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ESSAY

Hampe, Michael: Wahrheitspraktiken. Über das Leiden an Unwahrheit

aus: Heft 1/2019, S. 8-21

Manchmal leiden Menschen an Widersprüchen. So mag jemand einem Beruf nachgehen, in dem er oder sie vor allem danach zu streben hat, Geld unabhängig von einem konkreten Nutzen zu vermehren, etwa in der Finanzwirtschaft. Die Person interessiert sich jedoch nicht für Geld, möchte lieber einen Roman schreiben oder Bilder malen. Sie sieht dann, dass das, was sie tut, in einem Widerspruch zu dem steht, was sie sich unter ihrem Leben als einem guten vorgestellt hat. Menschen können aber auch daran leiden, dass etwas nicht gesagt wurde, was in ihren Augen öffentlich festgestellt werden sollte. Vielleicht sind Verwandte von ihnen verschwunden oder umgekommen, doch es ist nie darüber gesprochen, nie ein öffentliches Verfahren eröffnet worden. Die Menschen sind vielleicht überzeugt, dass nach vielen Jahren, seit sie ihre Angehörigen verloren haben, diese nicht mehr zurück zu bringen sein werden. Trotzdem möchten sie, dass die Tatsache des Verschwindens öffentlich wird, dass „Wahrheitskommissionen" eingerichtet werden. In diesem Zusammenhang wird seit 1987 in internationalen Gremien wie der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und den Vereinten Nationen von einem „Recht auf Wahrheit" als einem Menschenrecht gesprochen.

Menschen können auch darunter leiden, dass das Gegenteil von dem behauptet wird, was der Fall ist. So leidet beispielsweise Ivan Iljitsch in der nach ihm benannten Erzählung von Leo Tolstoi nicht nur, weil ihm in Kürze der Tod bevorsteht, sondern auch, weil seine Angehörigen leugnen, dass er grade stirbt und ihn stattdessen so behandeln, wie einen „normalen Kranken", der wieder genesen wird.
In diesen Beispielen leiden Menschen an Unwahrheiten. Im ersten Beispiel führt eine Person nicht das Leben, das sie eigentlich leben möchte. Sie hat sich über ihre eigenen Interessen geirrt oder vielleicht sogar selbst über diese Interessen aktiv betrogen. Irrtümer und Betrug sind oder führen zu Fälle/n von Unwahrheit. In diesem Beispiel können wir auch davon sprechen, dass die betreffende Person, die in der Finanzwirtschaft arbeitet, obwohl sie lieber Künstlerin sein will, sich etwas vorgemacht hat als sie ihren Job angenommen hat. Die Menschen im zweiten Beispiel, die danach streben, dass das Verschwinden ihrer Verwandten öffentlich wird, streben nicht einfach nach Gerechtigkeit. Sie wollen darüber hinaus, dass etwas ans Licht kommt, was bisher verborgen geblieben ist. Sie bestehen deshalb auf der Einrichtung von öffentlichen Plenen wie es sie in Südafrika und Südamerika gegeben hat, die nicht unbedingt zu Gerichtsprozessen führen, jedoch für alle sicht- und hörbar feststellen, was passiert ist, damit bezeugt wird, was der Fall ist. Ivan Iljitsch fühlt sich grausam behandelt durch das Verhalten seiner Verwandten, sie lassen ihn in seinem Sterben allein, indem sie nicht den Tatsachen entsprechend mit ihm umgehen, sondern so tun, als sei alles nicht so schlimm. Die Vereinsamung, die der Tod für den Sterbenden ohnehin meist mit sich bringt, wird dadurch noch verschärft. Gemeinsam den Tatsachen ins Auge zu sehen, sie gemeinsam anzuerkennen, mag sie nicht aus der Welt schaffen. Doch wenn Menschen durch die Anerkennung dessen, was der Fall ist, miteinander verbunden bleiben, sind sie schon in einer besseren, weil solidarischeren Situation als wenn sie sich gegenseitig über das schwer Erträgliche betrügen und mit dem, was auf sie zukommt, alleine lassen. Sowohl mit sich selbst wie untereinander in einer Gemeinschaft darüber einig zu sein, was der Fall ist, ist deshalb etwas, was Menschen anstreben.

Man kann das Leiden an Unwahrheiten, das in diesen drei Beispielen angesprochen wird, mit klassischen philosophischen Konzeptionen der Wahrheit in Zusammenhang bringen:

● mit der Kohärenztheorie der Wahrheit, die unter anderem (nicht nur) die Vermeidung von Widersprüchen als ein Wahrheitskriterium benennt - Im ersten Fall einer Person, deren tatsächliches Leben dem, was sie sich unter ihrem Leben vorstellt, widerspricht;

● mit der apophantischen Wahrheitstheorie, die Wahrheit als das Geschehen des Offen-zu-Tage-Tretens begreifen will – im zweiten Beispiel der Menschen, die eine ihnen und ihren Angehörigen widerfahrene Grausamkeit öffentlich gemacht sehen wollen und

● mit der Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit, die eine Übereinstimmung zwischen dem, was der Fall ist und der Art wie wir es repräsentieren - thematisiert bei Ivan Iljitsch.

Philosophen mögen sagen, dass die Zusammenhänge zwischen ihren Theorien und diesen Beispielen rein äußerlich sind. Denn den philosophischen Wahrheitstheorien gehe es ja vor allem um die wissenschaftlichen Wahrheiten, die sich in Aussagezusammenhängen ausdrücken, die widerspruchsfrei, die Wahrheit offenbarend oder den Tatsachen entsprechend sein sollten. In diesen Beispielen habe man es jedoch gar nicht damit zu tun, sondern mit Wahrheit in einem existentiellen Sinne, wie dem „wahren Leben".

