PhilosophiePhilosophie

EDITIONEN

Foucault, Geschichte der Gouvernementalität

MICHEL FOUCAULT

Im selben Jahr, in dem französische Erstveröffentlichung bei den Editions Gallimard erschien, hat der Suhrkamp-Verlag in einer zweibändigen Ausgabe die Vorlesung veröffentlicht, die Foucault 1977-1978 am Collège de France über die Geschichte der Gouvernementalität hielt:

Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Herausgegeben von Michel Sennelart. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder. 600 S., Ln., 2004, Ln € 38.—, kt. € 18.—, stw 1808, 2006, Suhrkamp, Frankfurt.

Sicherheit

Die Vorlesung heißt „Sicherheit, Territorium, Bevölkerung“. Was aber versteht Foucault unter „Sicherheit“? Sicherheit ist ein Mittelwert für ein soziales Funktionieren. Dies ermöglichen drei Modalitäten:
Die erste besteht darin, ein Gesetz zu erlassen und für denjenigen ein Strafmaß festzusetzen, der dagegen verstößt. Es ist dies das System des rechtlichen Gesetzbuches mit der binären Aufteilung zwischen dem Erlaubten und Verbotenen und einer Koppelung durch den Typ Bestrafung.
Die zweite Modalität ist der Disziplinarmechanismus. Über die Bestrafung des Schuldigen hinaus kommt eine Reihe von angrenzenden polizeilichen, medizinischen und psychologischen Techniken zum Zug, die auf Überwachung, Diagnose und Veränderung von Individuen hinzielen.
Die dritte Modalität ist das Sicherheitsdispositiv. Das Vergehen wird ins Innere einer Reihe wahrscheinlicher Ereignisse eingegliedert und mit einer Kostenkalkulation versehen. Anstatt die binäre Aufteilung zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen zu begründen, wird zum einen ein Mittelwert, zum anderen Grenzen des Akzeptablen, die nicht überschritten werden dürfen, festgelegt.
Die Folge ist eine Inflation des juridisch-rechtlichen Gesetzbuches, um das Sicherheitssystem in Gang zu setzen. Um die Sicherheit zu garantieren, ist man gezwungen, eine ganze Serie von Überwachungstechniken in Anspruch zu nehmen. Überwachungstechniken von Individuen sind Klassifizierungstechniken ihrer mentalen Struktur, ihrer charakteristischen Pathologie usw. Das grundlegende Problem ist das ökonomische Verhältnis zwischen den Kosten der Strafverfolgung und den Kosten der Straffälligkeit.

Liberalismus

Im 18. Jahrhundert geht es dem Souverän nicht mehr so sehr darum, Grenzen zu ziehen oder Standorte zu bestimmen, sondern im wesentlichen darum, Zirkulationen zuzulassen, Zirkulationen von Leuten und Waren. Man setzt Techniken der politischen und ökonomischen Verwaltung etwa gegen den Nahrungsmangel ein. Bis zum 18. Jahrhundert suchte man den Nahrungsmangel auf merkantilistische Weise mittels niedrigen Verkaufspreises für Korn und niedrigem bäuerlichen Gewinn zu steuern. Man versuchte damit den Nahrungsmangel zu verhindern, noch bevor er Wirklichkeit wurde. Im 18. Jahrhundert brach man dieses System mit der Freiheit des Handelns und des Kornumlaufes als das grundlegende Prinzip der Regierung auf. Für Foucault beinhaltet dies eine völlige Veränderung der Regierungstechnik: Man kann das Prinzip des freien Kornumlaufes ebensogut als die Folge eines theoretischen Feldes lesen wie als eine Episode in der Wandlung der Machttechnologien und als eine Episode in der Einsetzung der Techniken der Sicherheitsdispositive. Hier tritt die Bevölkerung als neues kollektives Subjekt wie auch als Objekt zutage, auf das und gegen das man die Mechanismen lenkt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Aus dem alten Begriff des Volkes ist der der Bevölkerung geworden.

Das grundlegende Prinzip der neuen politischen Technik ist nun das des Liberalismus: Die Leute gewähren lassen, die Dinge geschehen, die Dinge laufen lassen. Das heißt, dass sich die Realität nach den Prinzipien und Mechanismen der Realität selbst entwickelt. Diese Ideologie der Freiheit, dieser Anspruch der Freiheit war eine der Entwicklungsbedingungen der kapitalistischen Form der Ökonomie. In Wirklichkeit muss diese Freiheit aber, die zugleich Ideologie und Technik der Regierung war, im Inneren der Mutationen und Transformationen der Machttechnologien verstanden werden: diese Freiheit ist nur das Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven. Ein Sicherheitsdispositiv kann nur unter der Bedingung gut funktionieren, dass ihm die Freiheit im Modernen verliehen wird: keine Abgabenfreiheit und keine Privilegien mehr, sondern die Möglichkeit von Bewegung, Umstellung, Zirkulationsvorgängen sowohl der Leute als auch der Dinge.

