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INTERVIEW

Brunkhorst, Hauke: Gefahren für die Demokratie.

„Auslaufmodell Demokratie?“ lautete das Thema der Zürcher Tagung zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas. Wer hat dabei Gefahren für die Demokratie gesehen und welche?

Die Völkerrechtler (Bogdandy, Koskenniemi) haben die Entkopplung der immer umfassenderen und umfangreicheren Jurisdiktion der internationalen Gerichtsbarkeit und überhaupt der international agierenden Klasse juristischer Experten als Gefahr für die Demokratie und einer neuen Form technokratischer Expertenherrschaft erkannt. In der Terminologie von Habermas lässt sich diese Entwicklung als Musterbeispiel einer (expertokratischen) Kolonialisierung der Lebenswelt beschreiben. Sie ist eine Gefahr für die Demokratie, weil eine von demokratischer Gesetzgebung entkoppelte Jurisdiktion und transnationale Administration zumeist eher vage und flexible Vorgaben und nur schwach eingegrenzte Generalermächtigungen konkretisieren muss. Eine solche Verselbständigung von Jurisdiktion und Administration führt zwar zu Verrechtlichung und rule of law, aber kaum zu mehr demokratischer Legitimation. Sie führt gewiss zu neuen Formen des Regierens ohne Regierung, aber nie und nimmer von allein zu demokratischem Regieren, zumindest nicht, worauf Michael Zürn in der Diskussion aufmerksam machte, ohne die Weiterentwicklung, den massiven Druck und erkennbare institutionelle Erfolge der sozialen Bewegungen, die sich heute in einer globalen Zivilgesellschaft zum Teil doch recht eindrucksvoll herausbilden.

Seyla Benhabib hat in ihrem eindrucksvollen Abendvortrag versucht, solche Beobachtungen mit der Idee demokratischer Iterationen theoretisch aufzurüsten und mit einem demokratischen Experimentalismus jenseits des Nationalstaats und nationaler Repräsentation zu verbinden. Bisher jedoch tendiert die expertokratische Kolonialisierung der Lebenswelt freilich weit mehr dazu, die partikularen Interessen von Funktionseliten und Exekutivspitzen, mächtigen Wirtschaftsunternehmen und Hegemonialmächten zu stärken und umgekehrt die ohnehin organisationsunfähige Peripherie, mehr und mehr aber auch die im Nationalstaat zurückgebliebenen Mehrheitspopulationen sozial, politisch und kulturell zu schwächen und zu marginalisieren. Während die expertokratische Kolonialisierung der Lebenswelt die Schere zwischen wachsender Verrechtlichung und wachsender Entdemokratisierung der Weltgesellschaft immer weiter öffnet, führt die neoliberale episteme, die zur Vernunft oder Unvernunft der Weltgesellschaft geworden ist, zu einer ökonomischen Kolonialisierung und Kommodifizierung der sozialen Lebenswelt.

Auf dem zweiten Panel zur Weltwirtschaftskrise hat Jens Beckert gezeigt, dass die Schließung der globalen Märkte, die zur nahezu vollständigen Abhängigkeit der Staaten von der Weltwirtschaft geführt hat, erst in Kombination mit der inneren Kolonialisierung nahezu aller bisher nicht marktförmigen Gesellschaftssphären (Gesundheitswesen, Bildungssystem, Universitäten usw.) zur Vernichtung derjenigen nichtökonomischen und nicht-marktförmigen Voraussetzungen der Marktwirtschaft führt, die diese mit ihren eigenen Mitteln (der Warenproduktion) nicht selbst erzeugen kann. Dann wird es in der Tat ökonomisch absurd, sich noch länger an eine biedere Kaufmannsmoral zu halten und die ökonomischen Akteure müssen „bei Strafe ihres Untergangs“ (Marx) mit ungedeckten Milliardenschecks so agieren, dass die Blase immer größer und die Krise unvermeidlich wird. Interessant war diese Analyse auch deshalb, weil sie ohne zu moralisieren, zeigte, wie der global verselbständigte Turbokapitalismus die gesellschaftlichen Voraussetzungen der kapitalistischen Marktwirtschaft, von denen sie lebt, die postkonventionelle Moral und das positive Recht zerstört. Bei Marx hieß das Subsumtion der lebendigen unter die tote Arbeit. Auch hier zeigte sich, dass eine der großen Stärken der Theorie von Habermas nicht etwa in der Überwindung, sondern in der generalisierenden Fortführung des Marxismus der Frankfurter Schule besteht.

