PhilosophiePhilosophie

02 2020

Der Diskurs über Glauben und Wissen. Habermas‘ zweibändiges Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“

aus: Heft 2/2020, S. 42-52
 
In seinem auf zwei voluminöse Bände angelegten Alterswerk
 
Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie.
Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. 920 S.
Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, zusammen € 98.—, 2019, Suhrkamp, Frankfurt
 
verfolgt Habermas mittels einer Genealogie den Diskurs zwischen Wissen und Glauben durch die abendländische Philosophiegeschichte vom Mythos bis hin zu den Junghegelianern. Sein Anliegen ist es, die Bedeutung der Religion auch für das nachmetaphysische Denken aufzuzeigen.
 
Genealogie nachmetaphysischen Denkens
 
Genealogie im Sinne von Habermas erklärt den Fortgang der Philosophie als Ergebnis von Lernprozessen, mit denen sie sich immanent rechtfertigen kann. Er will aufweisen, aus welchen intern nachvollziehbaren Gründen das nachmetaphysische Denken ältere Denkweisen abgelöst hat. Dazu interpretiert er die Philosophiegeschichte am Leitfaden des Diskurses zwischen Glauben und Wissen von den Anfängen im Mythos bis hin zu Feuerbach, Marx, Peirce und Kierkegaard (Autoren, denen der Diskurs zwischen Religion und Philosophie auch nach deren Trennung wichtig bleibt) in aller Ausführlichkeit und in rekonstruktiver Absicht auf hohem Abstrak tionsniveau. Wichtige Referenzautoren sind ihm dabei (außer den genannten) Platon, Plotin, Augustin, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Wilhelm von Ockham (alle Band 1), Luther, Hume, Kant, Herder, Schleiermacher, Humboldt, Hegel, Feuerbach, Peirce und Marx  (Band 2). Habermas zeigt, wie die Philosophie komplementär zur Ausbildung einer christlichen Dogmatik in Begriffen der Philosophie ihrerseits wesentliche Gehalte aus religiösen Überlieferungen sich angeeignet und in begründungsfähiges Wissen transformiert hat. Semantische Gedanken biblischen Ursprungs sind in die Grundbegriffe des nachmetaphysischen Denkens überführt worden.
 
Es habe ihm Spaß gemacht, so berichtet er eingangs, die Lektüre vieler bedeutender Texte, die er nie gelesen hatte, nachzuholen und viele andere Texte, die er in aktuellen Zusammenhängen oft konsumiert, wieder zu lesen – diesmal aus der Sicht „eines alten, vergleichsweise verschonten Lebens als Philosophieprofessor“.
 
Habermas zufolge befreit erst die rational nachvollziehbare Dynamik des Erwerbs unserer epistemischen Hintergrundüberzeugungen die Gültigkeit der selbstverständlich gewordenen Voraussetzungen des modernen Selbst- und Weltverständnisses von einer Kontingenz, die entweder dogmatisch behauptet oder wie bei Heidegger mit seinsgeschichtlichem Tiefsinn denunziert werde. Die säkularen Prämissen nachmetaphysischen Denkens erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir lernen, dass sich diese nicht zu der Rückkehr zu den während des „dunklen Mittelalters“ christlich überformten, entstellten und verschütteten Prämissen griechischen Denkens verdanken, sondern einem langanhaltenden theologischen Diskurs über Glauben und Wissen. Von einer ideen- und problemgeschichtlichen Darstellung unterscheidet sich das genealogische Verfahren durch die Einbettung problemgesteuerter, aber nicht ausschließlich intern erklärbarer Lernprozesse in kontingente, jedoch gesellschaftstheoretisch verallgemeinerte Entstehungskontexte.
 
Habermas‘ Genealogie geht davon aus, dass sich das philosophische Denken seit seinen Anfängen zum einen durch den Bezug zur Welt im Ganzen (dem, was wir von der Welt im gegebenen historischen Zeitpunkt wissen) und zum anderen durch die systematische Selbstreferenz der Forscher zu sich als Menschen, zu ihrer sozialen Gemeinschaft und zu ihrer geschichtlichen Epoche bestimmt. Über viele Jahrhunderte hat die Philosophie dabei die Frage nach der „Stellung des Menschen in der Welt“ mit der Religion geteilt und damit einen funktionalen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration geleistet.  Wie steht es aber damit unter den Bedingungen eines nachmetaphysischen Denkens, eines Denkens nach dem Bruch der Verbindung von Philosophie und Religion, aus? Kann die Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt an dem Anspruch festhalten, das im lebensweltlichen Hintergrund verankerte intuitive Welt- und Selbstverständnis der jeweils gegenwärtigen Generation zu erklären und so weit wie möglich im Lichte des wissenschaftlich akkumulierten und jeweils verbesserten Weltwissens kritisch zu prüfen und zu korrigieren.
 