 

Philosophische Wahrheitstheorien treten in der Regel mit dem Gestus auf, etwas über die Wahrheit überhaupt zu sagen. Dadurch wird dann der Anschein erweckt, als könne es da, wo es nicht um Propositionen oder Aussagezusammenhänge und ihre Eigenschaften geht, auch gar nicht um Wahrheit gehen. Doch die Philosophie hat keine Polizeigewalt über die Verwendung von Wörtern, auch nicht über die von so gewichtigen und allgemeinen Begriffswörtern wie „Wahrheit". Die Aussage: „Existentielle Wahrheiten gibt es nicht, weil Wahrheit eine Eigenschaft von Aussagen oder Propositionen ist." wird keinen Menschen außerhalb eines philosophischen Instituts daran hindern, „Wahrheit" auch in Kontexten zu verwenden, in denen es nicht um Aussagen geht. Philosophinnen und Philosophen können Gebrauchsweisen von Wörtern zwar vorschlagen. Doch sie können sie in den seltensten Fällen auch steuern. Wenn wir uns Wittgenstein anschließen und glauben, dass der Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung ausmacht und der Gebrauch von „Wahrheit" vielfältig ist, dann ist eben auch die Bedeutung dieses Wortes vielfältig.

Die eben genannten Beispiele sollen daher nicht dazu dienen, klassische Wahrheitstheorien zu illustrieren. Vielmehr geht es mir darum hervorzuheben, dass Menschen ganz unabhängig von wissenschaftlichen Aussagezusammenhängen unter Unwahrheiten leiden können und deshalb nach Wahrheit streben: weil sie sich von der Wahrheit eine Leidminderung erhoffen. Leiden ist etwas Wirkliches. Es ist schwer zu behaupten, dass jemand sich irrt und eigentlich nicht leidet, der das Gefühl hat zu leiden. Wenn es aber Leiden gibt und wenn es ein Leiden an Unwahrheiten gibt (was durch diese Beispiele nicht bewiesen wird, vielleicht kann man zeigen, dass die Menschen in den betreffenden Fällen an etwas Anderem leiden als an Unwahrheit, mir scheint das jedoch nicht der Fall zu sein), dann muss es auch Wahrheiten geben. Es muss Wahrheiten in diesem Fall nicht geben, weil jedes Leiden notwendig eine Linderung erfahren muss. Aber die Verwendung des Wortes „Unwahrheit" hat ja nur dann einen Sinn, wenn es auch einen sinnvollen Gebrauch des Wortes Wahrheit gibt; denn mit der Verwendung des Begriffs der Unwahrheit bringen wir die Abwesenheit von etwas zum Ausdruck. Auf den ersten Blick scheint es vielleicht möglich, dass es sich mit der Unwahrheit wie mit der Gottlosigkeit verhält: Menschen mögen beides beklagen und vielleicht gibt es weder einen Gott noch eine Wahrheit. Doch erstens kann man nicht von Gottlosigkeit und Unwahrheit sprechen, wenn man niemals zumindest annahm, dass es einen Gott und Wahrheit gegeben hat. Und zweitens sind die Verhältnisse bei Gottlosigkeit und Unwahrheit nur scheinbar parallel. In Wirklichkeit ist es ja so, dass sich Menschen tatsächlich dadurch besser fühlen, ihr Leid wirklich mindern können, wenn sie Widersprüche aus ihrem Leben entfernen oder diese auflösen, wenn sie Wahrheitskommissionen bilden und über das sprechen, was im Verborgenen geschehen ist, und sich den Tatsachen entsprechend verhalten. Deshalb gibt es auch tatsächlich Wahrheiten in diesem existentiellen Sinne. Wahrheiten sind etwas, was Menschen nicht nur anstreben, sondern mit unterschiedlichen Praktiken auch erreichen können und dann erfahren. Nennen wir diese Praktiken „Wahrheitspraktiken".

Das pragmatistische Wahrheitsverständnis

Eine Wahrheitspraktik kann als eine Suchbewegung verstanden werden, die dann, wenn sie erfolgreich abgeschlossen wird, die Wahrheit von etwas findet: das „wahre Leben" ohne Widersprüche, die Offenbarung der Wahrheit über etwas in der Vergangenheit Geschehenes oder die Übereinstimmung zwischen dem, was der Fall ist oder getan wird und dem, was gesagt wird. Dieser Gedanke schließt an das an, was John Dewey Inquiry genannt hat und was für das pragmatistische Wahrheitsverständnis zentral ist. Wahrheit ist das, was am Ende einer erfolgreichen Inquiry steht, am Ende einer Untersuchung, die Zweifel ausräumt, Widersprüche beseitigt, Zusammenhanglosigkeiten klärt, Entsprechungen ans Licht bringt oder was auch immer. Das Wort „Wahrheit" hat deshalb mit den Erfolgen zu tun, die am Ende einer Anstrengung stehen können. Es ähnelt in dieser Hinsicht Wörtern wie „Sieg" oder „Ziel". Wanderer, Ruderer, Radfahrer, Autofahrer,– sie alle können „ihr Ziel" erreichen und wenn sie sich in einer Wettkampfsituation befinden, können sie ihr Ziel als erste erreichen und deshalb „einen Sieg" erringen. Was ein Ziel oder Sieg ist, wird jedoch nur relativ zu einer bestimmten Praktik verständlich. Gleiches gilt für Wahrheit.

Wahrheitspraktiken gibt es nicht nur im existentiell alltäglichen Sinne, sondern auch – und vor allem – in professionellen Kontexten. Chemiker wenden den Lackmustest an, um zu entscheiden, ob es wahr ist, dass eine Flüssigkeit Säure enthält. Pathologen folgen bestimmten Praktiken, um herauszufinden, ob es wahr ist, dass jemand an Krebs leidet, bspw. indem sie die Biopsie eines Tumors unter dem Mikroskop untersuchen. Ein Journalist folgt einer bestimmten Praktik, um herauszufinden, ob an einem Gerücht etwas dran ist, ob es der Wahrheit entspricht, etwa indem er zwei unabhängige Quellen daraufhin befragt, ob sie Kenntnis von dem im Gerücht geschilderten Sachverhalt haben und ihn bestätigen können. Diese professionellen Wahrheitspraktiken sind ebenfalls als Suchbewegungen beschreibbar: Die Chemikerin sucht nach der Säure, der Pathologe nach Krebszellen, der Journalist nach Konsens zwischen voneinander unabhängigen Quellen. All diese Wahrheitspraktiken funktionieren und werden tradiert, weil sie funktionieren oder sie werden verändert und verbessert, wenn sie nicht so wie erwartet funktionieren. Von ihnen allen gilt, dass sie funktionieren, weil sie sich als einzelne bewährt haben und nicht, weil sie mit einer allgemeinen philosophischen Wahrheitstheorie übereinstimmen würden oder gar durch sie begründet worden wären. Das sind sie nicht und das müssen sie auch nicht.