Claus Offe beschrieb den Grundwiderspruch des siegreichen Kapitalismus in den dazu passenden systemtheoretischen Kategorien so, dass der autoritäre Staatssozialismus zwar alle Handlungsmacht im Staat konzentriert hatte, sich aber durch dogmatische Schließung der Möglichkeit rationaler Selbstbeobachtung beraubt hatte, während der seit den 1970er Jahren erfolgreich globalisierte Kapitalismus zwar alles frei und rational beobachtet und weiß, was er wissen kann, sich aber durch die Selbstenthauptung der Staatsmacht an eine Wirtschaftsweise ausgeliefert habe, die aus strukturellen Gründen zur Selbstkorrektur unfähig ist. Düstere Aussichten, zwingt die Finanzkrise, zumal wenn ihr auch noch, wie es scheint, die klassische Überproduktionskrise folgen sollte, zur Mobilisierung der letzten Handlungskompetenzen des Staates. Wenn es dann wieder aufwärts geht, folgt der Finanzkrise die fiscal crisis, die einen ohnmächtigen Staat und ebenso ohnmächtige Internationale Institutionen zurücklässt. Statt Demokratie und Sozialstaat gäbe es dann überall failed states und „Räuberkapitalismus“ (Max Weber). Afrika, Afghanistan und Irak als Zukunft Europas, Asiens und Amerikas.

Hatte man Ideen, wie man diesen Gefahren begegnen kann? Welche Konzepte wurden präsentiert?

Spitzt man die Dinge so zu wie Beckert und vor allem Offe, dann sind eigentlich keine Handlungsperspektiven zu erwarten. Da wir aber immer noch nicht in einer Luhmannschen Systemwelt leben, in der jede Intervention alles nur noch schlimmer machen würde und wir ja wissen, dass die Weltwirtschaftskrise nicht durch politische Herrschaft über die Märkte und ihre negativen Externalitäten entstanden ist, sondern aus durchaus planmäßiger, ja, planwirtschaftlicher Liberalisierung und Entgrenzung, gibt es natürlich Alternativen eines „radikalen Reformismus“ (Habermas), mit denen man es zumindest versuchen kann und muss, denn zum Handeln gibt es, da auch Nichthandeln Handeln ist, ohnehin keine Alternativen. Bei den Juristen war es noch relativ einfach. Während der Protagonist der (ehemaligen) critical legal studies, Martti Koskenniemi, mit einer eher radikalen Strategie der postprofessionellen Subversion von Expertenkulturen auf die expertokratisch-juristische Kolonialisierung der Lebenswelt antworten wollte und dazu mehr amateurish international law a la Kant und Habermas empfahl, setzte Bogdandy auf einen konsequenten Reformismus, um die demokratische Legitimation internationaler Gerichte Schritt für Schritt zu verbessern. Wahrscheinlich sollte man beides machen. So schnell waren Alternativen angesichts der ja noch völlig offenen Weltwirtschaftskrise nicht zur Hand, aber auch hier lag zumindest nahe, mit Habermas zu argumentieren, wenn ohnehin niemand definitiv wisse, was aus dem jetzt plötzlich ubiquitär gewordenen keynsianischen Handeln und Intervenieren werde und das Risiko für alle Alternativen, die Geld in den Markt pumpen würden, gleich sei, sei kaum einzusehen, warum die Investitionen ausgerechnet jetzt tauschwertorientiert (und im Interesse des Kapitals) eingesetzt werden sollten (Abwrackprämie, sekundäre Landesbanken, Bautenrenovierung) statt sie in langfristig wirksam bleibende Gebrauchwerte, in homeless people, Kindergärten, Schulen, Universitäten, Zeitungen, werbefreies Fernsehen usw. zu stecken.

„Probleme und Möglichkeiten demokratischer Selbstbestimmung“ lautete der Anfang des Untertitels. Wie steht es mit den Möglichkeiten?