Das ist die Frage, die Habermas‘ Denken antreibt. Ihm zufolge erkennt man erst im Lichte des Erbes, von dem sich die Philosophie in ihrer nachmetaphysischen Gestalt gelöst hat, die Bedeutung dessen, was sie geerbt hat, in der richtigen Dimension.
 
Skeptisch zeigt sich Habermas, ob die Philosophie, wie wir sie kennen, noch eine Zukunft hat. Ob das, was für andere Wissenschaften Fortschritt bedeutet, auch für die Philosophie gilt, hält er für fraglich. Er sieht die Gefahr, dass sie das, worüber sie sich bisher definiert hatte, nämlich das Ganze, aus den Augen verliert. Um das zu verhindern, muss sie zu erklären versuchen, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen. Sie darf den Bezug zum Ganzen eines immer unüberschaubarer werdenden Wissenskosmos nicht verlieren, ansonsten verrät sie ihr Proprium. Der Bezug des philo-sophischen Denkens zehrt von einer rätselhaften Initiative zum Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit. Geht das verloren, überlebt das Fach Philosophie nur dank dessen begriffsanalytischen Fertigkeiten und als Verwalterin ihrer eigenen Geschichte. Um das zu verhindern, plädiert Habermas für das Weiterverfolgen des bisherigen Weges und dafür, die lernbereite dialogische Einstellung zur Religion nicht aufzugeben. Ansonsten drohe ein unbewegliches kollektives Selbstverständnis, das die Bereitschaft blockiert, von den eigenen Hintergrundüberzeugungen hypothetisch Abstand zu nehmen.
 
 
Vom Mythos zum Logos
 
Habermas beginnt mit dem Mythos, den er als eine Antwort auf die kognitiven Herausforderungen der Weltoffenheit begreift, der eine kommunikativ vergesellschaftete Intelligenz ausgesetzt ist. Im Heiligen bzw. der das Unheil rettend abwehrenden Macht sieht er das Spiegelbild einer Problemlage, die sich mit der sprachlichen Vergesellschaftung von Kognition und Motivation einstellt. Mit den Schriftkulturen und ihrem Zuwachs an profanem Wissen werden erst die mythische, dann auch die religiös-metaphysische Form des Selbst- und Weltverständnisses gesprengt. Dies führt zu einer Sublimierung des Heiligen und einer entsprechenden Entzauberung des rituellen Umgangs mit den Mächten von Heil und Unheil und in den Hochkulturen zur transzendenten Größe „des“ Göttlichen. Im Hinblick auf die kognitive Verarbeitung des Weltwissens sieht Habermas zwischen dem Mythos und den nun entstehenden Metaphysiken und Weltreligionen eine Kontinuität, integrieren diese doch das inzwischen akkumulierte Wissen in einen kategorial erweiterten und explanativ leistungsfähigeren Horizont des Welt- und Selbstverständnisses. Religiös-metaphysische Lehren unterscheiden sich von den mythischen Erzählungen vor allem durch die Distanz, die sie zu einer im Ganzen auf Distanz gebrachten Welt einnehmen. Dieser Zug zur Objektivität verlangt das Hinausgreifen über alles episodisch vergegenwärtigte und in der Welt präsente Geschehen. So entstand im Judentum mit dem Gottesbegriff ein transzendenter Bezugspunkt, von dem aus die Welt der Natur und der Geschichte als Ganzes objektiviert werden kann.
 
Moralvorstellungen profanen Ursprungs gerieten mit den Erfahrungen von Gewalt, Ungerechtigkeit und Unterdrückung in Konflikt, ohne dass dafür das Angebot an mythologischen Erklärungsmustern eine überzeugende Lösung hätte bieten können. Habermas sieht darin einen kognitiven Antrieb zu einer Moralisierung des Heiligen, aus der eine neue Weltsicht hervorging. Die Symbiose von Heil und Herrschaft wurde untergraben, und mit den religiösen und metaphysischen Weltbildern haben sich allgemein verbindliche Normen herausgebildet, die der Herrscher nicht mehr länger verkörpern, sondern nur in dem Maße repräsentieren kann, wie er diesen selbst unterworfen ist. Religiöse und metaphysische Weltbilder bilden in der Folge geistige Ressourcen ebenso für Subversion und Widerstand wie für die Stabilisierung der bestehenden Regime. Intellektuelle haben diesen kognitiven Druck aufgenommen und in eine moralisch motivierte Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und politischen Praktiken geführt.
 