Der Entwurf der recht komplexen Technologie der Sicherheit kommt gegen Mitte des 18. Jahrhunderts auf. Und zwar in dem Maße, wie die Stadt ökonomische und politische Probleme aufgab. Dabei ging es um das Problem der Souveränität: Wie sollen die Zirkulationen kontrolliert, wie die schlechten aussortiert, wie bewirkt, dass stets alles in Bewegung bleibt? Es ging nun nicht mehr wie bisher um die Sicherung des Fürsten, sondern um die Sicherheit der Bevölkerung und infolgedessen derer, die es regieren.

Den Bevölkerungstheoretikern des 18. Jahrhunderts zufolge folgt die Bevölkerung nur einem einzigen Handlungsantrieb: der Begierde. Diese Begierde ist aber derart, dass sie, wenn man ihr die Möglichkeit der Entfaltung lässt, insgesamt den allgemeinen Nutzen für die Bevölkerung hervorbringt. Dies prägt die Mittel, die gegeben sind, um die Bevölkerung zu verwalten. Condillacs Ideologie, die man als Sensualismus bezeichnete, bildete das theoretische Instrument, mit dem man die Grundlage für die neue Praxis der Disziplin schaffen konnte. Man ging davon aus, dass die Bevölkerung von komplexen und modifizierbaren Variablen – von unerwarteten Ereignissen, Zufällen, individuellen Verhaltensweisen und konjunkturellen Anlässen – abhängig ist. Bei genauerer Betrachtung zeige es sich jedoch, dass diese auf den ersten Blick unregelmäßigen Phänomene in Wirklichkeit regelmäßig sind. So zeigte es sich beispielsweise, dass der Prozentsatz der Selbstmorde in London von einem Jahr auf das andere exakt derselbe war. Oder dass die Mortalität der Kinder stets höher ist als die der Erwachsenen, die Kindersterblichkeit in der Stadt stets höher war auf dem Land usw. Die Bevölkerung ist also eine Gesamtheit von Elementen, in deren Innerem man Konstanten und Regelmäßigkeiten bis in die Ereignisse hinein feststellen kann. Dies ermöglicht es, durchdachte Regierungsprozeduren aufzubieten. Foucault fasst sie unter dem Begriff „Gouvernementalität“ zusammen.

 

 


Gouvernementalität bezeichnet die aus den Institutionen, den Reflexionen, Berechnungen und Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlaubten, die Form der Macht auszuüben, die als Ziel die Bevölkerung, als Wissensform die politische Ökonomie und als technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Gouvernementalität bedeutet aber auch die Tendenz zur Souveränität und Disziplin, die zur Entwicklung von spezifischen Regierungsapparaten und Wissensarten geführt hat.

Das Pastorat

Das Pastorat beginnt mit einem Vorgang, der in der Geschichte einzigartig ist:
Eine religiöse Gemeinschaft konstituiert sich als Kirche und erhebt den Anspruch auf die Regierung der Menschen – nicht nur einzelner, sondern der gesamten Menschheit - in ihrem täglichen Leben unter dem Vorwand ihres Heils. Mit dieser Institutionalisierung einer Religion als Kirche formt sich ein Machtdispositiv, das nirgendwo sonst zu finden ist. Um diese pastorale Macht – für und gegen sie – sind eine Vielzahl blutiger Kriege geführt worden. Dabei ging es um die Frage, wer das Recht haben soll, die Menschen im Detail und in der Materialität, die ihre Existenz bildet, zu regieren. Und der unendliche Streit der Gnosis, der jahrhundertelang das Christentum gespalten hat, ist zu einem großen Teil ein Streit über den Ausübungsmodus der pastoralen Macht. Aber auch die Reformation war eher eine pastorale denn eine doktrinale Schlacht, die mit einer gründlichen Reorganisation der pastoralen Macht verbunden war. Es gab antifeudale, aber es gab niemals eine antipastorale Revolution.

Man hat die Geschichte der Doktrinen, der Glaubensüberzeugungen geschrieben. Doch eine Geschichte all der pastoralen Techniken ist noch nie geschrieben worden. Und dabei ist die ganze Organisation der Kirche, von Christus bis zu den Äbten und den Bischöfen eine pastorale Organisation.
Was beinhaltet die sakramentale Macht der Taufe? Sie besteht darin, die Schafe in die Herde zu rufen. Diejenige der Kommunion? Die geistliche Nahrung zu geben. Die religiöse Macht ist Foucault zufolge eine pastorale Macht.