Wie ich schon sagte, schlecht. Aussichtslos ist die Lage jedoch nicht. Die Verrechtlichung und (postdemokratische) Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft kommt zwar der Bildung einer neuen und erstmals transnational herrschenden Klasse jenseits demokratischer Egalität und Kontrolle entgegen, schafft aber auch die institutionellen Voraussetzungen, ohne die jede Hoffnung auf eine Globalisierung und weltgesellschaftliche Erneuerung der Demokratie wirklich leere Utopie bleiben müsste. Empirisch muss die Demokratie heute mit der Weltgesellschaft rechnen und kann sich nicht mehr in den Nationalstaat zurückziehen, so ungemütlich das ist, denn sonst werden die wichtigsten Entscheidungen auch in den besten Demokratien bald nicht mehr vom Volk, sondern von transnationalen Eliten, die eigene Interessen verfolgen, getroffen. Und normativ gibt es zur Globalisierung der Demokratie sowieso keine Alternative, denn die westlich oder nordwestlich zentrierte Demokratie bedeutet nur für deren Bewohner den „Ausschluss von Ungleichheit“, aber setzt bis heute die Ungleichheit der anderen im Süden und im Osten voraus. Ein demokratischer Skandal, an den Seyla Benahbib im Zusammenhang des Europäischen Staatsbürgerrechts zur Recht erinnert hat.

„… in der postnationalen Konstellation“ endet der Untertitel. Ist man denn tatsächlich einhellig der Meinung, dass wir auf eine postnationale Zeit zusteuern?

Nein, einig ist man sich da, glaube ich, nicht. Offe und Beckert z. B. setzen sehr viel stärker auf den Nationalstaat als Habermas oder Benhabib. Als empirische Annahme ist die Selbstbeschreibung „postnationale Konstellation“ freilich kaum bestreitbar. Der Staat selbst ist ja durch die Entkolonialisierung der 1960er und die Entsowjetisierung der 1990er Jahre zu einem globalen Subsystem geworden, das buchstäblich jeden Quadratmeter kontinentaler Landmasse in Staatsterritorium verwandelt hat, und diese gewaltige Globalisierung des Staats selbst war zweifelsohne eine Leistung der internationalen Gemeinschaft und ihrer Gemeinschaftsinstitutionen. Heute muss man deshalb von einem Kontinuum nationaler und inter-, trans- und supranationaler Organgewalten, nationalen und internationalen Rechts ausgehen, die sich wechselseitig durchdringen. Zwar spielt der Nationalismus seit den 1990er Jahren wieder eine verstärkte Rolle, aber auch das Züricher Panel von Joas und Heitmeyer am Ende der Konferenz zeigte doch nur, dass es sich auch beim Nationalismus und seinen aggressiven Ausprägungen schon lange nicht mehr um eine nahezu konkurrenzlose Zentralideologie handelt, und sie deckt sich auch schon lange nicht mehr mit den Grenzen von Staaten, sondern hat sich, wie die Religion, selbst globalisiert. Die Entwicklung einer Welt und einer, übrigens durch und durch säkularen Weltkultur bringt ja die vielen (säkularen und religiösen, nationalen und kosmopolitischen) Kulturen nicht etwa zum Verschwinden, sondern überhaupt erst hervor und erzeugt fast täglich neue, oder neue alte (z. B. Altfriesisch als neue Schriftsprache).

Es waren viele Schüler von Habermas an der Tagung beteiligt. Welche Rolle hat die Diskursethik bei den Diskussionen gespielt?

In Zürich und auch bei der Konferenz in Pécs hat die Diskursethik eigentlich nur eine Nebenrolle gespielt und blieb eher im Hintergrund, war jedenfalls kein Thema. Das entspricht aber durchaus ihrem Ort in einer Gesellschaftstheorie mit starken normativen Implikationen, und das ist die Theorie von Habermas, denken Sie nur an die „Theorie des kommunikativen Handelns“, die zwei konkurrierende Paradigmen der Soziologie (Handeln und System) integrieren möchte, denken Sie an die zentrale und heute oft vergessene Stellung der Evolutionstheorie („Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“) oder and die Rechtstheorie („Faktizität und Geltung“), die einerseits Rechtsphilosophie und diskurstheoretische Begründung ist, andererseits jedoch klar eine Alternative zu Parsons und Luhmann darstellen möchte und Theorie der sozialen Systeme Recht und Politik ist.

Europa ist gegenwärtig eines der Hauptthemen von Habermas. Wie sah man die Zukunft der Europäischen Union von außen?