Die Philosophie bricht mit der mythischen Weltauffassung, indem sie nach Prinzipien fragt. Diesem Prinzipiendenken entspricht ein Erklärungsmuster, das voraussetzt, dass wir die beobachtbaren Naturerscheinungen auf die allgemeinen begrifflichen Strukturen einer ihnen im Ganzen zugrundeliegenden Wesensordnung hin transzendieren können.
 
Der Ursprung der griechischen Philosophie bei den Vorsokratikern teilt mit den indischen und chinesischen Weltbildern wesentliche Strukturen; was fehlt, ist die Verwurzelung in der rituellen Praxis. Im Denken von Anaximander, Parmenides und Heraklit öffnet sich der epistemische Zugang zu einem die Welt im Ganzen transzendierenden Gesichtspunkt.
 
Vom christlichen Platonismus zur Moderne
 
Der Diskurs über Glauben und Wissen, der mit der Entstehung des christlichen Platonismus in der Spätantike entsteht, wird der Philosophie zum Schicksal. Die Konstellation von „Athen“, „Jerusalem“ und „Rom“ wird für das abendländische Denken bis auf den heutigen Tag entscheidend.  Seither hat sich die Selbstvergewisserung des christlichen Europa in Form einer Spiegelung der jeweiligen Gegenwart an der Vergangenheit der griechisch-römischen Antike in immer neuen Schüben wiederholt.
 
Die Verflechtungen zwischen „Rom“ und „Jerusalem“ haben zur globalen Ausbreitung und weltgeschichtlichen Wirkung des Christentums beigetragen, aber sie haben auch die römische Kirche so tief in die Entwicklung der okzidentalen Rechtskultur hineingezogen, dass das christliche Naturrecht in der frühen Neuzeit ironischerweise der vernunftrechtlichen Säkularisierung erst den Weg gebahnt hat. Griechische Philosophie und christliche Religion haben sich nicht unabhängig voneinander entwickelt, sie haben vielmehr durch Polemik und gegenseitige Abschottung voneinander gelernt.
 
Im Platonismus verschränken sich Weltwissen und Heilswissen im Rahmen einer ontologischen Stufenlehre. Die christliche Lehre, die das Heilswissen monopolisiert, kann eine Arbeitsteilung mit der platonischen Metaphysik eingehen, indem sie auf ihren eigenen kontemplativ-ekstatischen Heilsweg verzichtet und hauptsächlich für die philosophische Verarbeitung des Weltwissens zuständig ist. Augustin will zeigen, dass das Christentum nicht nur die überlegene Religion, sondern auch die bessere Philosophie ist. Sein Ziel ist es, anstelle einer bloßen Arbeitsteilung zwischen Glauben und Wissen die Integration des einen mit dem anderen zu vollziehen. Damit stellt er einerseits die Weichenstellung für die katholische Grundüberzeugung, dass sich der christliche Glaube im Lichte des platonisch begriffenen Logos als durch und durch
 
vernünftig erweist, andererseits will er auch der biblischen Überlieferung und der christlichen Heilsbotschaft nichts von ihrer provokativen Vernunft nehmen. Mit der Integration der Weltgeschichte in die Teleologie der Heilsgeschichte erfindet Augustinus die neue Gattung der Geschichtsteleologie, die im geschichtsphilosophischen Denken des 18. und 19. Jahrhunderts eine zivilisations- und gesellschaftstheoretische Übersetzung ihres kategorialen Rahmens findet.
 
Das Bekanntwerden der Schriften des Aristoteles veränderte die intellektuelle Szene und bedeutete eine ganz andere Herausforderung als der Platonismus. Thomas von Aquin und die Philosophien-Theologien stellten sich der Herausforderung, dessen System der Wissenschaften mit der theologisch durchgearbeiteten christlichen Lehre in einen vernünftigen und das hieß nun streng methodisch durchsichtig gemachten Zusammenhang zu bringen. Die Theologie ihrerseits arrangiert sich sowohl mit der weltlichen Autorität der Wissenschaften als auch mit einer säkularen, aus der Vernunft legitimierten Staatsgewalt. Die Philosophie muss fortan unter Einbuße metaphysischer Gewissheiten mit den religiösen Angeboten der Welt- und Selbstverständigung konkurrieren und eine Antwort auf die Frage finden, wie sie ihren wissenschaftlichen Anspruch verstehen soll: als Assimilierung an die Wissenschaften oder als eine wissenschaftliche Denkungsart, die die beibehaltene Selbstverständigungsperspektive gegen den ausschließenden Anspruch der objektivierenden Wissenschaften auf mundanes Wissen verteidigt.
 