Die pastorale Macht ist eine Seelenleitung und beinhaltet ein permanentes Eingreifen in die tägliche Lebensführung. Sie ist eine irdische Macht, die den Anspruch erhebt, sich auf das Jenseits auszurichten. Dabei bleibt sie verschieden von der politischen Macht, auch wenn eine Kreuzung der beiden Machtarten eine historische Realität ist. Die griechisch-römische Welt hingegen kannte keine pastorale Macht, es ist dies die Erfindung des Christentums. Es hat etwas instantiiert, was der griechischen Kultur fremd war: die Instanz des reinen Gehorsams, eine Beziehung reiner Knechtschaft. So heißt es beim heiligen Benedikt über die guten Mönche: „Sie leben nicht mehr nach ihrem freien Willen, sondern wandeln nach dem Urteil und imperium eines anderen“.

Für das Pastorat des Christentums sind vier Prinzipien konstitutiv: Der christliche Pastor, der Hirte, muss am Ende aller Tage über alle Schafe Bericht erstattet. Er muss weiter alle Verdienste und Vergehen, die seine Schafe getan haben, als eigene Tat ansehen. Und drittens, um seine Schafe zu retten, muss der Pastor es hinnehmen zu sterben, „er gibt für sie sein Leben“, wie der heilige Johannes schreibt. Indem er es hinnimmt, für andere zu sterben, wird er gerettet.
Viertes Prinzip: Die Verdienste des Hirten sind umso größer, je verlorener die Schafe sind. Der christliche Pastor handelt also in einer subtilen Ökonomie von Verdiensten und Verfehlungen, über die schließlich Gott entscheiden wird. In seinen modernen Formen hat sich das Pastorat großteils über das medizinische Wissen, seine Institutionen und Praktiken entfaltet.

Gegen das Pastorat haben sich verschiedene Gegen-Verhaltensformen entwickelt. Sie heben darauf ab, die pastorale Macht zu disqualifizieren. Die erste Form ist die Askese. Deren Ziel besteht darin, an einen Punkt der Herrschaft zu gelangen, an dem jegliche Versuchung gleichgültig wird. Dies ist völlig unvereinbar mit einer Pastoratsstruktur, die einen permanenten Gehorsam und einen Verzicht auf den Willen verlangt: Gehorsam und Askese sind zutiefst verschieden. Die zweite Form ist die der Gemeinschaften. Die Sakrament-Macht, die von der Kirche für ihre Priester entwickelt wurde, wird in den verschiedenen sich entwickelnden religiösen Gemeinschaften in Frage gestellt. Das dritte Element des Gegenverhaltens ist die Mystik. Die Seele erkennt sich in der Mystik selber. Sie erkennt sich in Gott und kennt Gott in sich selbst. Sie gibt sich dem anderen nicht in einer Prüfung oder einem System von Geständnissen zu erkennen.

Der Durchbruch der gouvernementalen Vernunft

Die Form der pastoralen Regierung Gottes über die Welt hat die Form einer finalistischen Welt, einer anthropozentrischen Welt, einer Welt der Wunderwerk und Zeichen, einer Welt der Analogien und Chiffren. Diese Welt verschwindet Foucault zufolge zwischen 1580 und 1650. In dieser Zeit entwickelt sich ein völlig anderes Thema. Es entsteht die Kunst die Regierung, die nun nicht mehr im Zeichen der pastoralen Macht, sondern im Zeichen der Staatsräson betrieben wird. Derjenige, der regiert, muss die Elemente kennen, welche die Aufrechterhaltung des Staates ermöglichen. Ein wichtiges Hilfsmittel hierzu ist die entstehende Statistik. Sie bedeutet etymologisch die Kenntnis der Kräfte und Ressourcen, die einen Staat in einem gegebenen Moment charakterisieren. Foucault nennt diese Entwicklung den Durchbruch der „gouvernementalen Vernunft“. Sie hat eine bestimmte Weise zu denken, zu räsonieren und zu berechnen zur Folge. Innerhalb dieser Vernunft fungiert der Staat als ein Ziel, d.h. als das Resultat von aktiven Interventionen, durch diese Vernunft erreicht werden soll. Die Regierungskunst besteht nun nicht mehr darin, einem bestimmten Wesen treu zu bleiben, sondern darin, Kräfteverhältnisse in einem Raum der Konkurrenz zu handhaben. Wichtiges Kalkül und Technik hierbei ist das, was man damals „Polizei“ nannte, eine Institution, die sich um die Einhaltung der vielen neu geschaffenen Verordnungen kümmert. Hinzu kommen als weitere Bestandteile der Gouvernementalität die Verwaltung, die Ökonomie, die Rechtsprechung, der diplomatische sowie der militärische Apparat.

Der zweite Band der „Geschichte der Gouvernementalität“ (518 S., Ln. € 28.—, 2004, kt. € 17.—, 2006, stw 1809, beide Bände zusammen Ln. € 69.80, Suhrkamp) bringt Foucaults Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Foucault setzt damit seine Untersuchung zur modernen Regierungsform fort, die sich im Prinzip der Staatsräson manifestiert.