Gute Frage, dass die Leute in Zürich von außen auf die EU blicken, ist selbst schon ein ziemlich kompliziertes völkerrechtliches und europarechtliches Problem, und als Europäer verstehen die Schweizer sich trotz aller Neutralität und Globalität ja sowieso. Vor allem gibt es kaum eine europäische Norm, die von der Schweiz trotz Nichtmitgliedschaft in der EU nicht in nationales Recht umgesetzt würde und sogar umgesetzt werden müsste (wegen der vielen Einzelverträge mit der EU). Außerdem haben die Schweizer jetzt sogar, wenn ich die Zeitungen richtig verfolgt habe, die Personenfreizügigkeit, die den materiellen Kern des Europäischen Bürgerrechts ausmacht. Da ist es fast schon komisch, dass sie kein Wahlrecht und keine Kommissions- und Ratsmitglieder haben. Aber ein bisschen blicken die Schweizer doch von außen auf die Union, und sie vergleichen sie zu Recht mit der Verfassung der Schweiz, die ja wie die Europäischen Verträge Unionsbürgerschaft (Eidgenossenschaft) und nationale Bürgerschaft (Kantonsbürgerschaft) von vornherein teilen, ihre Verfassung also mit einer Unterscheidung und nicht mit einer postulierten Einheit beginnen lassen. Aber dann sehen sie natürlich, dass auch eine solche föderale Verfassung wie in der Schweiz sehr radikal demokratisch sein kann, was die der EU gewiss nicht ist.

Ein weiteres Thema waren die „kulturellen Grundlagen der Demokratie“. Wie steht es damit?

Das war das letzte Panel in Zürich mit der Religion und dem Rechtsradikalismus. Da die FAZ schon wieder eine müde, sprachlose Abwehrgeste von Habermas in der Diskussion als Einheit von Gott, Papst und Diskursethik verstanden wissen wollte, sollte man hier doch einmal ganz klar sagen, dass Habermas nicht wie Böckenförde, der Carl Schmitt-Schüler und Oberheilige unserer evangelischen und katholischen Akademien, glaubt, die moderne Gesellschaft zehre von Voraussetzungen, die sie nicht selber geschaffen habe. Die soziale Lebenswelt, die uns, ob wir das wollen oder nicht, konstituiert, ist durch und durch modern und entzaubert, und sie enthält nun einmal alle Sinnressourcen, die es gibt. Die Lebenswelt ist eine unübersteigbare Totalitätskategorie. Sie enthält alles implizite Wissen, über das wir verfügen können. Anderes gibt es nicht. Deshalb sprudeln die lebensweltlichen Quellen einer durchrationalisierten Kultur ebenso in der Systemtheorie wie in der katholischen Theologie. Es ist also eher umgekehrt wie in dem viel zu oft zitierten Böckenfördesatz: jede noch so radikale, auch die islamistische Distanzierung von der modernen Gesellschaft lebt von deren säkularen Sinnressourcen und muss davon leben und, wie man sieht, kann auch davon leben. Noch die Kriegserklärung gegen die moderne Gesellschaft im Ganzen und die Selbstmordattentäter schöpfen ihre fatale Kraft allein aus den säkularen Sinnressourcen der modernen Lebenswelt, aus denen sie auch noch ihre religiösen und antimodernen Hoffnungen rekonstruieren müssen. Die moderne Lebenswelt ist in diesem Sinne unhintergehbar.

Eine andere Tagung, an der Sie ebenfalls beteiligt waren, fand in Pécs (Ungarn) statt. Dort ging es um das Lebenswerk von Habermas. Im Unterschied zu Zürich hat Habermas in Pécs selbst einen Vortrag „Von den Weltbildern zur Lebenswelt“ gehalten. Worum ging es dabei?

Habermas selbst hat bei Schnupfen und großer Hitze einen langen Vortrag über den Begriff der Lebenswelt gehalten und ebenso lange und konzentriert im überfüllten Hörsaal diskutiert. Es ging da genau um das Thema der vorigen Frage, den Totalitätscharakter und die Rationalisierung der Lebenswelt. Aber in Pécs ging es während der Tagung auch um die sehr interessante und wenig bekannte Habermas-Rezeption in Ungarn und auch um die politischen Verhältnisse in diesem wichtigen Land der EU-internen Peripherie. Hier zeigte sich, vor allem nach dem Vortrag von Janos Weiß, wie fragil die kulturellen Grundlagen der Demokratie infolge der neoliberalen Konterrevolution geworden sind. In der Krise scheint die Bevölkerung nach rechts außen wegzukippen, schon deshalb, weil Politiker, die an der Macht und deren Köpfe vom Glauben an die Wunderkräfte des freien Weltmarkts verseucht sind, keine Alternative mehr entwickeln können und nur noch die immer kleiner werdende Schar der Globalisierungsgewinner repräsentieren. Das deckt sich beängstigend mit den Befunden von Heitmeyer auf der Züricher Konferenz über den deutschen (und gesamteuropäischen) Rechtsradikalismus und die zumindest latent immer bedrohlicher werdende Lage im Osten.