Hier liegen die Verhältnisse ähnlich wie in der Medizin. In ihr gibt es verschiedene Praktiken, um die Gesundheit einer Patientin wiederherzustellen: Es gibt die Praxis einen Bruch zu schienen, damit die Knochen wieder grade zusammenwachsen können, eine Wun¬de durch Klammern zu verschließen, damit aus ihr nicht weiter Blut rinnen kann, die Praxis der Verordnung einer Schonkost, um eine Entzündung der Magenschleimhaut abklingen zu lassen, die der Bekämpfung einer Infektion durch Antibiotika, der Bestrahlung eines Tumors usw. All diese Praktiken werden befolgt und tradiert, weil sie sich als Verfahren der Wiederherstellung der Gesundheit bewährt haben bzw. sie werden variiert, wenn sie sich nicht mehr bewähren. Sie werden nicht verfolgt, weil sie einem allgemeinen philosophischen Begriff der Gesundheit oder der Krankheit entsprechen. Solche Begriffe gibt es ja. Viktor von Weizsäcker hat beispielsweise eine allgemeine Krankheitslehre, eine Pathosophie entwickelt. Doch die eben genannten und die unzähligen anderen Gesundheitspraktiken der Ärzte sind auf diese Pathosophie so wenig angewiesen wie diejenigen, die in ihrem Leben oder ihrem Beruf bestimmte Wahrheitspraktiken verfolgen, auf philosophische Wahrheitstheorien angewiesen sind.

Der Begriff der Wahrheit ist also einerseits ein umgangssprachlicher Begriff, der, wie die meisten umgangssprachlichen Begriffe auch, in Fachsprachen und professionellen Praktiken eine Rolle spielt und als solcher sowohl auf die Begriffe der Unwahrheit und der Lüge, des Irrtums, der Täuschung und des Betrugs, wie auch auf ganz verschiedene Verfahren der professionellen Suche nach Ursachen, Zusammenhängen, Entsprechungen etc. bezogen ist, Praktiken, deren Erfolg mit dem Begriff der Wahrheit in Zusammenhang gebracht werden. Die negativen Phänomene, in denen es an Wahrheit fehlt oder sie verletzt wird, sind ebenso mannigfaltig wie diese Suchpraktiken.

Die Philosophie hat sich in ihrer Diskussion von Wahrheitstheorien jedoch sehr wenig bis gar nicht um das negative Umfeld des Wahrheitsbegriffs und die genannten konkreten Suchpraktiken in ihrer Vielfalt gekümmert. Auch die vielen nicht-philosophischen positiven Verständnisse von Wahrheit des so genannten „common sense" wurden außer von dem norwegischen Philosophen Arne Naess, in der Philosophie meines Wissens nie empirisch untersucht. Vielmehr wird ein vermeintlich einheitliches Wahrheitsverständnis einfach postuliert. Philosophen sagen dann, der so genannte „Mann auf der Straße" glaube angeblich an die Korrespondenztheorie der Wahrheit, obwohl doch die Kohärenztheorie die eigentlich plausible sei oder er glaube an einen direkten Realismus und die Offenbarungstheorie der Wahrheit, obwohl doch der Konstruktivismus und die Beweistheorie der Wahrheit vermeintlich die richtigen sind usw. Frauen oder Männer auf der Straße werden, anders als bei Naess, nicht befragt, um solche Behauptungen aufzustellen. Diese philosophischen Argumentationsstrategien sind einerseits verbreitet, andererseits, vom Standpunkt der empirischen Sozialforschung, haltlos. Tatsächlich zeigt sich, wie Naess herausgefunden hat, eine Vielfalt von Wahrheitsverständnissen im alltäglichen Denken, die der Vielfalt der Wahrheitspraktiken entspricht.

Descartes' Architektonik und die Folgen

Nun hat es sich in der philosophischen Theoriegeschichte zu Erkenntnis und Wahrheit ergeben, dass die so genannte absolute Wahrheit als unerschütterlicher Gewissheit, wie sie uns im Cartesischen Cogito-Argument als Anspruch begegnet, als etwas angesehen wird, von dem man sich zu verabschieden hat. Das Cartesische Argument selbst ist komplex. Descartes stellt zunächst fest, dass niemand daran zweifeln kann, dass er als denkendes Wesen existiert. Denn sobald er an diesem Sachverhalt zu zweifeln versucht, denkt er ja und muss deshalb existieren. Weil zweitens Gott nach Descartes kein böser Dämon ist, flößt er uns nicht da absolute Gewissheit ein, wo wir tatsächlich mit einer Falschheit konfrontiert werden. Und schließlich glaubte Descartes drittens, dass sich von einer absoluten Gewissheit und unerschütterlichen Wahrheit ausgehend architektonisch ein Gebäude des wissenschaftlichen Wissens errichten ließe, in dem man, wenn man nur der richtigen Methode folgt, die er in seinem Discours de la methode und den Regulae ad Directionem Ingenii darzulegen versucht hat, von der einen Grundgewissheit und -wahrheit zu weiteren Wahrheiten gelange.