Die Staatsräson ist eine Rationalisierung der Praxis, die zwischen dem Staat als dem Gegebenen und dem Staat als dem Herzustellenden oder zu Errichtenden angesiedelt ist. Die Regierungskunst bestimmt ihre Regeln und rationalisiert ihre Praxis, indem sie sich sozusagen als Ziel vornimmt, das Seinsollen des Staates in ein Sein zu verwandeln. Der Regierende muss dabei eine gewisse Zahl von Prinzipien und Regeln respektieren, die den Staat überragen oder ihn beherrschen und die ihm äußerlich sind: die göttlichen, moralischen und die natürlichen Gesetze.

Der Staat existiert nur im Plural, als Staaten. Diese haben in besonderen Regierungsweisen Existenz angenommen. Zuerst war es auf der wirtschaftlichen Seite der Merkantilismus. Nach diesem soll sich der Staat a) durch die Akkumulation von Geld bereichern, b) durch das Wachstum der Bevölkerung stärken und c) in einem Zustand der ständigen Konkurrenz mit den fremden Mächten halten. Die zweite Regierungsart ist die des Polizeistaates. Sie beinhaltet die unbegrenzte Regulierung des Landes nach dem Modell einer straffen städtischen Organisation. Die dritte bezeichnet Foucault als europäisches Gleichgewicht. Sie beinhaltet die Einrichtung einer ständigen Armee und einer ebenfalls ständigen Diplomatie. Diese drei Regierungsweisen sind das Merkmal der neuen Regierungskunst, die sich um das Prinzip der Staatsräson gründete. Der Staat ist kein seelenloses Ungeheuer, sondern das Korrelat einer bestimmten Weise zu regieren.

Mit der Staatsräson gesteht man zu, dass jeder Staat seine Interessen hat, dass er seine Interessen verteidigen muss, dass es aber nicht sein Ziel sein darf, am Ende der Zeiten ein globales Imperium zu erlangen. Diese äußere Selbstbeschränkung der Staatsräson zeigt sich im 17. Jahrhundert in der Bildung der diplomatisch-militärischen Apparate.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt sich die neue Regierungsform der gouvernementalen Vernunft durchzusetzen. Ziel ist nun nicht mehr das Wachstum des Staates an Kraft, Reichtum und Macht, sondern von innen her die Ausübung der Regierungskunst zu begrenzen. Die Regierungshandlung markiert eine Aufteilung zwischen dem Gebotenen und dem Verbotenen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts begrenzt die politische Ökonomie die gouvernementale Vernunft. Die politische Ökonomie denkt vom Gesichtspunkte ihrer Wirkungen über die Regierungspraxis nach. Sie wurde im Diskurs der Ökonomen begründet und sie geht davon aus, dass die Preise einen Wahrheitsstand bilden, der es ermöglicht, bei den Regierungspraktiken die richtigen von den falschen zu unterscheiden. Der Markt wird bestimmen, dass eine Regierung sich nach der Wahrheit richten muss, um eine gute Regierung zu sein. Die Fragen zuvor waren: Regiere ich in Übereinstimmung mit den moralischen, natürlichen und göttlichen Gesetzen?

Dennoch bestand zwischen dem Nützlichkeitskalkül der Regierung und der grundlegenden Axiomatik der Menschenrechte eine Verbindung. Sie besteht in der juristischen Begrenzung der Macht der Regierung und sie beinhaltet die Geschichte des europäischen Liberalismus und die Geschichte der öffentlichen Macht im Abendland. Die gouvernementale Vernunft muss auf Interessen achten, sie beinhaltet ein komplexes Spiel zwischen individuellen und kollektiven Interessen, zwischen dem Gleichgewicht des Marktes und der Herrschaft der öffentlichen Gewalt. Die Regierung, die sich die neue gouvernementale Vernunft zu eigen macht, ist eine, die mit Interessen umgeht.

Die Konkurrenz zwischen den Staaten bedeutete für den Merkantilismus, dass der Reichtum eines Staates vom Reichtum der anderen Staaten abgezogen werden muss: man kann sich nur auf Kosten der anderen bereichern. Nun zeichnet sich etwas anderes ab: Europa als kollektives Wirtschaftssubjekt, das auf dem Weg des unbegrenzten wirtschaftlichen Fortschritts vorankommen muss. Diese Idee des Fortschritts ist ein grundlegendes Thema im Liberalismus.
In Europa und um Europa herum muss ein immer weiter ausgedehnter Markt geschaffen werden, der schließlich zu einem Weltmarkt wird. Auf der anderen Seite ist es die Devise des Liberalismus, „gefährlich zu leben“. Die Individuen müssen darauf konditioniert werden, ihre Situation als Träger von Gefahren zu empfinden. Es braucht ein Krisenbewusstsein im Ausgang von der Festlegung der Kosten, die die Ausübung der Freiheit mit sich bringt. Eine direkte Konsequenz daraus ist eine gewaltige Ausdehnung von Verfahren der Kontrolle, was aber zu einer Beschränkung der Freiheit führt.

