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FORSCHUNG

Wissenschaftstheorie: Thomas Kuhns Wandlungen


WISSENSCHAFTSTHEORIE

Die Wandlungen von Thomas Kuhns Inkommensurabilitätstheorie


Wenn Joseph Priestley auf seine Aussage, bei der Verbrennung von Metallen entweiche Phlogiston in die Luft, gefragt worden wäre: „Womit begründest Du dies?“, hätte er sich auf die chemische Theorie seiner Zeit berufen können. Denn diese konnte die Aussage über die mit Phlogiston angereicherte Luft durchaus erklären. Der amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn (1922-1996) war von der konsistenten Begründbarkeit einer nach heutigem Wissensstand unsinnigen und falschen Behauptung dermaßen beeindruckt, dass er begann, systematisch historische Beispiele dafür zu sammeln. Vor deren Hintergrund plädierte er in der Folge für einen neuen Ansatz in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Danach vollzieht sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht linear, sondern ist eine Geschichte mit Brüchen. Die Bruchstellen belegte Kuhn mit dem Begriff der Inkommensurabilität. Wissenschaftstheoretische Inkommensurabilität besagt, dass zwischen zwei (historischen) Theorien keine Verbindung derart besteht, dass die eine auf die andere reduziert werden kann. Selbst wenn Behauptungen der einen Theorie zu Behauptungen der anderen Theorie im Gegensatz stehen, kann es keine endgültige Entscheidung darüber geben, welche Behauptung richtig und welche falsch ist. Wie Kathrin Hönig in ihrer Dissertation

Hönig, Kathrin: „Im Spiegel der Bedeutung“. Eine Studie über die Begründbarkeit des Relativismus. 228 S., kt., 2006, € 29.80, Königshausen und Neumann, Würzburg

ausführt, findet damit eine Relativierung auf die Methode statt. Die gegebenenfalls unterschiedlichen Ergebnisse zweier Theorien können nicht abschließend beurteilt werden, weil jede Methodologie gute Gründe für die Korrektheit der mit ihr erzielten Ergebnisse liefert. Dafür hat sich die Bezeichnung methodologische Inkommensurabilität eingebürgert. Bei der semantischen Inkommensurabilitätstheorie (bzw. argument from a rivalry) geht es hingegen verstärkt darum, dass Theorien mit ihren Aussagen um das (angeblich) gleiche Gegenstandsgebiet konkurrieren. Bedingt durch den historischen Wandel einer Theorie in einem Bereich kommt es, gemäß diesem wissenschaftsgeschichtlichem Ansatz, zu einem Bedeutungswandel der Begriffe einer Theorie. Zwei aufeinanderfolgende Theorien sind dann semantisch, d.h. hinsichtlich der Bedeutung ihres Vokabulars verschieden, sodass Ausdrücke oder Begriffe der einen Theorie entweder keine Entsprechung in der anderen finden (so gibt es beispielsweise für den Begriff ‚Phlogiston’ keine einfache Entsprechung in der Sauerstoffchemie) oder dass ihre (homophone) Übersetzung aufgrund des Bedeutungswandels andere (oder auf andere Weise) Entitäten denotiert. Die Theorien sind semantisch inkommensurabel, weil es keine dritte (als Vergleichsmaßstab dienende) „Sprache“ (d. h. Theorie) gibt, in welcher die Begriffe beider Theorien eine bestimmte Bedeutung und einen bestimmten Bezug erhalten würden.

Seit die Inkommensurabilitätsthese durch die Arbeiten von Kuhn und Feyerabend größeren Bekanntheitsgrad erreichte, wurde sie als eine These rezipiert, die einen Relativismus impliziert. Denn der Begriff des wissenschaftlichen Fortschritts wird damit in Frage gestellt. Die semantische Version impliziert einen Begriffsrelativismus oder kognitiven Realismus, bei dem die Welt, die Natur oder die Realität durch den Raster einer bestimmten Theorie erfasst wird, der die Auffassung von der Welt, der Natur oder der Realität prägt. Eine andere Theorie, so die relativistische Vermutung, prägt möglicherweise eine andere Auffassung. Allerdings ergibt sich aus der semantischen Inkommensurabilitätsthese ein Problem, auf das namentlich Donald Davidson hingewiesen hat: Es ist das Problem, wie sich aus der Teilnehmerperspektive mit dem je eigenen inkommensurablen Begriffsschema überhaupt etwas erschließen lässt: Ist ein Begriffsschema so etwas wie ein Gefängnis, das eine bestimmte Weltanschauung, aber auch nur diese, vermittelt?