Von der Reformation zum subjektiven Geist (Band 2)
 
An der Schwelle zur Moderne wurde Luther zu einer welthistorisch bedeutsamen Figur. Der theologische Kern seiner Rechtfertigungslehre hat als Sprengsatz gewirkt und das spätmittelalterliche Christentum in Konfessionen aufgespaltet. Habermas sieht in seiner Lehre und seinem Wirken Katalysatoren einer Transformationsdynamik, die sich aus langfristig angebahnten und kumulativ verstärkten Spannungen speiste. Die Druckpresse sorgte nun für eine rasche Verbreitung seiner Pamphlete wie auch des Echos, das diese in der Öffentlichkeit fanden. Ironischerweise hat die Reformation mit der darauffolgenden staatlichen Konfessionalisierung die Entwicklung zur Säkularisierung der Staatsgewalt gefördert. Luther will den performativen Eigensinn christlicher Glaubenswahrheiten vor deren theoretischer Vergegenständlichung in metaphysische Grundbegriffe durch die Scholastik und allgemein die Philosophie retten. Er bringt den methodischen Vorrang des performativen Sinns der religiösen Erfahrung vor dessen propositionalem Gehalt hermeneutisch zu Bewusstsein, aber er will diesen nicht mehr, um die Vernünftigkeit des Glaubens zu erweisen, rational rekonstruieren und begründen.
 
Die aus dem christlichen Horizont gewissermaßen entlassene Philosophie hält im 17. Jahrhundert allerdings noch an dem Anspruch fest, in Gestalt eines „Systems der Wissenschaften“ die Welt im Ganzen zu erklären. Weil aber für diese Art der Systembildung die Gottesreferenz ihre Bedeutung verloren hat, tritt nun die Referenz auf das erlebende, erkennende und handelnde Subjekt an deren Stelle.
 
Zugleich bildet sich mit den von der Reformation und den neuen mathematisierten Naturwissenschaften ausgehenden Anstößen ein distanziertes Bild auf das Christentum heraus. Hobbes und Spinoza antworten – wenn auch mit einer gewissen Zeitverzögerung – auf Luthers theologische Entkoppelung des Glaubens vom Wissen mit einer philosophischen Distanzierung der Wissenschaft vom historisierten Glauben. Bis dahin hatten sich die abendländischen Renaissancen noch wie selbstverständlich aus dem Horizont des Alten und Neuen Testaments heraus auf die Vergangenheit der griechisch-römischen Antike als ihr Anderes bezogen. Nun rücken die Philosophen auf Distanz zu diesem Glauben, und damit werden die Gestalten des Christentums bzw. der Religion zu dem Anderen einer säkularen Philosophie.
 
Während über ein Jahrtausend lang theologisch ausgebildete Gelehrte in einem ununterbrochenen Diskurs über Glauben und Wissen auf neue Erkenntnisse und Lebenserfahrungen, auf Innovationen und gesellschaftliche Verhältnisse reagiert haben, vollzieht das vernunftrechtliche Denken nun eine anthropologische Ablösung des Naturrechts von seinen religiösen Grundlagen. Diesen Wechsel interpretiert Habermals als den Durchbruch zur Moderne. Die Philosophie setzt sich nun an die Seite der methodisch verselbständigten Wissenschaften und gibt jeden Kontakt mit dem Erfahrungsbereich des Sakralen auf. Allerdings teilen sich Philosophie und Theologie weiterhin die Arbeit der Welt- und Verständigungsfunktion, d. h. die Arbeit der Verständigung über uns selbst im Lichte dessen, was wir jeweils Neues über die Welt gelernt haben. Allerdings übernimmt die Philosophie nun die Initiative und bestimmt das Niveau der Reflexion – bis ins 20. Jahrhundert, wo etwa Bultmann und Rahner auf Heideggers Sein und Zeit reagieren.
 
Die Philosophie öffnet sich im 17. Jahrhundert systematisch der Denkungsart der modernen Wissenschaften und der kapitalistischen Dynamik der Gesellschaft. Deren Diskurs spiegelt die Neugier auf das, was wir von der fortschreitend erweiterten Wissenschaft über die Welt und über uns selbst Neues lernen können. Die Philosophie orientiert sich in ihrem eigenen Vorgehen am methodischen Vorbild der modernen Naturwissenschaften: Hobbes führt den mos geometricus in die Staat- und Rechtstheorie ein, Spinoza teilt seine Bewunderung für die euklidische Geometrie, Locke war Mediziner und hatte Kontakte zu den führenden Naturforschern seiner Zeit.
 
