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Bloch: Texte aus der Frankfurter Zeitung

ERNST BLOCH

Blochs Texte aus der Frankfurter Zeitung

Am 17. Dezember 1927 ist im Feuilleton der Frankfurter Zeitung unter dem Titel „Der unbemerkte Augenblick“ zu lesen: „Liebe auf den ersten Blick mag es geben, doch sonst lohnt es sich den meisten kaum, am Augenblick, der gerade zuckt und schon wieder fließt (wie sie selbst), ein Zeitgenosse zu sein.“ Gerade das aber ist des Autors Absicht: er will das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks erhellen, meint er doch darin nicht nur flüchtig zuckende, kaum zu fassen-de Jetzt-Zeit zu erkennen, sondern die „Zuckung unserer eigenen Nähe und Unmittel-barkeit“ – er könnte unser „existentielles Jetzt, das Subjekt des Existierens schlecht-hin“ (S. 71) enthalten. Und Ernst Bloch gelingt es, in dem kurzen Artikel mit wenigen Worten zu umreißen, worum im Grunde sein ganzes Denken kreist.
„Der unbemerkte Augenblick“ ist – sieht man vom Vorabdruck eines Textes aus dem ‚Geist der Utopie’ ab, der bereits 1916 publiziert wurde – der erste von über 60 Artikeln, Essais und kleineren Aperçus, die zwischen 1927 und 1934 in der Frankfurter Zeitung erschienen sind. Unter derselben Überschrift hat Ralf Becker sie nun alle in einem zugänglich gemacht:

Ernst Bloch: Der unbemerkte Augenblick. Feuilletons für die Frankfurter Zeitung 1916-1934, herausgegeben von Ralf Becker, 398 S., € 28.—, 2007, Suhrkamp, Frankfurt

Das Spektrum der Texte ist fast so breit wie das Blochsche Werk selber: neben natur- und musik¬philosophischen Betrachtungen, Kommentaren zum Zeitgeschehen, zu Märchen und Jugendbüchern (Über Karl Mays sämtliche Werke), Film und Kunst stehen Landschafts- und Städtebilder, eigene Kurzge-schichten und Anekdoten, Miniaturen des Alltagslebens der zwanziger Jahre. Das Thema des Titelessais allerdings beschäftigt Bloch fast durchgehend. Wirkliche, utopische Gegenwart, aufgeschlagenes Geheimnis des Lebens an jeder Stelle – das ist das Wohin und Wozu, das ihn umtreibt.

Ohne Weltwege keine Selbstbegegnung

„Das Auge, welches sieht, sieht sich noch nicht“, notiert er an anderer Stelle, als er eine merkwürdige Selbstzeichnung des Physikers Ernst Mach kommentiert. Dieser hatte sich portraitiert, wie er sich im Stuhl sitzend sieht: als Ohnekopf. Was für Bloch bedeutet: „der Mensch, der die Geschichte heraussetzt, setzt sich selber noch nicht heraus“ (S. 357). Das zeigt, dass Blochs Suche keine weltlose Innerlichkeit im Sinne hat, wenn sie nach dem „Kern des Existierens“, dem „Treibenden“ in uns forscht. „Dass unser Grundsein... nicht stimmt“, ist durch keine Versenkung in sich selbst zu beheben. Es ist mit gesellschaftlicher Arbeit verbunden „herauszubringen“, was noch nicht da ist, das Subjekt zu objektivieren. „Erst getane Arbeit gebiert uns auch richtig, schafft das Gift des nicht Gekochtseins und nicht Haltbaren aus uns heraus.“ Allerdings insistiert Bloch darauf: „Keine Arbeit war dazu noch die rechte“ (S. 165f).

Das „Wirklichmachen von uns eingekellerten Menschen“ (S. 222) stößt auf ideologische und gesellschaftliche Schranken, insbesondere auf die Hohlheit und „das ungeheure Le-bensfalsifikat unserer kapitalistisch-mechanischen Welt“ (S. 80). Darum ist für Bloch politische Zeit-Genossenschaft unabdingbar, Sozialismus als „bewusste Geschichtserzeu-gung“ (S. 95) bildet ihm dafür den Referenz-rahmen. So formuliert er im Titel-Essay: „Mit sich übereinstimmende Tat, arbeitendes Bewusstsein seiner Person-, Klassen- und Weltlage sind die Mittel, um Gegenwart als Geschichte und Geschichte als immer noch zukünftiges… Experiment an unserer ‚Gegenwart’ zu fassen“ (S. 75).