Es ist schwer zu sagen, was für ein Text die Cartesischen Meditationen, die die erste Ursprungsgewissheit präsentieren wollen, eigentlich sind. Sofern man sie als ein Exerzitium in methodischem Zweifel ansieht, ist ihr existentieller Charakter nicht allzu ernst. Descartes leidet nicht wirklich unter Ungewissheit oder einem Mangel an Wahrheit und sucht dieses Leiden zu lindern. Vielmehr macht er sich methodisch die Gedankenfigur des Zweifels zunutze, um vor dem Hintergrund seiner metaphorischen Vorstellung von einer Architektonik des Wissens im Unbezweifelbaren ein vermeintliches Fundament allen Wissens ausfindig machen zu können. Auch Descartes sucht also etwas, geht einer Inquiry nach: die Basis allen Wissens und glaubt diese auch zu finden.

All die Überzeugungen, die er in diesem Zusammenhang aufgeführt hat, haben sich jedoch als letztlich nicht haltbar erwiesen. Vermutlich gibt es keine absolute Gewissheit, und wenn es sie gibt, dann ist sie kaum Kriterium von Wahrheit überhaupt. Auch kann man von der Tatsache des Zweifels nicht darauf schließen, dass ich als denkendes Einzelwesen existiere, sondern nur darauf, dass es Gedanken gibt, in diesem Fall solche des Zweifels. Und auf keinen Fall scheint meines Erachtens das Wissen eine Art Gebäude zu bilden, das auf einem unerschütterlichen Fundament errichtet worden sein muss und das ohne ein solches Fundament gar nicht weiterentwickelt werden könnte.

Es wäre, wenn man schon nach Metaphern suchen will, um die Totalität des menschlichen Wissens zu charakterisieren, besser, das Wissen mit einer Sammlung von Überzeugungen und Praktiken zu vergleichen, mit einem (Wunder-) Kabinett und nicht mit einem Gebäude; mit einer Sammlung, die sich so verhält, wie die Gene und Verhaltensweisen in einer Tierpopulation, in der manches reproduziert wird und anderes nicht, in der in jedem Moment ihrer Existenz aber der Eindruck vorherrscht, alles sei sehr gut aufeinander abgestimmt, denn sonst würden die betrachteten Organismen ja gar nicht überleben. (Dieses weniger strenge Bild des Wissens als einer Sammlung oder Population von Ideen und Praktiken stammt von Stephen Toulmin.)

Es kann sein, dass alles, was sich Descartes über Evidenz, Wahrheit und mit seiner Gebäude-Metapher über das Wissen aus¬gedacht hat, nicht stimmt. Vermutlich hat Descartes mit seinem unerschütterlichen Fundament allen Wissens etwas gesucht, was kein Mensch braucht. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Menschen vor und nach Descartes an Unwahrheiten gelitten und nach Wahrheiten gesucht haben, mit und ohne sein Fundament. Das heißt: Das lebensweltliche, alltägliche Leiden an Unwahrheiten wie auch die nicht wissenschaftliche und die wissenschaftliche Suche nach Wahrheiten sind unabhängig von philosophischen Vorstellungen über die Syste¬matik wissenschaftlichen Wissens und ihrer vermeintlichen Fundierung in absoluter Gewissheit. Das wissenschaftliche und philosophische Streben nach Wissen und Wahrheit mag man als eine Fortsetzung des alltäglichen nicht wissenschaftlichen und nicht philosophischen Strebens nach Wissen und Wahrheit ansehen. Doch die Schwierigkeiten, die in einer einzelnen Wissenschaft entstehen, beispielsweise in der der Mathematik durch die Einsichten von Kurt Gödel über die Unmöglichkeit die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems in diesem selbst zu garantieren oder den philosophischen Zweifel an der Erreichbarkeit einer absoluten Gewissheit à la Descartes müssen nicht auf diese Alltagspraktiken zurückwirken.

Die Metapher der Architektonik des Wissens, die Descartes etabliert hat, war ungeheuer folgenreich. Kant hat sie am Schluss seiner Kritik der reinen Vernunft weiter ausgebaut. Dadurch ist bei einigen Philosophinnen und Philosophen ein merkwürdiges Selbstverständnis entstanden: So wie manch ein Jäger, der durch die Wälder streift und ab und zu ein Reh oder Wildschwein erlegt, von sich glaubt, er sei der Erhalter des natürlichen Zusammenhangs, durch den er sich bewegt, weil er ja die kranken Tiere tötet und die jungen Bäume vor Verbiss durch zu viel Wild schützt – als hätte der Wald auf die Jäger gewartet, um sich zu erhalten – ebenso scheint es mir, als glaubten manche philosophischen Erkenntnis- und Wahrheitstheoretiker, sie seien die Architekten des menschlichen Wissenssystems, als hätte dieses Wissenssystem auf die Philosophie gewartet, damit es sich strukturieren und entwickeln kann. Als dann der erkenntnistheoretische Fundamentalismus und die Idee absoluter Gewissheit philosophisch aus der Mode kamen, erschien es diesen Philosophen folgerichtig so, als sei das ganze Wissenssystem gefährdet, so wie ein Gebäude einsturzgefährdet wird, wenn sein Fundament kollabiert. Doch so wenig die Wälder eingehen, wenn menschliche Jäger verschwinden, ebenso wenig ist das menschliche Wissenssystem zusammengebrochen, nachdem die Cartesisch-Kantische Architekturmetapher und der Gedanke absoluter Gewissheit als Wahrheitskriterium ihren Charme unter den Philosophen eingebüßt hatten. Doch wenn das ganze Wissenssystem zusammenstürzt, weil sein Fundament eingebrochen ist, dann, so meinten einige im Anschluss an Nietzsche, gäbe es gar keine Wahrheit mehr, dann erwiesen sich alle bisherigen Wahrheiten als Illusion, in der Luft hängende subjektive Interpretationen und Konstruktion.