In Pécs haben viele ungarische Philosophen vorgetragen und Habermas hat geantwortet. Wie sieht man Habermas in Ungarn?

Ja, hier gibt es eine lange Verbindung, die bis in die 1960er Jahre und die Treffen der Praxisphilosophen, Heideggermarxisten und Lukacsschüler in Korcula im damaligen Jugoslawien zurückgeht und zum Teil in New York (mit Andrew Arato und Agnes Heller) Fortsetzungen fand und jetzt wieder aufgenommen wird. Auf einer Ausflugsfahrt im Bus saß ich neben Agnes Heller, deren 80. Geburtstag auch gerade in Ungarn zelebriert worden ist. Da sagte sie mir, dass sie den Vortrag von Habermas großartig fand und besser als das meiste aus den letzten Jahrzehnten. Aber früher in Korcula, da seien sich noch alle, auch Habermas, einig gewesen, dass es in der Philosophie um das Schicksal des Menschen im Ganzen ginge und die Philosophie hier ein Wissen erreichen könne, das den Einzelwissenschaften fremd bleiben müsse und an das sie nicht wirklich heranreichen könnten. Das sei heute und auch bei Habermas verloren gegangen. Vielleicht, ja, wahrscheinlich, sagte sie etwas resigniert, sei das notwendig gewesen, aber es sei doch ein Verlust.

Robert Brandom hat Habermas mit Hegel verglichen. Wie hat er das gemacht?

Ganz einfach, indem er Hegel als pragmatistischen Evolutionisten verstanden hat, der unser praktisches Freiheitsbewusstsein und seine Entwicklungsgeschichte in ihrem gesellschaftlichen Kontext rekonstruiert und dabei weder ein Telos der Geschichte noch einen Abschluss in absoluter Erkenntnis habe voraussetzen müssen. Also, nachdem Brandom in einer brillanten Interpretation die (freilich offensichtlichen) Unterschiede von Geist und Gesellschaft, Bewusstsein und Praxis, Erkenntnis und Kommunikation zum Verschwinden und Hegel den absoluten Geist ausgetrieben, damit alle Differenzen von Hegel und Marx beseitigt hatte, zeigte sich, dass Hegel schon immer wie Habermas in „Erkenntnis und Interesse“ gedacht hatte. Habermas bedeutende Leistung bestand demzufolge darin, explizit zu machen, was bei Hegel implizit und in dunkleren Kategorien verborgen gewesen sei, also Brandoms eigene methodische Einsicht kongenial vorwegzunehmen und philosophiegeschichtlich frühzeitig nutzbar zu machen, Brandom selbst damit auch den Weg zu ebnen. In dieser Perspektive erscheint Habermas nicht ganz unplausibel als ein wesentlicher Schritt auf dem langen Weg des Begriffs von Hegel zu Brandom, oder dem langen Weg der Phänomenologie von Hegel zu sich selbst, auf dem dieser seine eigenen Voraussetzungen mit Hilfe von Autoren wie Habermas und Brandom in den philosophischen Diskurs der Moderne einholt, indem er sie expliziert und intersubjektiv kritisierbar macht.

Wie haben Sie Habermas auf den beiden Tagungen erlebt?

In Hochform. Besonders in Zürich, wo die Konfrontation mit den Sachproblemen der Sozial- und Rechtswissenschaften ihn sichtlich begeistert hat.

„Weltmacht Habermas“ titelt die „Die Zeit“ ganz groß. Wieviel kann ein Intellektueller wie Habermas in der Welt tatsächlich bewegen?

