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Heidegger: Willem van Reijen interpretiert Heideggers Kehre



HEIDEGGER

Willem van Reijen interpretiert Heideggers „Kehre“


Die Frage von Leibniz, „Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ begleitet Heideggers Philosophie von Anfang an und radikalisiert sich in der These, dass das Sein das Nichts ist. Alles, was ist, und die Möglichkeit, dieses zu verstehen, ist bei Heidegger dem Unterschied von Sein und Seiendem, der ontologischen Differenz zu verdanken. Alles Seiende und dessen Verständnis ist aber zugleich auch wesentlich auf die Möglichkeit des Nicht-seins bezogen. Die ontologische Differenz ist deshalb Grund und Abgrund zugleich: „Im Wesen des Seyns als Verweigerung eröffnet sich mit dem Ab-grund erst das Grundhafte und das alle Nichtung durchwaltende mit dem Ursprung entspringende Nichts.“

Wie der holländische Philosoph Willem van Reijen in seinem Aufsatz

Reijen, Willem van: Heideggers ontologische Differenz. Der fremde Unterschied in uns und die Inständigkeit im Nichts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 4/2004

darstellt, wird das Verständnis der Frage nach der ontologischen Differenz dadurch erschwert, dass der Unterschied, nach dem gefragt wird, zum einen zugleich die Frage nach dem Sinn von Sein ist und zum anderen, dass der Unterschied gleichzeitig „außerhalb“ und „im“ Dasein ist. Heidegger denkt den Unterschied zwischen Seiendem und Sein als weder von räumlicher noch von zeitlicher Art: „Das Da-Sein als der Zeit-Raum, nicht im Sinne der üblichen Zeit- und Raumbegriffe, sondern als die Augenblicksstätte für die Gründung der Wahrheit des Seyns.“

In Sein und Zeit hatte Heidegger noch die Möglichkeit eines zeitlich zu verstehenden Unterschieds offen gelassen. Zeitlich deshalb, weil das Dasein, wenn es „eigentlich“ ist, „Sein zum Tode“, also „zeitlich“ ist und das Sein selber Zeit „ist“. Spätestens nach 1936 – nach der berühmten, weithin unverstanden gebliebenen Kehre – handelt es sich um eine radikal andere Art des Fragens: Die Dimension der Alltagspraxis, für die das Gesetz der Kausalität und des Widerspruchsverbots gilt, wird transzendiert. Die „Leitfrage“ nach der ontologischen Differenz geht über in die Grundfrage nach der Wahrheit des Seyns. Heidegger fragt nun nicht mehr nur nach dem Trennenden, sondern auch nach der Selbigkeit von Seiendem und Seyn. Der Unterschied trennt nicht nur, sondern umgreift die Extreme – indem er trennt, vereinigt er. Das heißt, dass nicht mehr vom Seienden aus nach dem Sein gefragt werden kann, sondern das nunmehr vom Seyn her gefragt werden muss – und zwar so, dass vom Seyn her nach dem Seyn gefragt wird. Vom Sein her fragen heißt nun, dass das Seyn sich selber befragt – es kehrt in sich: „Jetzt aber ist not die große Umkehrung, die jenseits aller ‚Umwertung aller Werte’, jene Umkehrung, in der nicht das Seiende vom Menschen her, sondern das Menschsein aus dem Seyn gegründet wird.“

Diese Kehre ist, wie alles bei Heidegger, geschichtlich zu verstehen: Im ersten Anfang wurde die Wahrheit verfehlt, um mit einem neuen, anderen Anfang beginnen zu können. Bis zur Kehre hatte Heidegger den Anspruch, die Wissenschaften über ihre defizitären Wahrheitsauffassungen aufzuklären und sie auf eine richtige Grundlage – seine Philosophie – zu stellen. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, denn es gibt keine unüberbrückbare Kluft zwischen Wissenschaften und Dasein. Auch Wissenschaft ist eine „Seinsweise des Daseins“ – denn es gibt sie einfach, sie ist ein Seiendes unter Seienden. Damit aber, dass dieses Seiende, weil es nicht nur „ist“, sondern anderes Seiendes zum Gegenstand machen und damit einen Unterschied zwischen sich und das Objekt legen kann, zeigt sich, dass es etwas gibt, was diese Ebene des Seienden übersteigt – eben das Sein. Nach Heidegger haben nun die Wissenschaften nicht nur dieses Sein vergessen, sie haben ihre Fortschritte – manifest geworden in der wachsenden Naturbeherrschung – gerade diesem Vergessen zu verdanken. Allerdings zahlen wir dafür den Preis, dass sich die Wissenschaften nicht mehr nach dem „Leben“, sondern nach den Kriterien der Effizienz, der Rendite und der Berechenbarkeit richten; sie werden „technisch“ und „rechnerisch“, wie Heidegger sagt.

