PhilosophiePhilosophie

03 2018

Theo Kobusch:
Die Grundlagen des Moralischen. Über ein Kapitel der Metaphysikgeschichte

aus: Heft 3/2018, S. 8-21

 

Die Herausforderung des theologischen Voluntarismus

Mit der Philosophie Platons beginnt die Moralisierung des Gottesbegriffs. Gott wird verstanden als der Inbegriff des Sittlichen. Im Dialog Euthyphron (10d) taucht die Frage auf, ob denn das Fromme deswegen fromm sei, weil es die Götter lieben, oder ob umgekehrt die Götter es lieben, weil es fromm ist. Platon und der Platonismus aller Zeiten haben immer angenommen, dass das Fromme, d. h. das Gute und Gerechte sich nicht einem Willensentschluss Gottes verdanken, sondern dass Gott – eben als Inbegriff des Sittlichen – das Gute und Gerechte will, weil es gut und gerecht ist. Das ist bis ins hohe Mittelalter die Position der Philosophie geblieben.

Der „theologische Voluntarismus" des 14. und 15. Jahrhunderts hat in dieser Frage eine Kehrtwendung vollzogen. Die platonische Ausgangsfrage, ob das Gute gut ist, weil es die Götter wollen oder ob es die Götter wollen, weil es gut ist, wird nun gegen den Geist des Platonismus beantwortet. Ein im gesamten Nominalismus kolportierter, gegen Platon gerichteter Satz lautet bei Pierre d'Ailly, gewissermaßen auf dem Höhepunkt des Voluntarismus, so: „Nicht deswegen schreibt Gott das Gute vor, weil es gut ist oder verbietet das Schlechte, weil es schlecht ist, sondern deswegen ist es gut, weil es geboten und deswegen schlecht, weil es verboten ist". Alle positiven moralischen Qualitäten sind, was sie sind, aufgrund der Liebe, d.h. der „Akzeptation" Gottes. Entsprechend werden die negativen moralischen Qualitäten dem Menschen zur ewigen Strafe nur aufgrund des reinen göttlichen Willens angerechnet. Deswegen spricht man vor allem im angelsächsischen Bereich von einer Divine Command Theory.

Der theologische Voluntarismus ist in seiner extremen Form, die uns in Pierre d'Aillys antiplatonischer Antwort auf die Euthyphron-Frage präsentiert wird, der Höhepunkt einer allmählich fortschreitenden Entwicklung im Mittelalter, die sich schon früh ankündigt. Das Abrahamsopfer stellt dabei geradezu einen Probierstein dar, durch den man erkennen kann, wie es mit dem Wesen des Moralischen bestellt ist.

Die neuzeitliche Philosophie kann zu großen Teilen als Aufstand gegen den extremen Voluntarismus spätmittelalterlicher Prägung, der sowohl von katholischen wie protestantischen Theologen übernommen worden war, gelesen werden. Frontal gegen den spätmittelalterlichen Voluntarismus ist vor allem der Platonismus der Cambridger Platoniker gerichtet. So beruht nach Ralph Cudworth die Sicherheit des sittlichen Wissens darauf, dass das Moralische keine göttliche Willenssetzung ist, sondern gerade dasjenige, wodurch Gott und Mensch miteinander verbunden sind. Jene Ideologie dagegen, die, wie die Hobbessche, von einer falsch verstandenen göttlichen absoluten Macht auch eine politische absolute Macht abzuleiten versucht, die als ihre einzige Äußerung verstanden werden soll, macht in Wirklichkeit den eigenen Willkürwillen zur Regel der Gerechtigkeit und nicht diese zur Regel des Willens.

Der englische Deismus

Der englische Deismus hat die Idee aufgegriffen. Thomas Chubb, Thomas Morgan und Matthew Tindal haben in bemerkenswerter Einmütigkeit darauf hingewiesen, dass die moralischen Inhalte von Gottes Willen abhängig zu machen den Ruin der Moralität und der Religion bedeutete. Wenn Gott im Bereich des Moralischen willkürlich handeln könnte, d. h. mit solchen Gründen, die nur ihm selbst bekannt und unserem Forschen entzogen wären, dann würde Gott die Autorität der Vernunft untergraben – der ja die Gründe offenbar sein müssen – und damit seine eigene Autorität. Deswegen müssen, wenn Handeln als vernunftgeleitet gedacht werden soll, die Gründe des Handelns jedermann, d. h. allen vernünftigen Wesen zugänglich sein.

Was zudem auf diese Weise verfehlt wird, ist die Universalität des Rechts und der Gerechtigkeit, denn soll das Gerechte sich universell auf alles erstrecken, auch auf die Gottheit selbst, dann kann Gott selbst nicht etwas befehlen, was seiner eigenen Natur nach ungerecht ist, dann ist ein willkürlicher Wille als Quelle und Regel der Gerechtigkeit, die andere verpflichtet, ein absoluter Widerspruch dazu. Thomas Chubb hat die Konsequenz in klassischer Weise formuliert: Die Verpflichtung des moralischen Gesetzes kann nicht im positiven Willen Gottes ihren Grund haben, sondern nur in den „Gründen" der Dinge, d. h. im Guten und Bösen selbst.

Im englischen Deismus wird auch die besondere Rolle des Moralischen bewusst. Es ist die einzige wirkliche Brücke zwischen Gott und Mensch. Die moralische Wahrheit, so sagt Thomas Morgan in seinem Buch The Moral Philosopher (1737), ist das einzige sichere Kriterium der göttlichen Wahrheit. Und Thomas Chubb hat das Moralische, also die moralische Pflicht, geradezu als dasjenige definiert, das in sich selbst richtig ist und von jedem vernünftigen Wesen als solches anerkannt wird. Wenn Gut und Böse von Gottes Willen abhingen, dann stünde unsere moralische Existenz auf einem prekären Boden, denn Gott könnte seinen Willen ändern, und was heute weise und gut ist, könnte morgen verrückt und böse sein, so dass wir keine Gewissheit über Gut und Böse erlangen könnten. Die moralischen Inhalte von Gottes Willen abhängig zu machen, bedeutet nach Chubb, den Ruin der Moralität und der Religion heraufzubeschwören. Deswegen ist es notwendig, davon auszugehen, dass das Moralische, Gut und Böse, immer und überall, d. h. für endliche und unendliche Wesen dasselbe ist und dieselbe Bedeutung hat.

Matthew Tindal hat in seinem einflussreichen Werk Christianity as old as the Creation (1730) die allgemein deistische Position von der Identität der Regeln, die den menschlichen und göttlichen Willen bestimmen, auch expressis verbis vertreten. Das Leben Gottes hier auf der Erde zu leben, besagt so viel wie so zu leben, wie Gott an unserer Stelle leben würde. Denn dieselben Regeln würden unseren Willen bestimmen, die auch seinen bestimmen. Deswegen kann auch kein Befehl von Gott kommen, der inkompatibel wäre mit den Pflichten, die die Menschen als Menschen einander schulden. Dazu müssen auch die Gebote des göttlichen Willens, wenn sie wirklich gut und heilig sind, in der „Natur und Vernunft der Dinge" gründen.

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