Dieser Einschnitt ist zugleich eine Wegscheide, das nachmetaphysische Denken gabelt sich in zwei Wege: für den einen steht Hume und der Empirismus, für den anderen Kant, und beide Wege finden sich in der Gegenwart wieder. Für den einen versteht sich Philosophie als eine wissenschaftliche Disziplin unter anderen, gar als Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften, für die anderen verfolgt die Philosophie weiterhin einen Anspruch auf die Beförderung des rationalen Welt- und Selbstverständnisses. Doch auch die genannten säkular denkenden Philosophen haben über ihre religiöse Sozialisation und Erziehung nach wie vor religiöse Motive aufgenommen, die in philosophischer „Übersetzung“ das säkulare Denken verändern – und bis heute prägen. Umgekehrt liefert die Philosophie der Theologie Begriffe für die dogmatische Durcharbeitung der Glaubensinhalte. Sie hat aus diesem Diskurs über Glauben und Wissen neue epistemische Einstellung, Probleme, Erfahrungen und thematische Relevanzen gefunden.
 
Mit dem Abschied von der Theologie und der Gottesvorstellung und der Wende zu den Naturwissenschaften vollzieht die Philosophie einen Paradigmenwechsel zur Subjektphilosophie. Die ernüchterte deistische Auffassung der Natur informiert die Menschen nicht mehr über ihre praktischen Anliegen – was sie tun sollen und hoffen dürfen. Sie ruft Skepsis und Verunsicherung hervor und verlangt nach der Reflexion auf das, was der Mensch als erkennendes und handelndes Subjekt aus eigener Kraft vermag. Denn es gibt keine Verbindung mehr zwischen den Begriffen des menschlichen Geistes und einer ihrerseits begrifflich verfassten Natur.
 
Im Zuge der fortschreitenden Verwissenschaftlichung verlieren die metaphysischen Grundbegriffe, in denen Beschreibungen mit normativen und evaluativen Gehalten noch verschmolzen sind, ihren Halt. Damit löst sich die projektive Verklammerung der theoretisch erfassten „Welt“ mit den lebensweltlichen Konnotationen einer umgreifenden, von uns, den erkennenden Subjekten, gewissermaßen bewohnten „Totalität“ auf.
 
Hume schlägt das Erbe der christlichen Philosophie aus. Er kritisiert konsequent die Schritte, die Habermas in seiner Genealogie als Lernprozesse darstellt, um deren Ergebnisse als verständliche Illusion zu erklären. Auf diesem skeptischen Weg will er anstelle von religiösen und metaphysischen Weltbildern die Philosophie als Wissenschaft etablieren. Anders Kant. Er schlägt das Erbe nicht aus, son-dern verwandelt es in säkulares Denken. Er bricht, ohne die Subjektphilosophie zu verlassen, aus dem Erkenntnishorizont eines sich selbst beobachtenden Subjekts aus. Den Zugang zu sich als einer ersten Person sucht er nicht wie die Subjektphilosophie aus der vergegenständlichenden Perspektive einer sich selbst beobachtenden dritten Person, sondern aus der Reflexionsperspektive einer sich als tätig erfahrenden, die Performanz des eigenen Tuns und Erlebens nachvollziehenden Person. Kant zahlt dafür den Preis einer abstrakten Trennung des intelligiblen Ichs und des Reichs der Freiheit von allem Empirischen. Das moralisch handelnde Subjekt kann auf die Auswirkungen seiner guten Absichten auf das unter Naturkausalität stehende Geschehen in der Welt keinen Einfluss nehmen. Und die Gebote der Vernunftmoral gelten ohne die Rückendeckung einer gläubigen Zuversicht auf die ausgleichende Gerechtigkeit einer intervenierenden Macht.
 
Vom subjektiven zum „objektiven“ Geist
 
Die Aufklärung ist von zwei Weichenstellungen geprägt. Zum einen durch die selbstbewusste Stellung, die die Philosophie nach ihrem religionskritischen Seitenwechsel zur methodisch verselbständigten Wissenschaft bezieht, sodann durch die neuen gesellschaftlichen Funktionen, die sie mit ihrer volkspädagogischen Rolle in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und ihrer herrschaftskritischen Rolle in der politischen Öffentlichkeit sowie ihrer legitimatorischen Rolle im Verfassungsstaat spielt. Während die Philosophie der Religion den Rücken kehrt, stellt sie sich an die Seite der modernen Wissenschaft, sie will aber die Rationalität der Gesellschaft im Ganzen fördern und versteht sich damit mehr als nur eine Disziplin unter anderen. Das philosophische Wissen soll erklären, was das wissenschaftlich akkumulierte Weltwissen für uns als Menschen in unserer persönlichen, gesellschaftlichen und zeitgenössischen Existenz bedeutet.
 