Die Staatsphobie ist eines der wichtigsten Zeichen der Krise der Gouvernementalität. Im 20. Jahrhundert wurde sie insbesondere durch das politische Exil, das politische Dissidententum verbreitet. Der Staat ist nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten. Foucault zeigt dies am Beispiel Deutschlands.

Hier haben wir das Gegenteil eines geschlossenen Handelsstaates, wir haben vielmehr einen radikal ökonomischen Staat: seine Wurzel ist vollkommen ökonomisch. „Soviel Wettbewerb wie möglich und Planung im gerechten und notwendigen Maße“, verkündete 1955 Karl Schiller, und dies wurde fortan die Formel der deutschen Sozialdemokratie. Warum gab es diese allzu leichte Anbindung der deutschen Sozialdemokratie an die Programme des Neoliberalismus? Die SPD lief Gefahr, im entstehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem ihren Platz einzubüßen. Denn die Legitimität des Staates wurde gewissermaßen erst durch den ökonomischen Rahmen sichtbar. Deshalb verschrieb sie sich völlig demjenigen Typ von wirtschaftlich-politischer Gouvernementalität, den sich Deutschland seit 1948 gegeben hatte. Und sie spielte das Spiel so gut, dass Willy Brandt Kanzler der Bundesrepublik werden konnte.
Dem Sozialismus, so Foucault, fehlte eine gouvernementale Vernunft, eine Definition dessen, was innerhalb des Sozialismus eine Rationalität der Regierung wäre, d.h. ein vernünftiges und berechenbares Maß des Umfangs der Modalitäten und der Ziele des Handelns der Regierung.

Wie kann die wirtschaftliche Freiheit zugleich eine begründende und begrenzende Rolle spielen, wie kann sie Garantie und Unterpfand für einen Staat sein? Für Foucault erfordert dies die Neuausarbeitung einer Reihe von grundlegenden Elementen in der liberalen Demokratie. Die Erfahrung des Nationalsozialismus brachte die Liberalen aus der Freiburger Schule auf den Gedanken, dass alles, was darauf aus ist, die Wirtschaft staatlich zu lenken, eine Invariante darstellt, deren Entwicklung man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verfolgen kann und die eine Technisierung der Staatsverwaltung beinhaltet, die eine Vergrößerung der Staatsverwaltung nach sich zieht, die selbst wiederum nach bestimmten Mustern der technischen Rationalität funktioniert. Und dieses Muster hat den Nationalsozialismus (und den Sozialismus) ermöglicht. Anstatt zu fragen: Wie soll der Staat die freie Marktwirtschaft begrenzen, sagen diese Liberalen: Nichts beweist, dass die Marktwirtschaft Mängel hat; alles, was man ihr als Mangel unterschiebt, ist vielmehr dem Staat zuzuschreiben. Die Liberalen setzen deshalb die Marktwirtschaft selber als Form des Staates ein. Die Frage ist nun: Was bedeutet dieses Prinzip im Hinblick auf die Regierungskunst?

Das Problem des Neoliberalismus besteht darin, wie man die globale Ausübung der politischen Macht anhand von Prinzipien einer Marktwirtschaft regeln kann. Die Neoliberalen sind dazu gezwungen, dem klassischen Liberalismus eine Reihe von Veränderungen aufzuerlegen. Die erste bestand in der Trennung der Marktwirtschaft vom politischen Prinzip des Laissez-faire: Es ging darum, einen konkreten Raum einzurichten, indem die formale Struktur des Wettbewerbs sich verwirklichen konnte. Das war aber unter dem Zeichen des Laissez-faire nicht möglich, dazu brauchte es eine aktive Politik im Sinne einer permanenten Intervention. „Die Freiheit des Marktes macht eine aktive und äußerst wachsame Politik notwendig“, schrieb etwa Wilhelm Röpke. Diese Politik sollte die dem Wettbewerb entgegenstehenden Mechanismen in der Gesellschaft aufheben. Die Gesellschaft sollte nach dem Modell des Unternehmertums gestaltet werden. Das bedeutete aber auch eine Neubeschreibung der Institution des Rechts und der Rechtsregeln. Das Wirtschaftsleben wurde als eine Gesamtheit von geregelten Aktivitäten gesehen, deren Regeln völlig verschiedenen Ebenen (sei es eine betriebliche Vorschrift, ein gesellschaftlicher Habitus, ein Gesetz oder auch eine religiöse Vorschrift) angehören konnten und deren Gesamtheit man nun „System“ nannte. Diese Sicht beinhaltet, dass die Handlungen der öffentlichen Gewalt keine Geltung haben, wenn sie nicht in Gesetze eingebettet sind, die sie im voraus begrenzen. Friedrich von Hayek hat wie kein zweiter beschrieben, was das bedeutet: Die Wirtschaft ist für den Staat wie für die Individuen ein Spiel, eine Gesamtheit von geregelten Aktivitäten, dessen Ausgang am Ende niemand kennt. Der Staat hat in dieser Sichtweise die Aufgabe, das Humankapital für die Wirtschaft durch ein effizientes Gesundheitswesen, durch eine gute Bildungspolitik usw. sicherzustellen. Er hat aber auch für kulturelle Werte zu sorgen, die einen Ausgleich für alles Kalte und Berechnende des wirtschaftlichen Wettbewerbes bieten sollen.