Die Philosophen haben von Anfang an gemeint, das Sein zu denken, aber letztendlich doch nur Seiendes gedacht und die ontologische Differenz vergessen. Die Metaphysik, die das Seiende für das Sein gehalten und infolgedessen das Sein nur als Abstraktion, Generalisierung und Ursache vorgestellt hat, kann weder das Seyn noch das Nichts angemessen denken. Es gilt also – sowohl für den frühen wie den späten Heidegger – eine radikale Umorientierung sowohl in der Philosophie als auch in den Wissenschaften zu bewirken. Es gilt danach zu fragen, wie es möglich ist, dass es Seiendes gibt, und dann danach, dass es so erscheint, wie es erscheint.

In Sein und Zeit heißt es: „Das Dasein stürzt aus ihm selbst in es selbst, in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit.“ Die Formulierung „aus ihm selbst in es selbst“ hält nun van Reijen für den zentralen Topos des Heideggerschen Denkens. Weder räumlich noch logisch ist der angezeigte Sturz nachvollziehbar: Heidegger hebt auf eine Dimension ab, die das Logische und Räumliche transzendiert. Das ist nötig, weil die traditionelle philosophische Sprache nicht imstande ist, die hinter den alltäglichen Phänomenen verborgene Dimension der Wahrheit adäquat zu fassen: Die alltägliche Dimension (des Lebens, der Erlebnisse) versteht Heidegger als die Reduktion einer ursprünglicheren, reicheren „Welt“. Heidegger meint, dass unsere von der Logik erzwungene Teilung der Welt nach dem Muster der sich gegenseitig ausschließenden Gegensätze die Verarmung einer reicheren Welt sei.

In der zweiten Phase seines Denkens, nach der Kehre, versucht Heidegger das Sein, das nunmehr Seyn geschrieben wird, als Wahrheit und Geschichte neu zu denken. Das hat Konsequenzen für das Konzept der ontologischen Differenz: Heidegger fragt nun nicht mehr nach dem „Sinn von Sein“, sondern nach dem Seyn selbst. Damit radikalisiert er seinen Ansatz. Sein/Seyn und Seiendes, die in Sein und Zeit mehr als getrennt denn als eine Einheit vorgestellt wurden, werden nur mehr als Gegensätze in einer Einheit gedacht. Entsprechend werden Wahrheit, Seyn und Geschichte als identisch betrachtet:
„Diese Wahrheit des Seyns ist gar nichts vom Seyn Verschiedenes, sondern sein eigenstes Wesen, und deshalb liegt es an der Geschichte des Seyns, ob es diese Wahrheit und sich selbst verschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seine Geschichte das Abgründige bringt.“ Es muss eine andere Sprache, ein anderes Denken, ein anderes Fragen gefunden werden, oder besser: Das andere Fragen muss uns finden.

Heidegger fasst nun die Beziehung zwischen Denken und Seiendem als „Offenheit“. Nur Dank der Offenheit ist Richtigkeit möglich – nicht umgekehrt. Die traditionelle Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist zu „kehren“ in die Frage nach der Wahrheit des Wesens: „Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit ist zugleich und in sich die Frage nach der Wahrheit des Wesens. Die Wahrheitsfrage – als Grundfrage gefragt – kehrt sich in sich selbst gegen sich selbst“.

Es genügt Heidegger nicht, gegen Logik, diskursives Denken und Fortschritt zu sein. Denn dann würde man sich noch immer auf derselben Ebene bewegen und wäre dafür verantwortlich, dass die Seinsverlassenheit noch gesteigert würde. Die Kehre muss vielmehr zugleich von uns gedacht werden und sich an uns selbst vollziehen. Sie ist etwas, worin wir sind und wo hinein wir gerufen werden, ohne dass dieses „worin“ nur räumlich zu verstehen wäre.