dass die Gemeinschaft bei mir keine Rolle spielt, gründet wirklich auf einem völligen Missverständnis. Hier unterstellen Sie gerade ein Bild und eine Idee von Autonomie, gegen die ich durchgehend argumentiere: das Bild des einsamen Cowboys, der sein Pferd sattelt und seinen Hut aufsetzt, um dann allein und entschlossen – autonom – in die Welt zu reiten. Einen solchen Begriff von Autonomie kann man noch nicht einmal Kant unterstellen, der sich der sozialen Eingebundenheit und Situiertheit der Subjekte durchaus bewusst war. Kant betrachtet Personen immer schon als Teilnehmer und Teilnehmerinnen einer sozialen Welt, anders könnte – und müsste – der kategorische Imperativ gar nicht zur Anwendung kommen. Wir müssen andere also immer schon in ihrer eigenen – sozial bestimmten, pluralen – Zweckunterschiedlichkeit anerkennen: genau darauf zielt die Idee, im Reich der Zwecke andere als Gleiche zu respektieren. Schon bei Kant ist der autonome Mensch nicht einsam: Moralität ist deshalb geradezu das organisierende Prinzip der sozialen Welt.

Autonom ist man nur gemeinsam mit anderen – dies ist eines der Grundthemen in meinem Buch: man lernt, autonom zu sein, in sozialen Kontexten und man handelt autonom mit anderen, in Beziehungen. Der Begriff der relationalen Autonomie, der in den letzten 20 Jahren in der Philosophie intensiv diskutiert wird, soll genau dies zum Ausdruck bringen: dass wir als soziale Wesen eingebunden sind und konstituiert werden in soziale Kontexte und nur wegen und mit (und gegebenenfalls durchaus auch gegen) diese sozialen Kontexte autonom handeln können. Marilyn Friedman etwa erläutert relationale Autonomie so, dass gerade nicht die individuelle Eigenständigkeit in Beziehungen hinein verflüssigt wird, sondern dass diese Eigenständigkeit die Möglichkeit garantiert, sich aus Beziehungen lösen zu können, um andere einzugehen. Solche Theorien von Autonomie konzeptualisieren Autonomie also immer schon im sozialen Raum. Deshalb gehört, wie ich argumentiere, auch eine Theorie des gerechten Zusammenlebens notwendig zu einer Theorie individueller Autonomie.

Eine Nonne, die sich autonom für das Klosterleben und den Gehorsam entscheidet, kann deren Leben gelungen sein?

Das ist eine wunderbar traditionelle Frage der analytischen Philosophie: man geht aus von den Extremfällen, von den marginalen Fällen, um der Bedeutung eines Begriffs auf die Spur zu kommen oder um bestimmte Bedeutungen ad absurdum zu führen. Sie hat, denke ich, nur begrenzten Wert – aber den hat sie natürlich. Ihre Nonne ist vielleicht nicht einmal so ein gutes Beispiel: denn selbstverständlich ist es problemlos vorstellbar, dass man sich – nach langem Überlegen, auch mit anderen, nach Diskussionen, Interpretationen der eigenen Lebensgeschichte und Erfahrungen – entscheidet, ins Kloster zu gehen. Ich sehe an solch einer Entscheidung nichts, was ihrer Autonomie widersprechen müsste – und wenn diese Nonne sich für das Kosterleben auf eine angemessene Weise entschieden hat, sehe ich auch nicht, warum sie kein gelungenes – selbstbestimmtes, sinnvolles, glückliches – Leben leben sollte. Ich nehme jedoch an, dass Ihr Punkt der ist, dass man im Kloster nicht mehr selbstbestimmt handeln kann. Deshalb werden häufig radikalere Beispiele verwendet in diesem Kontext, wie etwa das der freiwilligen Versklavung, wenn es um ein ganz persönliches Verhältnis zwischen einem Herrn und einem Sklaven – oder einer Sklavin – geht. Hier ist die Frage deutlicher: kann man sich selbstbestimmt in eine nicht mehr selbstbestimmte Situation bringen? Problematisch an solchen Beispielen ist, dass sie zeigen wollen, dass der Begriff der Autonomie dann im Ganzen falsch bestimmt wurde, wenn man auch solche Fälle der Selbstversklavung als autonom bezeichnen muss. Das sehe ich nicht so: es kann Grenzfälle geben, bei denen man tatsächlich sagen muss, dass eine Person ihre Autonomie so realisiert, dass sie zukünftig keine Autonomie mehr leben kann. Das muss man zwar sicher kritisieren – aber es entwertet den Begriff der Autonomie, wie ich ihn erkläre und verwende, nicht. John Christman bringt übrigens als ein Beispiel der – autonomen – freiwilligen Selbstversklavung Eltern in den ersten Jahren mit ihrem Kind. Ist das unplausibel? Ich denke nicht.