Gegenüber dieser Ambiguität des deutschen Ordoliberalismus ist der amerikanische Liberalismus radikal: Die ökonomische Form des Marktes wird dort verallgemeinert und das ökonomische Raster selbst zur Prüfung des Regierungshandelns und der Bemessung seiner Gültigkeit herangezogen. Aber nicht nur das: Die ökonomische Analyse wird selbst auf die Ehe, die Erziehung der Kinder und auf die Kriminalität angewandt. Der Mensch wird danach bestimmt, ob er, wie Adam Ferguson sagt, „die Wirkung hervorbringt, die er hervorbringen soll“.

Man reibe sich, schreibt Robert Jütte in der Süddeutschen Zeitung, die Augen und glaube, einen neuen Foucault zu erkennen: „Aber Foucault bleibt der Rolle des philosophischen Moderators treu. Denn indem er die Grundzüge der politischen Ökonomie des Neoliberalismus veranschaulicht, vergewissert er sich gleichzeitig, ob es auch eine dem Sozialismus, dem er anfänglich nahe stand oder für den er doch gewisse Sympathien hegte, angemessene Gouvernementalität gibt – eine Frage, die er schließlich verneinen zu müssen glaubt.“ Und Andreas Platthaus meint in der Frankfurter Allgemeinen, Foucault sei mit diesen Vorlesungen „auf dem Weg zum bislang letzten systematischen Versuch der Philosophiegeschichte“. Sein Tod habe zwar diese Absicht scheitern lassen, doch es sei verblüffend „wie sich aus den neu edierten Texten der Vorlesungen Motive neu herausschälen, die im zuvor publizierten Werk noch wie zufällige Beigaben gewirkt haben“. Es handle sich hier, schrieb Mark Terkessidis in der „Tageszeitung“, im Gegensatz zu Foucaults Büchern, um „keine schöne Lektüre: Hier wimmelt es von angedeuteten und nicht wirklich weitergeführten Gedanken und schlichten Sackgassen, in denen ganze Denkzüge einfach verschwinden“.


HEGEL

Hegels Vorlesung zur Philosophie der Kunst von 1826


Für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie der Kunst bietet dessen Vorlesung von 1826 eine hervorragende Grundlage. Annemarie Gethmann-Siefert, die beste Kennerin des Themas, hat sie in Zusammenarbeit mit Jeong-Il Kwon und Karsten Berr ediert:

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826.300 S., kt., € 10.—, 2006, stw 1722, Suhrkamp, Frankfurt

Wie sie in der Einleitung ausführt, war zur Zeit von Hegels plötzlichem Tod im Jahr 1831 die Ästhetik noch nicht abgeschlossen und von einer Veröffentlichung noch weit entfernt. Dennoch erschien sie im Rahmen der von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho veranstalteten Hegel-Gesamtausgabe. In den letzten Jahren hat sich jedoch die Gewissheit durchgesetzt, dass eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie der Kunst sich besser nicht mehr auf diese Edition der Ästhetik oder Philosophie der Kunst stützt. Zweifel am Text entstanden durch die Vorbereitungen der historisch-kritischen Ausgabe von Hegels Vorlesungen. Es stellte sich heraus, dass die Druckfassung der Vorlesungen mit den bekannten Quellen, Hegelschen Manuskripten und den studentischen Mitschriften selbst in zentralen Gedanken nicht übereinstimmt.

Nach dem Wechsel an die Berliner Universität hat Hegel insgesamt viermal über die Philosophie der Kunst gelesen. Und die Tatsache, dass er bis zu seinem Tod die geplante Ausgabe nicht realisiert hat, zeugt von einem anhaltenden Interesse am Thema: Hegel muss für seine Vorlesungen das Material und die Überlegungen zur Philosophie der Kunst nicht nur ständig erweitert haben, er dürfte sogar bis zu seiner letzten Vorlesung an seiner Ästhetik gearbeitet haben.