Georg Lukács’‚Geschichte und Klassenbewusstsein’, das für Blochs Marxismus-Rezeption eine Schlüsselrolle gespielt hat, klingt in diesen Formulierungen deutlich an. Allerdings sind auch die Differenzen zum ungarischen Freund unübersehbar. Anders als dieser beschränkt er sich nicht auf die Identifizierung eines geschichtsmächtigen gesellschaftlichen Subjekts. Er scheut sich nicht, spekulativ in andere Sphären vorzudringen und selbst in der außermenschlichen Natur jenen Kräften nachzuspüren, die ein mögliches „dunkles ‚Natursubjekt’ an der Arbeit“ (S. 113) zeigen, wie hypothetisch und rätselhaft auch immer. Denn es gibt „viele Kammern im Welthaus“, nicht nur jene, zu denen die vorhandenen Schlüssel abstrakt-wissenschaftlicher Rationalität passen. Den Inhalten, die „im männlichen, bürgerlichen, kirchlichen Begriffssystem keinen Platz haben“, sucht Bloch darum zumindest metaphorisch, unter Anleihen aus Kunst, Religion, Märchen und Mythen, eine vorläufige Heimat zu geben, bis sie in einer konkreteren Vernunft dereinst zugänglich würden.

Das Ganze aber ist auch ihm „völlig im Nebel“. „Der Weltodysseus ist nicht nur der Philosophie, sondern damit sich selber unbekannt, heißt noch Niemand oder Subjekt ohne Gesicht…sein Ithaka liegt unter dem Horizont“ (S. 128ff). Für viele Interpreten, darunter Jürgen Habermas, denkt Bloch hier freilich allzu sehr in den Bahnen des deutschen Idealismus, namentlich Schellings. Und in der Tat setzt er diesem Philosophen in seinem letzten Artikel für die Frankfurter Zeitung, der vom Grabmal Schellings in Bad Ragaz handelt, selber noch ein Denkmal. Bei aller Abgrenzung fühlt Bloch sich diesem Denker seelenverwandt. Er vermerkt, dass Schelling den frühen Tod Karolines nie überwunden habe (genauso hat Bloch seiner ersten Frau Else, die 1921 starb, zeitlebens gedacht). Und wie das „verglimmte Genie“ Schellings, als er zehn Jahr nach Hegels Tod auf dessen Lehrstuhl nach Berlin berufen wurde, wieder aufleuchtete, so lebte auch Bloch auf, als er rund hundert Jahre später, bereits im Pensionsalter, in Leipzig noch einen Lehrstuhl erhielt. Beiden schließlich erging es dabei nicht unähnlich: Befremden und Ablehnung lösten ihre – inhaltlich durchaus nicht zu verwechselnden – religionsphilosophischen und kosmologischen Gedankengänge aus.
Was Bloch angeht, so ist allerdings zu bedenken, dass er, zumindest in den hier vorliegenden Texten, eher der Mikro- als der Makrohistorie sich zuwendet und den Problemen des unmittelbaren Nähedunkels und der Zeit den Vorzug gibt vor denen des kosmischen Raums und seiner anhaltenden Fremdheit. „Im Kleinen, Winzigen geht oft noch am genauesten das Herz des Existierens auf, das hat schon in der Art, wie diese Pfeife da liegen mag, die Instanz seines Schlags“ (S. 130). Diesen Instanzen gehen die meisten der Begebenheiten und Geschichten nach, die er sammelt und erzählt. Und wie in den ‚Spuren’, deren erste Ausgabe 1930 erscheint, handelt es sich hier nicht um Bei-spiele, die vordem Gedachtes zu veranschaulichen hätten. Das Gegenteil ist der Fall: Unstimmiges, Unkonstruierbares gibt zu den-ken, „Falltüren in der Welt“, wie sie besteht, „Orte, an denen die gewohnte Wirklichkeit ihren Boden verliert“ (S. 126) lassen Blicke erhaschen in Ungedachtes, Unerschienenes, liefern Stoff und Anlass für „Geist der sich erst bildet“ (S. 197).

Nicht wenige der erzählten Fälle sind Spukgeschichten, in denen etwas umgeht, was nicht zu begreifen ist. Andere handeln von verzauberten Dingen, die zu Platzhaltern eines besseren Lebens werden. Musik vor allem ist für Bloch „Inventio dessen .., was fehlt, was im Gefühl des Fehlende stärkt und bestärkt, was – in immer noch keimender Sprache – das Fehlende ausspricht“ (S. 335). Aber es ist nicht nur die hohe Kunst, sondern genauso die scheinbar triviale, in der Bloch fündig wird. Jahrmarkt, Kitsch und Kolportageromane werden zu Zeugen gegen eine trostlose Wirklichkeit. Sie enthalten „lauter große Augenblicke, zu denen man nie kommt, sie erlebt zu haben“ (S. 218), halten so gleichzeitig den Traum wach, der übers schlecht gerichtete Dasein hinausdenken lässt. „Der Jahrmarkt erweist eine Traum-kraft des Volks gegen den Alltag… mindestens setzt sie eine verzauberte Welt, das Dasein in Buden verwandelt, mit dem sonst überall vermissten Kuriosum dahinter“ (S. 342).