Bei Ihnen kommt der Ausdruck Projekt häufig vor, und Sie schreiben auch vom Leben als Projekt („Lebensprojekt"). Kann man das gesamte Leben wirklich als Projekt verstehen und hängt unser Leben nicht doch mehr von Zufälligkeit und Änderungen unserer eigenen Wünsche und Ziele ab, als dies bei Ihnen der Fall zu sein scheint?

Die Frage, wie wir trotz Zufälligkeiten unseres Lebens doch versuchen können, ein autonomes Leben zu leben, ist die Ausgangsfrage in meinem Buch. Der Begriff des Projekts – den ich von Bernard Williams übernehme und den ich auch suche zu erklären – soll zeigen, dass wir in unserem Leben Vorhaben verwirklichen wollen, Pläne, Beziehungen, Verpflichtungen haben. Ich rede deshalb auch nicht von ‚dem Lebensprojekt', sondern immer von einer Vielzahl von Projekten, Beziehungen, Verpflichtungen. Sie können sich ändern: Beziehungen können zerbrechen, oder man kann nach und nach mit einer beruflichen Situation unzufrieden werden, man kann sich von Freunden und Freundinnen entfremden. Es gibt andere Krisen, die durch Unglücke, Krankheiten, Arbeitslosigkeit entstehen – solche Krisenerfahrungen kennen wir alle. Aber wir sind solchen Änderungen, krisenhaften Entwicklungen oder schicksalhaften Unglücken nicht hilflos ausgesetzt, sondern können und müssen uns zu ihnen – autonom – verhalten. Was das bedeuten kann, versuche ich in meinem Buch zu ergründen. Dabei geht es folglich gerade nicht darum, Projekte oder Vorhaben in einem Rawls'schen Sinn als Lebenspläne aufzufassen, die wir ganz rational entwerfen und dann gewissermaßen pro Posten abhaken. Der Begriff des Projekts stellt gerade die Möglichkeit bereit, sein mögliches Scheitern zu interpretieren. Auch deshalb finde ich ihn so hilfreich.

Was heißt für Sie „eigene Gründe haben"?

Wenn ich von den „eigenen Gründen" sprechen, die wir für unsere autonomen Handlungen haben und angeben wollen, so suche ich damit Formen von Manipulation oder Fremdbestimmung abzuwehren und postuliere zugleich, dass „wir selbst" durch eigene Reflexion die Ziele wählen und verfolgen können, die wirklich die unsren sind oder sein sollen und die die jeweils eigenen praktischen Identitäten ausmachen. Eigene Gründe sind dann solche, die an die je eigene Identität, die eigenen Werte, Verpflichtungen, Projekte usf. gekoppelt sind und die einer Person auf eine spezifische Weise gegeben sind, nämlich durch reflektierte Aneignung oder Identifikation. Ist ein Grund hier nicht ein eigener, kann ich mich nicht mit ihm identifizieren, dann ist er ein für mich fremder – und zwar unabhängig von der Frage des moralischen Status des Grundes. Der Begriff des eigenen Grundes ist folglich ein normativer. Er folgt jedoch nicht der Kantischen Dichotomie von moralischen Gründen einerseits und selbstinteressierten Gründen andererseits. Eine Reihe von Philosophen hat diese Dichotomie kritisiert, ich nenne nur Jay Wallace und seinen Begriff der eudaimonistischen Gründe, an den ich mit dem Begriff der eigenen Gründe auch anknüpfe. Es ist wichtig zu sehen, dass ein Handlungsgrund nicht definitorisch ein ‚eigener Grund' ist: wenn ich mich nämlich nicht völlig mit ihm identifizieren kann und doch so handele. Handle ich etwa nur aus einem Schuldgefühl heraus, kann ich also nicht wirklich hinter dem Grund stehen, mich mit ihm – und diesem Aspekt meiner praktischen Identität –identifizieren, dann ist es nicht mein ‚eigener' Grund, auch wenn ich ihn de facto als Handlungsgrund akzeptiere. So lässt sich etwa entfremdetes Handeln beschreiben, und so kann man auch Entfremdungen auf die Spur kommen.

Affekt und Gefühl spielen bei Ihnen kaum eine Rolle. Sind diese für ein glückliches Leben nicht doch von Bedeutung und eine Gefahr für die Autonomie?