Kant stimmt mit Hume in der Auszeichnung des Vorbildcharakters der Naturwissenschaften überein. Aber zum Antipoden Humes wird Kant nicht dadurch, dass er andere Theorien zu Fragen der Erkenntnis, der Moral und des Rechts entwickelt, sondern ein in den Grundlagen anderes Verständnis von Philosophie und Philosophieren entwickelt. Einen schroffen Gegensatz zu Hume entwickelt Kant schon dadurch, dass er die empiristische Gefühlsethik nicht einfach im Lichte einer Gerechtigkeitsmoral als falschen Ansatz kritisiert, sondern als „moralischen Atheismus“ verurteilt. Aus Kants Sicht verkennt Hume das erklärungsbedürftige moralische Phänomen als solches, wenn er den moralischen Gesichtspunkt, unter dem die Gerechtigkeit einer Handlung oder Maxime geprüft wird, als ein aus Gefühlen und Nutzenabwägungen abgeleitetes Phänomen begreift. Habermas sieht als Motivationshintergrund einen Streit darüber, wieweit sich das philosophische Denken einschränkt, wenn es sich selbst auf den erfahrungswissenschaftlichen Modus der Erkenntnis von Naturgesetzen verpflichtet. Kant sieht, dass die Philosophie, die sich dem vergegenständlichenden Denken der Erfahrungswissenschaften anpasst, ihr Proprium aufgibt – nämlich den Versuch, Antworten auf jene Menschheitsfragen zu geben, in denen sich das Orientierungsbedürfnis „vernünftiger Weltweisen“ ausspricht. Anders als Hume will Kant jene aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammenden Grundfragen so rekonstruieren, dass sie noch unter Voraussetzungen nachmetaphysischen Denkens mit guten Gründen beantwortet werden können. Die Philosophie kann Kant zufolge keinen verbindlichen Heilsweg außer dem der Befolgung einer allgemein gültigen Vernunftmoral auszeichnen. Sein Glück kann jeder auf seinem moralisch zu rechtfertigenden Lebensweg suchen. Mit diesem dürren „Vernunftglauben“ sichert Kant nicht nur der Religion noch einen Platz in der modernen Welt, sondern verschafft auch dem „Interesse der Vernunft“ an ihrem eigenen Praktisch-Werden in der Welt Befriedigung.
 
Während Kant und Hume darin übereinstimmen, dass sich am Modell der Naturwissenschaften entscheidet, was dem menschlichen Geist an strikter, auf Erfahrung gestützter Erkenntnis überhaupt möglich ist, scheiden sich die beiden Geister an der Konzeption der „gesetzgebenden Vernunft“. Kant folgt Humes Deutung der modernen Wissenschaften insofern, als er Erkenntnis im strikten Sinne auf die strukturierende Verarbeitung von Sinnesempfindungen und die kausalanalytische Deutung der Wahrnehmung beschränkt. Aus der transzendentalen Analyse der Erkenntnis von Tatsachen der Natur ergibt sich die metaphysikkritische Einsicht in die Haltlosigkeit des transzendenten, die Grenzen der Erfahrung missachtenden Gebrauchs der Kategorien. Auf der Seite der Vernunft entspricht dem die nicht minder beharrlich durchgeführte Religionskritik. Aber im Gegensatz zu Hume geht Kant davon aus, dass die praktische Vernunft in religiösen Überlieferungen einen moralischen Gehalt wiedererkennen kann, der sich mit Gründen rechtfertigen lässt. Daher nimmt Kants Religionskritik gegenüber dem Christentum nicht die Einstellung eines wissenschaftlich objektivierenden Beobachters, sondern die eines kritisch belehrenden Philosophen ein, der die historisch überlieferten Lehren und Praktiken der Kirche vernünftig sondiert.
 