In den ersten drei Berliner Vorlesungen hat Hegel die Philosophie der Kunst in einen „Allgemeinen“ und einen „Besonderen Teil“ gegliedert, wobei der „Allgemeine Teil“ sowohl die Idee und das Ideal als auch die geschichtliche Konkretion des Ideals in den drei Kunstformen, der „Besondere Teil“ eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Kunstgattungen enthielt. In der letzten Vorlesung hat Hegel diesen Aufbau nochmals differenziert und an die Stelle der Zweiteilung eine Dreiteilung gesetzt, wobei er ein besonderes Gewicht auf die Bestimmung der Kunstformen, damit auf die geschichtlichen Unterschiede in Wirkung und Gestalt der Künste gelegt hat.

Von den ersten beiden Berliner Vorlesungen (1820/21 und 1823) ist jeweils nur eine Nachschrift erhalten geblieben. Von der Vorlesung von 1826 sind dagegen sowohl nachträgliche Reinschriften als auch unmittelbare Vorlesungsmitschriften bekannt. Auch die letzte Vorlesung von 1828/29 ist durch mehrere Nachschriften dokumentiert. In den beiden letzten Vorlesungen hat Hegel neben der Erweiterung des Spektrums künstlerischer Gestaltung auch den Ansatz seiner Ästhetik, den Ausgang vom Kunstschönen statt vom Naturschönen, ausführlich gerechtfertigt. Zudem diskutiert er eine ganze Reihe exemplarisch herausgegriffener Kunstwerke, um die sogenannte „These vom Ende der Kunst“, nämlich seine Behauptung, die Kunst habe im modernen Staat nicht mehr die Funktion, die Grundlagen des Staates zu stiften, sondern könne lediglich die Rolle der Bildung übernehmen, zu überprüfen.

Der „Sachstand“ der Vorlesung aus dem Sommersemester 1826 ist von besonderem Interesse, weil Hegel hier den gesamten Ansatz noch einmal überprüft hat und ihn durch die Integration einer großen Zahl von Beispielen plausibel und hinsichtlich der systematischen Konzeption „wasserdicht“ machen wollte. Hegel beschäftigt sich in dieser Vorlesung auch eingehend mit unterschiedlichen Künsten und überprüft insbesondere die Möglichkeit der (damals) gegenwärtigen Kunst, Gestaltungselemente anderer Epochen und Kulturen aufzunehmen und so eine umfassende Bildung des modernen Menschen zu gewährleisten.

Die Lektüre der Nachschrift zeigt Hegel als einen Philosophen, der seinen Ansatz prüft, möglichst weitgreifend an Beispielen exemplifiziert und dadurch die systematischen Konsequenzen als wohlbegründet ausweisen kann. Dieser Hegel ist auch erheblich spannender zu lesen als der dialektische Aufguss und die geschönten Überlegungen, die sich in der Druckfassung der Ästhetik finden.

Die Vorlesung basiert auf der Mitschrift des Studenten von der Pfordten, die den Titel „Philosophie der Kunst“ trägt, Sie umfasst 183 Seiten in sieben Heften und überliefert die die Vorlesung vollständig. Seine Mitschrift erweist sich nach Gethmann-Siefert als ein guter Einstieg in Hegels philosophische Ästhetik, der insbesondere dazu motiviert, die Kernfrage, nämlich die Frage nach der Aktualität des Versuchs einer systematischen philosophischen Ästhetik, in Auseinandersetzung mit Hegel zu erörtern.


Harald Wasser: LUHMANN. Eine systemtheoretische Vorlesung nicht nur für Systemtheoretiker

Wer die Augen schließt, blind eine Seite des Buches öffnet und mit Luhmanns Werk einigermaßen vertraut ist, der wird beim Hineinlesen sofort merken, dass hier etwas nicht stimmt. Vieles von dem, was da steht, lässt sich unerwartet einfach verstehen! Das überrascht und ist ungewohnt.
Die Lösung des Rätsels: Dieses Werk gehört nicht in Luhmanns »Gutenbergwelt«. Es handelt sich um die Abschrift einer Vorlesung nach Mitschnitten. Auch Luhmann trug seinen Hörern »seinen Stoff« anders vor als seinen Lesern. Nun kann sich endlich ein jeder davon überzeugen:

Luhmann, Niklas: Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Herausgegeben von D. Baecker, 336 S., broschiert, € 29.95, 2005, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg.