All diese Katastrophenmeldungen beruhten auf einer fatalen Selbstüberschätzung der kulturellen Relevanz philosophischer Metareflexionen für die Erkenntnis- und Wahrheitspraktiken der Menschen. Die Wahrheitssuche der Menschen ging weiter, auch nach der Verabschiedung des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus in der Philosophie. Der Lackmustest funktionierte weiterhin, die Pathologen blickten immer noch auf Tumorzellen durch ihre Mikroskope, die Richter entschieden weiterhin aufgrund von Indizien über die Schuld oder Unschuld von Angeklagten. Nichts von alledem war haltlos geworden. Immer noch wollten Menschen nicht angelogen werden und möglichst mit sich selbst in Denken und Handeln übereinstimmen. Die Wahrheitspraktiken trugen sich selbst, wenn man so sagen will und sie haben sich selbst weitergetragen, sofern sie entsprechend gepflegt wurden, was auch immer in der philosophischen Diskussion über Wahrheit und Gewissheit geschah.

Zu bestreiten, dass Wahrheit allein als eine Eigenschaft von Aussagen begriffen werden könne, dass sie eine Art Zielvorstellung für eine Reihe von Praktiken darstellt, bedeutet also nicht einem „wahrheitstheoretischen Nihilismus" das Wort zu reden. Weder durch ein solches Wahrheitsverständnis, noch durch die Absage an die Vorstellung absoluter Wahrheiten und Gewissheiten ist das menschliche Wissen und das Streben nach Wahrheiten gefährdet worden.

Postmoderne

Doch dieses pragmatistische Wahrheitsverständnis spielte für Jean Francois Lyotard keine Rolle als er von einem ursprünglich narrativen Wissen sprach, am Beispiel des Kopernikus mit Hilfe von Adäquations- und Konsenstheorien der Wahrheit das wissenschaftliche Wissen zu rekonstruieren versuchte. Er behauptete, es habe einem „Sinnverlust" des Wissens in der „Postmoderne" durch den Zusammenbruch der großen Meta-Narrationen für das wissenschaftliche Wissen gegeben. Lyotard ging bei diesen Diagnosen von einer angeblichen ursprünglichen Einheit von philosophischen Wahrheitstheorien, wissenschaftlichem Wissen und nicht wissenschaftlicher Wahrheitssuche aus, einer Einheit, die durch so genannte große Erzählungen zusammengehalten worden sein sollte. Doch so etwas hat es nie gegeben. Nur die philosophische Konstruktion einer ursprünglichen Einheit des Wissens und von damit vermeintlich verknüpften einheitlichen Wahrheitskonzeptionen erlaubt es, die Diagnose zu stellen, dass die „große Erzählung ... ihre Glaubwürdigkeit verloren" habe.

Es ist mit den Diagnosen der Postmoderne zu Wissen und Wahrheit so wie mit dem Paradies: Wenn es nie einen Zustand menschlicher Unschuld gegeben hat, dann sind die Menschen auch nicht irgendwann auf die Abwege der Sünde geraten, sondern immer schon sowohl einander schädigende wie einander unterstützende Wesen gewesen. Die Redeweise von der großen Erzählung ist ein der Paradiesvorstellung vergleichbarer Ursprungsmythos. Das alltägliche, einzelwissenschaftliche und philosophische Wahrheitssuche umspannende und legitimierende Meta-System des narrativen Wissens gab es nur als philosophisches Phantasma in den Köpfen der Produzenten der großen Systeme des Deutschen Idealismus wie Hegels Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften. Große Erzählungen wie die Kantische, Hegelsche oder Marxsche über die Vernunft, den Geist oder das Kapital, die unterschiedliche, wenn auch nie alle kulturellen Bereiche betrafen, sind bis heute nicht aus der Geisteswelt verschwunden. Beispielsweise haben die Erzählungen über die Konkurrenz auf dem Markt und die entsprechenden spieltheoretischen Narrative heute eine ähnlich verbreitete legitimierende Funktion, auch wenn sie nicht in der Philosophie oder Religion als universale Legitimationsdiskurse beheimatet sind, sondern in den Wirtschaftswissenschaften.

Die Vergangenheit war nicht so „schön" einheitlich wie es uns die Erzählung von der großen Erzählung weismachen will, sondern sie war in der Vielfalt der Wahrheitspraktiken immer schon viel bunter oder, wenn man will, viel postmoderner als uns die Theoretiker der Postmoderne glauben machen wollen. Das haben vermutlich diejenigen, die historisch genauer hingeschaut haben, auch immer schon gewusst. Und die Gegenwart ist lange nicht so zersplittert, wie es uns postmoderne Diagnostiker nahelegen wollten, sondern von großen Erzählungen wie denen vom alles regulierenden Markt oder dem allgemeinen Vormarsch der Menschenrechte durchzogen. Der Hauptunterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit ist, dass wir die Vielfalt der Phänomene und Theorien in der Gegenwart schärfer wahrnehmen, weil wir noch nicht wissen, was sich aus ihr historisch in der Überlieferung wird erhalten können. Deshalb kommen Gegenwarten ihren „Bewohnern" notorisch unübersichtlich vor. Aus der Vergangenheit ist dagegen das meiste, was in ihr als ehemaliger Gegenwart sichtbar war, verschwunden, in Vergessenheit geraten. Deshalb erscheint sie uns zwangsläufig einfacher und einheitlicher.

Es gab die großen Erzählungen vor allem in der Philosophie Hegels, in seiner grandiosen Phänomenologie des Geistes und in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Hegel war der Großmeister in der Verschmelzung von Philosophie- und Kulturgeschichte. Als sich die französische Philosophie vom Einfluss Hegels unter anderem durch Lyotard zu befreien suchte, meinte sie sich nicht von einer bestimmten Spielart philosophischer Systematik zu verabschieden, sondern sie sah auch einen kulturellen Zwangszusammenhang zusammenbrechen. Denn Lyotard betrachtete die großen Erzählungen als Erscheinungsformen der Moderne, die eine ursprüngliche Vielfalt von Sprachspielen, Denk- und Lebensformen, wie er im Anschluss an den späten Wittgenstein und in Übereinstimmung mit Paul Feyerabend meinte, unterdrückten (oder gar, wie Feyerabend meinte, „vernichteten").