Ich will dieser Beschreibung gleich widersprechen: Gefühle und Affekte spielen sehr wohl eine Rolle – genau deshalb, weil sie bei der Frage nach dem selbstbestimmten Leben nicht ausgeklammert werden können. So zeige ich zum Beispiel im Kapitel zum guten Leben, inwieweit Entfremdung – die Entfremdung von Hinsichten des eigenen, täglichen Lebens – das selbstbestimmte Leben bedrohen kann. In den literarischen Beispielen, die ich dort zitiere, wird genau dieser Affekt des sich in der eigenen Welt nicht Zuhause-fühlens nachgegangen. Auch die Tatsache, dass das selbstbestimmte Leben grundsätzlich gekennzeichnet ist von solchen Erfahrungen der Entfremdung, der Suche nach Authentizität, bespreche ich ausführlich und versuche zu zeigen, dass dies nicht unbedingt heißen muss, dass das in bestimmten Hinsichten entfremdete Leben ein im Ganzen nicht-autonomes sein muss. Schaut man auf eine andere Problematik, die der Ambivalenz, dann ist auch hier ganz evident, dass es sich nicht einfach um intellektuelle Probleme oder Einstellungen handelt, sondern dass affektive Haltungen eine zentrale Rolle spielen können. Angst etwa, oder auch Besorgnis, emotionale Unsicherheiten, spielen bei der Frage, wie ich eine bestimmte Entscheidung begreifen soll, wie sie sich mir gewissermaßen präsentiert, eine entscheidende Rolle. Deshalb finde ich den Dialog mit psychoanalytischen Theorien – wie etwa auch beim Phänomen der Selbsttäuschung – so hilfreich. Diesem Einfluss von Gefühlen, affektiven Einstellungen, gehe ich auch in dem Kapitel nach, in dem ich verschiedene Tagebücher daraufhin lese, ob und wie in ihnen der Versuch, ein selbstbestimmtes Leben zu leben, zum Ausdruck kommen kann. Hier spielen Schmerzen, Krankheiten, Ängste, Befürchtungen, Zuneigungen, häufig die entscheidende Rolle in der Wahrnehmung von Situationen oder in der Formulierung von eigenen Vorstellungen und Wünschen, und besonders bei Kafka, aber auch bei Plath oder Frisch – in seiner Angst vor dem Altwerden – kann man sehr deutlich sehen, wie die Personen um Autonomie ringen, was Autonomie unter genau diesen emotionalen Umständen bedeuten kann.

Es gibt noch einen anderen Grund, warum Affekte und Gefühle eine wichtige Rolle in meiner Theorie spielen müssen: weil ich nicht eine ideale normative Theorie entwerfen will, die als normatives Ideal für Personen unabhängig von der Frage gelten muss, was Autonomie im täglichen Leben bedeuten kann, sondern weil ich an einer Theorie interessiert bin, die den nicht-idealen Umständen von Personen Rechnung trägt und doch festhält an einer konsistenten normativen Theorie. Dabei ist es ein Missverständnis, wenn nicht-ideale Theorien meinen, ganz ohne einen normativen Begriff als Leitbegriff auskommen zu können - wenn etwa nicht-ideale Theorien der Gerechtigkeit angeblich ohne einen Begriff von Gerechtigkeit beginnen können. Deshalb suche ich zu Beginn meines Buches solch einen normativen Vorbegriff zu entwickeln und zu klären. Doch so eine allgemeine leitende Vorstellung kann und muss sich immer wieder kritisieren lassen von Einsichten, die aus der Beschreibung der Phänomene – in meinem Fall: dem Alltag der autonomen, handelnden Person, der agents – ergeben und den normativen Vor-Begriff des autonomen Handelns informieren und gegebenenfalls korrigieren können. Tommie Shelby nennt eine solche Theorie ‚normative nonideal', und aus solch einem theoretischen Ansatz sind beispielsweise die Theorien relationaler Autonomie entstanden, in denen die Kritik am einsamen, rationalen, körper- und emotionslosen Akteur zentral steht, und in denen Gefühle, Emotionen als welterschließend beschrieben werden. Es ist der (vereinseitigte) Kantische Begriff von moralischer Autonomie, der immer noch zu dem Missverständnis führt, dass persönliche Autonomie nur in der Ausgrenzung von Gefühlen gelingen kann. Genau dies ist einer der Gründe, warum man über den Begriff moralischer Autonomie hinausgehen muss hin zu einem umfassenderen Begriff persönlicher Autonomie. Deshalb versuche ich, einen solchen reichen Begriff der autonomen Person und der Bedeutung von Autonomie zu begründen, einen Begriff, der der immer schon in ihren Alltag eingebundenen Person gerecht werden kann.

Die Fragen stellten Ekkehard Martens und Peter Moser.