Mit seiner Vorlesung im Wintersemester 1992/93 in Bielefeld zieht Luhmann Bilanz. Er zeigt sich dabei als ein gut vorbereiteter Professor, der das angeblich von ihm bewohnte kafkaeske Schloss verlässt und immer wieder versucht, sich auf das Denken seiner Studenten einzulassen. Sonst schwer Verständliches bis Unzugängliches, aber auch typische Kritikpunkte, versucht er abzufangen. So kann nach einem bekannten Bonmot nur die Kommunikation kommunizieren, Menschen gehören dagegen zur gesellschaftlichen Umwelt: »Wenn Sie sich das sorgfältig überlegen, bin ich fast sicher, dass Sie sich außerhalb der Gesellschaft wohler fühlen als innerhalb der Gesellschaft. Wenn Sie ein Rädchen in der Maschinerie Kommunikation wären und immer entweder ja oder nein sagen müssten, wären Sie wahrscheinlich nicht sehr zufrieden sein (sic!) und könnten Ihren Körper gar nicht mehr verstehen, also das, was Ihre Identität für Sie selber abgrenzt.«

Merken wird man aber auch an einigen Stellen immer wieder, dass Luhmann ein Alter erreicht hatte, das den Fokus des Theoretikers in Richtung einer gewissen Nachdenklichkeit verschob. Inwieweit wurde das selbstgesteckte Ziel erreicht? Passt die Theorie noch in die Zeit oder ist sie ihr im Gegenteil sogar noch voraus? Im gesamten »Spätwerk« wird aber auch immer sichtbar, wie sehr Luhmann beispielsweise die Frage nach der »Exklusion« gesellschaftlicher Gruppen beschäftigte. Der Mensch ist seiner Meinung nach zwar sowieso immer schon »draußen«. Aber die Gesellschaft erweitert und beschränkt durchaus auch in dieser Theorie die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben zu leben. Und diesbezüglich sah er eine Tendenz zum Ausschluss großer Gruppen. Bis zu seinem frühen Tod blieb er merklich tief beeindruckt von seinen persönlichen Erlebnissen in Brasiliens Favelas, in denen Menschen von sämtlichen Leistungen der sozialen Systeme exkludiert und brutal auf bloße Körper reduziert werden. Wenn ein »Exkludierter« sich impfen lässt, so berichte er, wird er dafür wie ein braves Kind mit einem Gutschein belohnt. Von dem kann er Babynahrung kaufen oder ihn gleich »versaufen«. Seine Impfung dient ohnehin nur dem Schutz der »Inkludierten« vor Ansteckung.
Luhmanns Vorlesung breitet vor dem Leser in einem einzigen furiosen Durchgang die komplexe Welt seiner Gesellschaftstheorie und seines Denkens aus. Und dennoch betonte der Herausgeber Dirk Baecker mir gegenüber in einer persönlichen Stellungnahme zurecht: »Die Bände genügen nicht den Ansprüchen, die Niklas Luhmann an Buchveröffentlichungen stellte. Aber dieser Nachteil wird meines Erachtens mehr aus ausgeglichen durch den Vorteil, ihn anlässlich dieses eher 'mündlichen' Textes besser bei den Entscheidungen seiner Theoriearbeit beobachten zu können als in den von ihm aus- und durchformulierten Texten.« In der Tat, das Zuschauen bei der Verfertigung seiner Gedanken ist sicher das, was den unwiderstehlichen Reiz des Buches ausmacht. Der Leser wird von Seite zu Seite mehr und mehr von dem Eindruck beschlichen, vor ihm werde das Weltbild und Wissen eines Enzyklopädisten und Universalgelehrten ausgebreitet. Evidenz gilt nicht umsonst als eine Stärke der mündlichen Rede. Von lange vergangenen Traditionen und deren Funktion, von Überlegungen zur Ontologie und dem gesellschaftsabhängigen Wandel des Zeitbegriffs, von Fragen der Entwicklungsländer, der Politik, der Finanzmärkte bis zur gesellschaftlichen Welt der Antike, des Mittelalters, aber auch vom Kapitalismus oder von der Wahrnehmung bis zur Sexualität spart Luhmann keine Perspektive aus. Den Leser zieht er aber wohl vor allem in seinen Bann, indem er regelmäßig eine neue, überraschende Perspektive auf »alte Zöpfe« anbietet.

Aber auch das stimmt: Dieses Buch hätte Luhmanns selbstgesetzten Ansprüchen an Gedrucktes niemals standgehalten. Gerade hinsichtlich Verständlichkeit und Distanz des Gedruckten dachte er schließlich ein bisschen wie sein Antipode Adorno. Adorno fand, hinter dem Wunsch nach weniger Distanz und leichter Verständlichkeit verstecke sich letztlich doch nur ein Bedürfnis nach »möglichst leichter Konsumierbarkeit«. Als Theoretiker, der er war, hat Luhmann einmal etwas ähnliches gesagt, eher lakonisch, wie es so seine Art war, bezogen auf den empirizistischen Glauben an die Möglichkeit einer distanzlose Ableitung des Wissens aus der Erfahrung: »Eine Theorie, die der Erfahrung zu nahe kommt, muss vielmehr vorsichtig werden; denn dann denken die Leute zu schnell.«