Kathrin Hönig plädiert dafür, erkenntnistheoretische und semantische Fragen nicht strikt getrennt zu halten, sondern sie auf einem Kontinuum anzusiedeln. Dabei erweisen sich semantische Fragen letztlich als grundlegend. Auf der kommunikativen Ebene von Sprache kommt der Regress der Rahmensprachen an ein Ende. Die erkenntnistheoretische Begründungsfrage verschiebt sich nun hin zu Fragen nach Sinn und Bedeutung der für die Begründung verwendeten sprachlichen Ausdrücke. Für Hönig reicht es nicht, Inkommensurabilität festzustellen und dann den Relativismus zu proklamieren.

Für David Wong, Philosophieprofessor an der Duke-University, wird die Inkommensurabilitätshese erst dann richtig interessant, wenn Übersetzungsschwierigkeiten überwunden werden und man in der Lage ist, die Verschiedenartigkeit anderer Bezugssysteme, Weltanschauungen, Globaltheorien oder Begriffsschemata einzusehen. Inkommensurabilität sollte also für Wong im Unterschied zu Kuhn oder Davidson gerade nicht mit Unübersetzbarkeit gleichgesetzt werden. Wong nennt die Unterschiede „Unterschiede in der Vernünftigkeit“ bzw. „in der rationalen Akzeptierbarkeit“ einer Überzeugung. Er sieht die Vernünftigkeit einer Überzeugung in Abhängigkeit zu den Werten einer Kultur. Für Hönig lauert dahinter jedoch ein Zirkel, der auf einen Vernunftkonventionalismus verweist. Was vernünftig ist, wird durch die von der Kultur hochgehaltenen Werte festgelegt, die wiederum spiegeln, was als befriedigend gilt. Wong begründet die Unentscheidbarkeit in bezug auf fundamentale Werte und Normen damit, dass nicht klar ist, ob wir den semantischen Gehalt unserer eigenen Werte und Normen genügend bestimmt haben, was allein ein klares Urteil über andere erlauben würde.

Der mittlere Kuhn, der Kuhn in seiner zweiten Periode, rät den Vertretern unterschiedlicher Theorien, auf Übersetzungen auszuweichen: „Was die von einer Kommunikationsstörung Betroffenen tun können, ist, kurz gesagt, einander als Mitglieder verschiedener Sprachgemeinschaften erkennen und Übersetzer werden.“ Diese Verlagerung der Inkommensurabilitätsthese auf das Verhältnis zwischen den Sprachgemeinschaften hat Konsequenzen. Kuhn bezweifelt aber die Möglichkeit einer vollkommenen Übersetzung. Damit werden die Probleme, die Kuhn dazu geführt hatten, von Inkommensurabilität zu sprechen, „nur isoliert“, aber nicht gelöst. Denn die Übersetzungen beruhen auf bestimmten analytischen Hypothesen, die genauso gut auch anders ausfallen und dementsprechend zu anderen Hypothesen hätten führen können. In diesem Sinne ist eine jede Übersetzung unbestimmt. Der Übersetzer kann nie sicher sein, ob er nicht vielleicht mit anderen analytischen Hypothesen eine andere, ebenso gründliche und konsistente Wiedergabe der Theorie gefunden hätte. Zum einen will der mittlere Kuhn mit der Einführung der Möglichkeit der Übersetzung zwar der von der Kritik beklagten Irrationalität die Grundlage entziehen. Auf der anderen Seite aber wird die Inkommensurabilität nun als Relation zwischen zwei Sprachen etabliert.

Beim späten Kuhn, beim Kuhn der dritten Periode, ist Übersetzung keine annehmbare Möglichkeit mehr. Stattdessen wird explizit Inkommensurabilität als die Beziehung der Unübersetzbarkeit zwischen den Teilbereichen einer Theoriesprache und demjenigen einer anderen definiert. Damit verschwinden Revolutionen im ursprünglichen Sinn zusammen mit der Rede von Konversions- oder Bekehrungserlebnissen als konstitutive Elemente der Kuhnschen Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Auch wird der Ausdruck „Paradigma“ kaum noch verwendet. Die Teilinkommensurabiltiät ist kein Übersetzungsproblem mehr im Sinne einer unbestimmten Übersetzung wie in Kuhns mittlerer Phase, sondern sie wird zu einer Unübersetzbarkeit.