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Polen: Die Bedeutung der Phänomenologie im marxistischen Polen

 

Die Bedeutung der Phänomenologie im marxistischen Polen

Seit Ende der sechziger Jahre suchte man in den realsozialistischen Ländern nach einer neuen politischen Sprache, einer politischen Philosophie, die dem zur offiziellen Staatsideologie gewordenen Marxismus die Stirn bieten und die zugleich den Totalitarismus verstehen und erläutern konnte.

In Polen begannen einige mit dem jungen Marx, mit Lukács und Gramsci diesen Weg, um dann mit einer Zwischenstation bei Hannah Arendt beim angelsächsischen Liberalismus anzukommen. Andere verbanden ein Interesse für die Frankfurter Schule mit dem Studium der deutschen modernen Philosophie. Insbesondere die Phänomenologie erfreute sich großer Beliebtheit, was auf den Einfluss von Roman Ingarden und Jan Patocka, den beiden mitteleuropäischen Schülern Husserls, zurückzuführen ist. Man studierte Husserl, Scheler und Heidegger als Fortsetzer der phänomenologischen Tradition.

Wie Zdzislaw Krasnodebski in seinem Aufsatz

Krasnodebski, Z.: Sehnsucht nach Gemeinschaft.  Husserl, Plessner und die europäischen Wurzeln des Totalitarismus, in: Eßbach, W./Fischer, J. und Lethen, H. (Hrsg.): Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (372 S., kt., 2002, stw 1541, Suhrkamp, Frankfurt)

schreibt, ist die Popularität der Phänomenologie dem naiven Streben nach einer wahren Philosophie zuzuschreiben, wahr im Sinne einer von Politik nicht beeinflussten Philosophie. Ihr Idealismus wurde als Protest gegen die materialistische Degradierung des Menschen aufgefasst, und Husserls Suche nach absoluter Wahrheit lieferte Argumente gegen den Zynismus der Konformisten und den Pragmatismus derjenigen, die sich der Lage angepasst hatten. Gleichzeitig erschien die Phänomenologie attraktiv wegen ihres Aufrufs, die „Sachen selbst“, die konkrete Realität zu erforschen und so zur Lebenswelt zurückzukehren. Diejenigen, die das Studium der Phänomenologie betrieben, fühlten sich als Repräsentanten einer echten europäischen Kultur in ihrem Protest gegen Primitivität und die völlige Leere und Verlogenheit des offiziellen Jargons. Ihre unpolitische Betätigung, die aus dem Studieren, Kommentieren und Diskutieren phänomenologischer Werke bestand, war somit beinahe ein politischer Akt.

Hannah Arendt wurde als Theoretikerin des Totalitarismus zu einer Zeit wichtig, als sie in Deutschland noch als eine sekundäre, vergessene Philosophin galt. Helmuth Plessner hingegen, der das Phänomen des Totalitarismus ebenfalls ergründet hatte. blieb eine Art Geheimtip. Im Gegensatz zu Arendt, die die totale Herrschaft als neue, noch nicht dagewesene Staatsform definierte und dadurch in gewissem Sinne von der bisherigen Geschichte abhob, zeigte Plessner, dass der politische Radikalismus eine innere Tendenz des modernen Zeitalters war. Für Arendt bedeutete Totalisierung eine Sprengung aller bisherigen politischen Kategorien, Plessner charakterisierte ihn als eine historische Umwandlung dieser Kategorien.

Beide, Husserl und Plessner, waren überzeugt, dass die europäische Kultur in einer fundamentalen Krise steckt, aus der politische Gefahren resultieren. Aber ihre Diagnosen und Therapievorschläge waren diametral entgegengesetzt. Plessner glaubte, dass die europäische Kultur sich nur als eine von vielen Kulturen, die auf gleichem Niveau stehen, betrachten sollte. Europa sollte seinen Anspruch auf Universalität und einen Vorrang vor anderen Kulturen endgültig aufgeben. Dadurch werde ein Europäertum entstehen, das nicht mehr auf andere Kulturen herabsehe. Durch seine Toleranz werde Europa seine Besonderheit und Überlegenheit erweisen. Für Husserl hingegen verkörperte die europäische Kultur die „ratio“, nicht jedoch als wissenschaftliche Vernunft, sondern als allumfassende philosophische Vernunft. Dar­aus ergab sich für ihn eine politische Verpflichtung der Phänomenologie. In einem Einfluss anderer Kulturen auf Europa sah er einen Widerspruch zum telos der Geschichte. Dieser universalistische Anspruch führte zur Ignoranz gegenüber der Eigenart der Anderen und konnte als Legitimierung des europäischen Imperialismus verstanden werden. Husserls Intersubjektivitätstheorie erlaubt nicht, den Anderen als grundsätzlich verschieden vom Ich als eines unter vielen aufzufassen. In seiner Philosophie kann das Soziale nicht als eine Sphäre, in der das Ich zu einem unter vielen wird, gedacht werden.

Entsprechend strebte Husserl nach wahrer Gemeinschaft. Er klagte, dass „die alte Einfachheit der Lebenshaltung und der Sitten verloren ging und der materialistischen Denkweise so der Boden geebnet wurde“.  Entsprechend lehnte Husserl den Kapitalismus ab. Aus Plessners Sicht kann Husserls politische Philosophie als geradezu klassisches Beispiel des Strebens gelten, Gesellschaft abzuschaffen und sie durch Gemeinschaft zu ersetzen.  Das brachte Husserl auch dazu, den Ersten Weltkrieg zu akzeptieren.

 Für Krasnodebski beinhaltet die Idee des Kommunismus, dass die Menschheit zu     einem einzigen Menschen wird, einem einzigen kollektiven Willen, Husserls soziales Programm, reflektiert in einem Zerrspiegel. Beide, Marxismus wie die Husserlsche Phänomenologie, kämpften gegen die postauf­klärerische Kultur mit ihrem Chaos, ihrer Beliebigkeit, ihrem Pluralismus, ihrem Skeptizismus und ihrem Unglauben. Beide bekämpften auch die kapitalistische Wirtschaft mit ihrer materialistischen Grundhaltung, und das erklärt, warum beide, Kommunismus und Phänomenologie, für viele Intellektuelle so attraktiv wurden.