Fast nichts, wie jeder Intellektuelle. Das heißt nicht, dass Ideen ohne Einfluss sind, manchmal, in den ganz wenigen revolutionären Zeiten, sind sie sogar Weichen stellend, wie Max Weber sagt. Aber das hängt ganz gewiss nicht an einzelnen intellektuellen Meisterleistungen. Die Ideen der Demokratie, der Menschenrechte und der Verfassung, die in den großen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts in der Tat historische Weichen gestellt haben, sind nicht von Kant oder Rousseau, auch nicht von dem großen Sieyes, so nah er der Verfassungswirklichkeit und der Macht damals auch war, erfunden, sondern in der Evolution vorgefunden worden. Der Titel der Zeit ist einfach idiotisch und nur die ideologische Kehrseite des naiven Realismus ihres Chefredakteurs oder Herausgebers Joffe.

Die ganze Presse ist des Lobes voll über Habermas, dem wir uns anschließen. Doch fragen wir etwas kritisch: Hat Habermas aktuell werdende Themen und anschließenden Debatten jeweils selbst früh gesehen und angestoßen, oder hat er sich rechtzeitig in beginnende Debatten eingemischt und seine Position rechtzeitig wieder verlassen?

Alles drei, mal dies, mal das, mal gar nicht. Er hat trotz allem Gespür für den Zeitgeist auch mal eine Debatte verschlafen. Aber bis heute gelingt es ihm immer wieder, wichtige Sachen, die zu unseren öffentlichen Angelegenheiten gehören, konfrontativ zu thematisieren. Und darauf kommt es an. Neue Ideen kommen nie von einzelnen Genies, sie erschließen sich immer erst in und nach heftigsten Konfrontationen und Kämpfen, in der Wissenschaft nicht anders als in der Politik. Die Frankfurter Feuilletonredaktion der FAZ gerät ja heute noch, sogar zum 80. Geburtstag, in Rage über die schmähliche Niederlage der Rechten im Historikerstreit und versucht immer mal wieder, nachzubessern. Mehr Wirkung kann man als Intellektueller gar nicht haben. Nach 25 Jahren noch schnaubende Provinzredakteure.

Habermas ist ein Philosoph, der sowohl in der Fachwelt wie auch in der Öffentlichkeit breite Anerkennung findet. Vor ihm traf dies für einige andere Philosophen zu – man denke an Jaspers, Adorno, Popper oder Heidegger. Nach Habermas sieht man bis jetzt keinen vergleichbaren Nachfolger. Ist er vielleicht der letzte Vertreter eines solchen Typus von Philosophen, und wenn ja, was bedeutet das für die Gesellschaft?

Ja, das weiß ich nicht. Ich bin skeptisch, wenn ein alter Mann als der letzte wahre Philosoph ausgerufen wird und nach ihm nichts Nennenswertes kommen soll. Das erweist sich ja meist schon nach ein paar Stunden als falsch, und ich sehe auch nicht recht, worauf es sich aktuell überhaupt gründen sollte. Natürlich ist, dank der viel geschmähten Bildungsreformen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, das intellektuelle Niveau heute sehr viel breiter geworden und reicht bis in die Klasse der Politiker, und die Journalisten stehen den Wissenschaftlern ja kaum noch in irgendetwas nach, können nur mehr und sind so brillant wie nie zuvor in der Geschichte. Das gilt sogar für die FAZ. Da haben Popper, Jaspers und so weiter denen nichts mehr voraus. Nur leider dringt das allen nicht mehr in die abgeschirmte Welt des höchst bezahlten Hochglanzjournalismus der schrecklichen talk shows, die jede ernsthafte Debatte buchstäblich abwürgen. Hier stimmt die Verfallstheorie ausnahmsweise einmal.

Sie geben ein Habermas-Handbuch heraus, das in diesen Tagen erschienen ist. Welches Gesamtbild von Habermas wird darin vermittelt?

Keine Ahnung. Ich gebe es auch nicht alleine heraus, sondern zusammen mit Regina Kreide und Cristina Lafont. Wir haben uns bemüht, passable Autoren zusammenzukriegen, das ganze einigermaßen plausibel in Abteilungen verwalteter Wissenschaft zu zerlegen und den Autoren keine allzu engen Vorgaben zu machen, so dass die Subjektivität bei aller Wissenschaftsverwaltung noch erkennbar bleibt. Aber so ein Handbuch objektiviert eine Theorie und entzieht sich auch der Herrschaft der Herausgeber, ob es sich nun in die richtige oder in die falsche Richtung objektiviert, kann man noch nicht sagen, wenn man es gerade fertig hat. Ich muss es erst noch mal lesen und anschauen.


Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an der Universität Flensburg. Die Fragen stellte Peter Moser.