Mit dem Ende der Moderne war es auch vorbei mit dieser Unterdrückung. Die Postmoderne erschien aus dieser Perspektive als eine Befreiung der Vielfalt und eine Erneuerung der Möglichkeit des Widerstreits zwischen den Elementen dieser Vielfalt in den Augen von Lyotard.

Es ist jedoch keine Spezialität der postmodernen Zeitdiagnosen einen Ursprungszustand zu konstruieren und von dieser Konstruktion aus vermeintliche Brüche in der Gegenwart zu diagnostizieren. Heideggers Seinsvergessenheit oder Spenglers Verlust der euklidischen Anschaulichkeit sind vergleichbare Konstruktionen, die die Postmodernisten teilweise auch direkt beerbt haben. Der Gestus der postmodernen Zeitdiagnose: Wo kommen wir her und wo stehen wir jetzt, ist der Gestus der Heideggerschen Philosophie und des Spenglerschen Kulturpessimismus.

Aufklärung und Postmoderne

In seinem berühmten Traktat Das postmoderne Wissen handelt Lyotard jedoch nicht allein über vermeintlichen Zerfall der großen Meta-Erzählungen und der Zerstreuung des Wissens, sondern er identifiziert dort auch die Moderne mit der Aufklärung. Wenn Sender und Empfänger einer Botschaft zu einem Konsens über den Wahrheitswert einer Aussage kommen, weil sie gut begründet ist, dann handeln sie nach Lyotard im Geiste der „Erzählung der Aufklärung". Diese Erzählung berichtet davon, dass Menschen in der Wissenschaft nach Wahrheit streben und ein ethisch politisches Ziel verfolgen: den universellen Frieden und die Emanzipation aus Unfreiheiten. Institutionen des Wissens und des Rechts mussten sich nach Lyotard in der Aufklärung durch diese „Metaerzählung" legitimieren. Wenn die große Metaerzählung der Aufklärung wegfällt, dann fällt vermeintlicherweise auch die Legitimation des Strebens nach Wissen, Recht und Emanzipation weg. Was bleibt, sei das Streben nach Stabilisierung von Machtstrukturen.

Auch diese Diagnose kann angezweifelt werden. Denn Menschen litten und leiden nicht nur unter Unwahrheiten, unter Unrecht und Grausamkeiten vor und nach dem 17. und 18. Jahrhundert, der Epoche der zweiten Aufklärung nach der ersten Sokratischen, sondern sie leiden auch weiterhin an diesen Unliebsamkeiten. Die Aufklärung hat dieses Leiden thematisiert und philosophisch reflektiert, aber sie hat es nicht erfunden, sondern intellektuell zu bekämpfen versucht, indem sie Gründe produzierte, warum politische Täuschungsmanöver, Unterdrückungsstrategien, Grausamkeiten, Unfreiheiten und Unrecht bekämpft werden müssen. Ebenso wie Menschen im Alltag oder Journalisten, Juristen und Mediziner in ihren Professionen nicht aufgehört haben unter Unwahrheiten zu leiden und bei ihrer Arbeit darauf angewiesen blieben, nach Wahrheiten zu suchen, auch nachdem klar wurde, dass es keine Cartesische absolute Gewissheit gibt und keine Wahrheit, die nicht unter bestimmten historischen Bedingungen eingesehen wird, ebenso wenig verschwand das Leiden an Unrecht und Grausamkeit und das Streben nach Recht, Friedfertigkeit und Freiheit als die philosophischen Diskurse, die dieses Streben einst legitimiert haben, an Überzeugungskraft verloren.

Die Leiden und Bedürfnisse der Menschen sind das eine, sind, „harte Wirklichkeit". Philosophische Legitimationsdiskurse des Kam¬pfes gegen diese Leiden sind das andere. So wie in der Postmoderne ständig die Repräsentation mit dem Repräsentierten verwechselt worden ist, so ist in ihr das Reflektierte mit der Reflexion vertauscht worden. Die Bewegung der Aufklärung ist philosophisch reflektiert und befeuert worden. Doch sie ist als Bewegung keine rein reflexiv philosophische Veranstaltung gewesen, sondern eine, die das politische System, das Rechtssystem, das Bildungssystem von Gesellschaften betraf, die die absolutistische Monarchie in Frage stellte, die Gewaltenteilung einführte und die Alphabetisierung der allgemeinen Bevölkerung vorantrieb. Doch die Helden postmoderner B-Movies wie Baudrillard verwechselten nicht nur ständig die Repräsentation mit dem Repräsentierten, sondern auch das, was philosophisch und historisch reflektiert wird mit der Reflexion. Die kulturwissenschaftlichen Autoren, die den medientheoretischen wie machthistorischen Einsichten Baudrillards und Foucaults nachfolgen wollten, meinten gelegentlich, weil es historische Bedingungen der Beschreibung von Leid oder Erkenntnissen gäbe, dass das Leid und die Erkenntnisgegenstände selbst historisch konstruiert seien. Alle Zeitskalen ignorierend, die in den entsprechenden wissenschaftlichen Wahrheitspraktiken über die Gegenstände der Erkenntnis implizit mitbehauptet werden, kam es zu einem Konstruktivismus, der so absurde idealistische Behauptungen wie die aufstellte, dass beispielsweise der Nordpol von August Petermann erfunden oder die Bakterien von Robert Koch konstruiert worden seien.

Lange vor Lyotard und der Postmoderne haben William James und John Dewey eingesehen, dass philosophische Wahrheits- und Erkenntnistheorien der tatsächlichen Vielfalt und sozialen Wirklichkeit der Phänomene der Wahrheitssuche und Wahrheitssicherung, des Erkenntnisstrebens und der Erkenntniserlangung nicht gerecht werden. Doch im Unterschied zum postmodernen Denken hat sich die pragmatistische Philosophie nie auf eine zeitdiagnostische Haltung beschränkt, sondern ist eine teilnehmende Veranstaltung gewesen: Der Pragmatismus wollte immer auch einen Beitrag zur Entwicklung der Kultur liefern über die er nachdachte, an der er glaubte etwas verstanden zu haben.