Habermas‘ Genealogie nachmetaphysischen Denkens zeigt, dass Kant zum Repräsentanten seines Jahrhunderts wurde, weil er die Substanz der Frage, die dem Diskurs über Glauben und Wissen zugrunde lag, nicht einfach beiseite schiebt, sondern unter Prämissen nachmetaphysischen Denkens aufgreift und bearbeitet. So bietet seine Philosophie ein beeindruckend geschlossenes Werk, das die Menschheitsfragen auch noch unter nachmetaphysischen Bedingungen beantworten will: Mit ihrer erfahrungstranszendierenden Kraft belehrt die Vernunft den Menschen erstens über die Grenzen dessen, was er theoretisch wissen kann; mit ihrer Norm setzenden Kraft fordert ihn sodann die praktische Vernunft dazu auf, dem Moralgesetz zu folgen und seine Autonomie zu gebrauchen, um moralisch die Widerstände der inneren Natur zu bezwingen; und schließlich ermutigt ihn die Vernunft mit der sinnstiftenden und totalisierenden Kraft interpolierter Annahmen und hypothetisch entworfener Ideen dazu, sich in der Spannung zwischen dem überschießenden moralisch-praktischen Anspruch und der Grenze von Verstand und eigener Natur gewachsen zu zeigen.
 
Bereits Giambattista Vico hatte erkannt, dass sich die Verwissenschaftlichung der Historie nicht nach dem subjektphilosophisch gedeuteten Muster der Objektivierung der Natur durchführen lässt. In der Lebenswelt angetroffene Erfahrungsgegenstände – Sprachen, Dokumente, Texte, Stile, aber auch Verfahren und Techniken – schlagen sich geistige Tätigkeiten von Subjekten so nieder, dass sich in den Produkten die begrifflich allgemeinen Strukturen des Geistes widerspiegeln. Dem hermeneutischen Beobachter erschließen sich diese Tatsachen erst dadurch, dass er das von den beobachteten Personen selbst erfahrende Geschehen nachvollzieht. Die bildende Kraft des objektiven Geistes äußert sich ebenso in der Individuierung der Einzelnen wie in deren kommunikativer Vergesellschaftung. Mit dieser Beobachtung werden Verschiebungen im Wissenschaftssystem ausgelöst, epistemische Anstöße zur Überwindung der Subjektphilosophie, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Entstehung der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften führen.
 
Die revolutionären Verfassungen, die im Gefolge der Französischen Revolution entstehen, begründen rechtsstaatliche Demokratien, die den Gedanken der Volkssouveräntität mit dem der Menschenrechte ingeniös umklammern. In Europa wie in Amerika drücken die Menschenrechtserklärungen denselben emanzipatorischen Sinn einer Befreiung aus. Die Selbstermächtigung der verfassungsgebenden Bürger zu Gesetzgebern, die die natürlichen Rechte zu positiver Geltung bringen, bedeutet in beiden Fällen die Abkehr vom autoritativen Geltungsanspruch einer Tradition, die sich auf das Prestige des „alten Rechts“ beruft. Und in beiden Fällen bedeutet die Revolution auch ein state-buildung und damit Zuwachs an Konsolidierung staatlicher Macht.
 
Beim Übergang von der Lektüre Kants zur Lektüre Hegels tritt der Leser in eine völlig veränderte Welt ein. Hegel beraubt die subjektive Vernunft ihrer transzendentalen Unberührbarkeit und Souveränität und verstrickt sie in eine begriffliche, von der Kraft der Negation angetriebene Dynamik des Geschehens in der objektiven Welt. Kant hatte in der dualistischen Anlage seines Systems den geschichtlichen Prozessen von Gesellschaft und Kultur, an deren Fortschritt die Vernunft doch ein Interesse nimmt, keinen Platz eigener Rechte eingeräumt. Damit stellt sich für Hegel die Aufgabe, zwischen subjektivem und objektivem Geist zu differenzieren: Wie verhält sich die in menschlichen Organismen verkörperte, als Selbstbewusstsein begriffene subjektive Vernunft, also den symbolischen Gestalten, in denen sich die Operationen dieser Vernunft auf soziokultureller Ebene sedimentieren?
 
Hegel ist davon überzeugt, dass die Philosophie das einzige Bedürfnis, das ihr eine Existenzberechtigung gibt, allein in der Rolle einer zeitgemäßen Theologie erfüllen kann. Sie soll den kultischen Kern aller Religionen auf ihren christlichen Begriff bringen und inmitten einer zerrissenen Moderne die Wiederherstellung der Integrität eines versöhnten Zusammenlebens lehren. Die Vernunft erfüllt ihre Bestimmung nicht in der Erkenntnis der Natur, sondern als denkende Kraft der Vereinigung. So fallen Religion und Philosophie in eins.
 