Für Pragmatisten bezeichnet Wahrheit das erfolgreiche Ende eines Such- oder Untersuchungsprozesses, an dem Zweifel, Zusammenhanglosigkeiten und Mangel an Entsprechungen verschwinden. Die Praktiken dieser Such- und Untersuchungsprozesse sind selbst einem Wandel unterworfen. Es steht der Philosophie gut an, die Struktur dieser Praktiken und die Tatsachen ihrer Wandlungen nachzuvollziehen, um zu verstehen, was Erkenntnis und Wahrheit in unterschiedlichen Lebensbereichen und Wissenschaften zu unterschiedlichen Zeiten eigentlich bedeuten. Ein solches historisch informiertes Reflexionswissen hat eine wichtige Funktion. Es macht denen, die bestimmte Erkenntnisstrategien verfolgen und bestimmte Wahrheiten suchen, selbst deutlicher, was sie eigentlich gerade tun. Doch die Philosophie kann mit Erkenntnis- und Wahrheitstheorien Menschen nicht die Ziele ihrer Such- und Untersuchungsbemühungen vorgeben. Diese ergeben sich vielmehr aus den entsprechenden Praktiken und der Lebenssituation, in der Menschen jeweils sind, von selbst. Die Philosophie kann diese Lebenssituationen nicht steuern, es sei denn, sie will sich wieder der Phantasie hingeben, Philosophenkönige zu produzieren.

Politische Konsequenzen

Die historische Fehldiagnose, dass es da, wo es kein absolutes Wissensfundament und kein unerschütterliches Wahrheitskriterium gibt, das für alle Wahrheiten gilt, gleich überhaupt keine Wahrheiten mehr gäbe – eine Fehldiagnose, die seit Nietzsche durch die Köpfe geistert – hat allerdings politische Konsequenzen gehabt. Menschen wollten noch nie von ihren Regierungen belogen werden, wurden es aber vermutlich immer und werden es wohl auch in Zukunft.

Die Lehre, dass „die Menschen" belogen werden müssen, weil sie die Wahrheit nicht verstehen oder nicht ertragen können, ist eine alte, die den philosophischen Elitismus seit Platons Staat durchzieht. In diesem Buch spricht Platon von der „edlen Täuschung", die Herrscher anwenden müssen, um im ganzen Staat günstige Effekte zu bewirken. Und auch der Aufklärer Spinoza glaubte, dass bei den meisten Menschen die Vernunft nicht ausreicht, um zwischen ihnen ein Band zu stiften, das sie friedlich miteinander zusammenleben lässt. Sie sind, so meinte er, auf die Bilder der Religion angewiesen, die die Obrigkeit zu verwalten und zu verbreiten habe und die ihre Einbildungskraft so anspricht, dass sie tatsächlich ihren Nächsten zu lieben versuchen und sich mühen, ihm zu helfen. Je nach ihrer geistigen Fassungskraft werden sie dabei entweder durch die einen oder die anderen Bilder angeleitet. Der Wahrheit, wie sie die Vernunft einsieht, entsprechen all diese Bilder freilich nicht. Insofern ist die imaginative Täuschung durch die Religion auch für Spinoza eine Notwendigkeit, die sich aus den zu geringen rationalen Vermögen der meisten Menschen im Staat ergibt.

Die politischen Folgen der postmodernen Fehldiagnose, dass es gar keine Wahrheiten gebe, sind jedoch nicht einfach die Fortsetzung des philosophischen Elitismus. Ein Teil der Aufklärer glaubte ja sehr wohl, dass durch Bildungsprogramme und Aufrufe zur Mündigkeit auch die Mehrheit der Menschen in die Lage versetzt werden könne, einzusehen, welche Regierungsmaßnahmen vernünftigerweise die richtigen sind. Philosophen wie Lyotard haben nicht an der Bildungsfähigkeit der Mehrheit gezweifelt, sondern an der Fortsetzbarkeit des Emanzipationsprogramms, dessen Teil es war und das darauf abzielte, Menschen aus der Unmündigkeit, dem politischen Paternalismus zu befreien, der mit dem Gedanken verbunden war, dass sie gar nicht in Lage sind, einzusehen, was gut für sie als einzelne und gut für die Gemeinschaft ist. Denn auch im politischen Elitismus und Paternalismus gibt es ja noch Einsichten in die Wahrheit, die die Täuschung der Vielen durch die Mächtigen als eine letztlich wohlwollende Veranstaltung legitimieren. Für Lyotard geht es dagegen darum, wer die Macht hat, etwas zu Wissen zu erklären. Macht nicht Wahrheit garantiert hier Wissen, weil es Wahrheit „als solche" ja in der Lyotardschen Perspektive gar nicht gibt.

Doch wenn es gar keine Wahrheiten mehr gibt, dann entfällt natürlich auch die politische Lüge, egal ob sie vermeintlich wohlmeinend ist oder nur zum Zwecke der Machthaltung der Regierenden geäußert wird. Der Sachverhalt, dass Menschen von Machthabern getäuscht wurden, damit sich diese Machthaber an der Macht halten können, kann, wenn er ans Licht kommt, nur da politisch gegen die Mächtigen gewandt werden, wo es den Unterschied zwischen Täuschung und Wahrheit noch gibt. Wenn dieser bestritten wird, können die so angeklagten Mächtigen sagen: „Ja wisst ihr Naivlinge denn nicht, dass es gar keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung gibt, dass alles Konstruktion ist? Seid ihr von gestern und glaubt noch an die absolute Wahrheit und die Aufklärung? Es ist doch vielmehr so, seitdem die philosophische Theorie der Erkenntnis und der Wahrheit fortgeschritten ist: Ihr habt eure Konstruktionen und wir unsere. Und wenn wir Euch eure Konstruktionen lassen, müsst ihr uns auch unsere lassen, ihr seid doch schließlich tolerante Pluralisten, oder? Ihr habt eure Fakten konstruiert und wir haben unsere alternativen Fakten konstruiert."

Dieses Spiel kann man natürlich nur in einem sehr begrenzten politischen Rahmen in einem Staat spielen. Wer die Briefe des Finanzamtes, so wurde kürzlich bemerkt, damit beantwortet, dass er sich ein anderes Einkommen konstruiert und deshalb von alternativen Fakten zu seiner Steuerpflicht ausgehe und darauf hinweist, dass Zahlen doch überhaupt bloße Geisteskonstrukte seien und es über sie keine handfesten Wahrheiten gäbe, dem kann man nur viel Glück wünschen. Die Wahrheitspraktiken der Finanzämter sind nämlich von den Fortschritten der Postmoderne ebenso unberührt geblieben wie die der Staatsanwaltschaften. Aber die politischen Lügen, die dem Machterhalt dienen, können, seitdem das Vokabular der Postmoderne bei Leuten wie Steve Bannon angekommen ist, euphemistisch als „Konstruktionen" bezeichnet, kaschiert und auf diese Weise gegen Kritik immunisiert werden.

Natürlich hat Lyotard so wenig Steve Bannon hervorgebracht wie Nietzsche mit seinen Reden von der „blonden Bestie" den Nationalsozialismus, auch wenn sich Bannon postmoderner und die Nazis Nietzscheanischer Gedanken bedient haben. Philosophien können in politischen Ideologien missbraucht werden. Doch sofern die amerikanische Demokratie gegenwärtig durch plutokratische und autokratische Tendenzen gefährdet ist und die Ideale der Aufklärung auch in den westlichen Demokratien auf dem Spiel zu stehen scheinen, hat eine postmoderne Philosophie dieser Tendenz nichts entgegenzusetzen, weil sie die Aufklärung ja schon längst theoretisch verabschiedet hat, bevor diese wirklich politisch in die Bredouille geriet.

Die philosophischen Theorien der Erkenntnis und der Wahrheit sind Manifestationen einer sekundären Reflexionsanstrengung, die eine gewisse Wirkung auf die primären Praktiken, um die es in dieser Reflexion geht, sehr wohl entfalten können, so wie eine Kamera, die als Einparkhilfe neuerdings an der Rückseite von PKWs angebracht ist, einen Einfluss auf das Fahrverhalten des Fahrers haben kann. Solange wir es aber nicht mit einem selbstfahrenden Vehikel zu tun haben, steuert die Kamera nicht das Auto, sondern immer noch der Fahrer. Ebenso lenken die Philosophen nicht die vielfältigen Wahrheitspraktiken der Menschheit, sondern diese entwickeln sich von selbst. Eine aufgeklärte Philosophie sollte diese Selbstentwicklung von Wahrheitspraktiken fördern und nicht unter die Fuchtel einer allgemeinen Erkenntnis- und Wahrheitstheorie stellen wollen. Den Kantischen Aufruf, man solle sich seines eigenen Verstandes bedienen, kann man pragmatistisch so umdeuten: Habe Mut Deine Wahrheitspraktiken zu entwickeln und zu kultivieren. Wie alle Praktiken werden auch diese soziale sein, weshalb die pragmatistische Wahrheit zwar pluralistisch, jedoch nicht subjektiv und privat ist. Es sind immer viele, die einer Wahrheitspraktik folgen und sie verbessern, bzw. verändern und die das potentiell positive Ergebnis einer Suchbewegung als „die Wahrheit" jeweils anerkennen.

Die Bewegung der Aufklärung hatte auch damit zu tun, dass einzelnen Menschen zugetraut werden sollte, selbst nachzudenken, selbst nach Wahrheiten zu suchen, möglichst auch an der Wissenschaft teilzunehmen und ihr Leben selbst zu gestalten. Nichts lag Aufklärern wie Kant ferner, als alle dazu zu verdonnern, die Wahrheiten einer großen Erzählung einfach unbefragt zu schlucken. Schon Platon schien die ewige Referenz auf Homer, dessen große Erzählungen die Kultur seiner Zeit beherrschten, auf die Nerven zu gehen, und er forderte mit der Stimme des Sokrates die Menschen dazu auf, einmal selbst darüber nachzudenken, was eine fromme Verhaltensweise in einer bestimmten Situation oder das gute Leben sein könnte, statt sich zu fragen, was wohl Achill oder Hektor an ihrer Stelle gemacht hätten.

Die Bewegung der Aufklärung war als ein Aufruf zur Mündigkeit nicht Werbung für das Abonnement auf eine große Erzählung. Insofern kann man nur froh sein, dass die Rede von der großen Erzählung selbst eine Fiktion ist. Doch ist deshalb die Aufklärung nicht vorbei. Sie kann als kulturelle Bewegung wiederbelebt werden. Ja, angesichts der Bedrohung der aufklärerischen Kultur und vor allem der Weiterführung ihrer Wahrheitspraktiken durch lügende und zur Autokratie neigende Politiker wie Donald Trump sind zeitdiagnostisch postmoderne Grabreden auf die Aufklärung sehr gefährlich. Hier verhalten sich die betreffenden Zeitdiagnostiker wie größenwahnsinnige Trapper, die den Brand in einem Wald nicht löschen helfen wollen, weil sie die Bäume, seitdem sie den Wald selbst nicht mehr betreten, ohnehin dem Untergang anheimgegeben sehen.

UNSER AUTOR:

Michael Hampe ist Professor für Philosophie an der ETH Zürich.

Von der Redaktion gekürzte Fassung eines Vortrages auf der Tagung „Deutungsmacht von Zeitdiagnosen" an der Universität Rostock am 25. Januar 2018. Eine stark überarbeitete Fassung erscheint unter dem Titel „Wahrheitspraktiken" in Heiner Hastedt (Hrsg.): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld: transcript 2019, S. 49-66.

Michael Hampe führt seine Überlegungen zu Wahrheit und Aufklärung in seinem Buch Die Dritte Aufklärung (96 S., € 20.—, 2018, Nicolai, Berlin weiter aus.