Was das bedeutet, zeigt Habermas im Vergleich mit Kant. Wie dieser ist Hegel davon überzeugt, dass die philosophische Erkenntnis, die sich ausschließlich auf säkulare Gründe stützt, gegenüber der Religion und deren Offenbarungswahrheiten das letzte Wort behalten muss. Hegel entfaltet aus dem sakralen Kern der Eucharistie das Versöhnungsgeschehen, das in der begriffenen Moderne nur durch die Vernunft vorangetrieben werden kann. Die Religion verkörpert sich in ihrer objektiven, aus dem Inneren des gläubigen Subjekts herausgetretenen Praxis von Seelsorge, Kultur und Verkündigung. Die Philosophie soll nach Hegel dieses Ganze aus religiöser Innerlichkeit und organisiertem Kirchenleben begrifflich durchdringen und darf sich nicht mit Kant darauf beschränken, nach jenen Spuren zu suchen, die die Vernunft in den Religionslehren hinterlassen hat. Habermas sieht darin Hegel den Anspruch der christlichen Philosophie des Mittelalters überbieten. Er stellt die Weichen für einen absoluten Idealismus, der die Menschwerdung Gottes zum Leitfaden für die prozessuale Auflösung des offen gebliebenen Problems fruchtbar macht: Wie kann das in Konstellationen des Einzelnen, Allgemeinen und Besonderen erfasste Problem der Gefährdung und Wiederherstellung des sozialen Zusammenhangs, das sich in der Moderne auf neue Weise zuspitzt, in Begriffen der Subjektphilosophie gelöst werden?
 
Hegel, der die Sphäre der Gestalten des objektiven Geistes als Ganze auf den Begriff bringen will, drängt sich der Gedanke auf, die in der Weltgeschichte begegnenden individuellen Totalitäten der in Staaten und Nationen verkörperten Volksgeister, statt in der Weltgeschichte selbst, noch einmal auf der höheren Stufe des Geistes zusammenzuführen. Wenn sich der objektive Geist in eine Vielfalt individueller Totalitäten zerstreut, muss die Einheit, in der sich dieser Pluralismus nach Begriffen der Subjektphilosophie „aufhebt“, selber als individuelle Totalität und Inbegriff einer den Weltprozess als solcher steuernden Gesetzmäßigkeit gedacht werden.
 
In der auf Hegel folgenden Zeit verabschiedet sich der absolute Geist. Das nachhegelsche Denken lernt (im Unterschied zum Empirismus) die Tätigkeit einer situierten Vernunft gleichzeitig aus der Perspektive des Teilnehmers zu rekonstruieren und aus der Perspektive des Beobachters in ihrem jeweiligen Kontext zu beschreiben.
 
Doch das Thema „Vernunft in der Geschichte“ ist damit nicht erledigt. Die Schüler Hegels nahmen nach dem Ende der Geschichtsphilosophie das Thema unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens wieder auf. Junghegelianer wie David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach bis hin zu Bruno Bauer haben sich von den Grundannahmen des absoluten Idealismus verabschiedet und haben den Weg der Religionskritik gewählt, um das Gebäude der performativ erneuerten Metaphysik abzureißen. Diese radikale Religionskritik führt die Nachfolger Hegels auf die Bahn eines nicht mehr an das Paradigma der Bewusstseinsphilosophie gebundenen nachmetaphysischen Denkens. Sie können nun die Totalität der Welt nicht mehr zum Gegenstand einer Theorie machen. Fortan verblasst der aus der Wir-Perspektive vergesellschafteter Subjekte geprägte Totalitätsbegriff zum intuitiv gegenwärtigen lebensweltlichen Hintergrund; dieser behält seine inspirierende Kraft in den historisch-hermeneutischen Geistes- und Sozialwissenschaften. Allerdings zeichnet sich die Produktivität der Hegelschüler eher durch innovativ-anstoßendes und fragmentarisch-stürmisches als durch systembildendes Denken aus. Die anhaltendende Zeitgenossenschaft der deutschen Junghegelianer beruht darauf, dass sie mit den Voraussetzungen des Idealismus brechen und trotz der entschiedenen Wendung zum materialistischen und historischen Denken an wesentlichen Elementen eines nichtempiristischen Vernunftbegriffs festhalten.
 
Uns Heutigen, die Hegel nicht mehr folgen können, bleibt lediglich,  aus einer ungewissen Fortsetzung jener Art von falliblen Lernprozessen, die in der Geschichte ihre Spuren hinterlassen haben, Hoffnung und Ermutigung zu schöpfen.