Aus demselben Grund bricht Bloch eine Lanze für die Rehabilitation Karl Mays, der in derselben Frankfurter Zeitung als Lügner entlarvt worden war, da er gar nie bei Indianern oder Arabern gewesen wäre: „ein sehnsüchtiger Spießbürger, der selbst ein Junge war, durchstieß den sächsischen Muff seiner Zeit. .. Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will“ (S. 136). „Gäbe es ein richtiges soziales Leben, so gäbe es keine so wilden und sehnsüchtigen Jugendbücher“, schreibt er in ‚Wildwest an Weihnacht’. Ebenso gilt jedoch: „Gäbe es in der Jugend nicht so viel ungeregeltes Wildwest und My-thologie, so gäbe es nicht so viel Fortsetzung davon in Soldatenspielen, Krieg an sich, Ha-kenkreuz“ (S. 221f). Kritisches Durchleuchten dieser Motive und Antriebe ist darum nö-tig, allerdings eines, das die Sehnsucht darin nicht mit den Irrlichtern und dem faschisti-schen Betrug gleichsetzt und damit erledigt glaubt. (Im zur gleichen Zeit verfassten Buch ‚Erbschaft dieser Zeit’ widmet sich Bloch dieser Aufgabe und unterzieht die Kultur der zwanziger Jahre einer scharfsinnigen ideologiekritischen Analyse).

Was also das Dunkel des Alltagslebens ein wenig erhellt, ist eher „Licht aus Räuber¬herbergen“ als „Kirchenlicht“ (S. 96). Doch gerade mit seinem Blick für plebejische Tra-ditionen und ihre Traumlichter legt Bloch eine Bahn für religiös genährte Utopien wie die vom „Reich“ oder Erdmythen, die den Linken ein Gräuel waren, den Nazis hingegen als Futter dienten. In einem im Novem-ber 1930 erschienenen Beitrag „Zum ‚Dritten Reich’“ warnt Bloch eindringlich: „Die Marxisten halten in Primitive und Utopie keine Wacht und die Nationalsozialisten haben ihre Verführung daran… Man hat die Hölle wie den Himmel, die Berserker wie die Theologie kampflos der Reaktion überlassen“ (S. 218).

Noch in den beiden Folgejahren konnte Bloch zahlreiche Feuilletons in der Frankfurter Zeitung unterbringen. Doch spätestens mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde es schwieriger Klartext zu reden. Aus dem Zürcher Exil – Bloch war am 14. März 1933 in die Schweiz geflohen – schickt er, teils unter Verwendung von Pseudonymen, der Redaktion noch einige Manuskripte. Denn gerade in diesem liberal-bürgerlichen Blatt würde, so hatte man ihm aus Deutschland mitgeteilt, dauernd zwischen den Zeilen gelesen. So schreibt er eine Geschichte der Folter, die hauptsächlich von Hexenprozessen handelt. Und im Rahmen eines Artikels über Wagner erwähnt er, eine szenische Bemerkung im ‚Rheingold’ schreibe vor: „Ro-ter Schein aus der Tiefe“. Ja, er wird noch deutlicher: „Heute rot, morgen tot. Das gefiele den Aufsehern sehr, die wir haben“ (S. 289f).

Aufsätze, notiert Bloch selber, veralten wie Brötchen, die offen liegen. Die Buchform jedoch erhalte „den Gedankeninhalt frisch wie im Kühlschrank, oft auch wie in Katakom-ben, deren trockene Luft die beigesetzten Leichen wenigstens als Mumien erhält“ (S. 239). Die hier vorliegenden Texte sind je-doch keineswegs mumifiziert. Frisch wirken sie wohl nicht der Buchform wegen, sondern deshalb, weil es sich um Erstfassungen handelt, die eben der Feder des Autors entsprangen und den aktuellen Eingriff ins Zeitgeschehen noch verraten. Fünfzig der insgesamt dreiundsechzig Texte hat Bloch später in die Gesamtausgabe übernommen. Das a-ber heißt in den meisten Fällen, dass er sie weiter bearbeitet und oft grundlegend verän-dert hat. Die Edition enthält neben Angaben über die Umstände der Entstehung auch solche zum Grad der Überarbeitung und dem Ort in der Ausgabe letzter Hand. Zumeist handelt es sich dabei um die ‚Literarischen Aufsätze’ (Band 9), aber auch um Vorabdru-cke oder Vorfassungen von Texten, die in den ‚Spuren’ (1930) oder in ‚Erbschaft dieser Zeit’ (1935) erschienen. Die Erstausgaben dieser beiden Werke weichen ebenfalls erheblich von ihrer späteren Fassung in der Gesamtausgabe ab.

Dreizehn der Feuilletons hat Bloch gar nicht mehr aufgenommen, zum Teil sind sie 1997 in der Auswahlsammlung von Gert Ueding („Fabelnd denken. Essayistische Texte aus der ‚Frankfurter Zeitung’) enthalten. Was aber die Neuedition von Ralf Becker nebst der kundigen Einführung und sorgfältigen Edition auszeichnet, ist, dass sie sechs Neufunde präsentiert, darunter die oben erwähnten Texte „Der unbemerkte Augenblick“, „Selbstporträt ohne Spiegel“ und „Am Grabmal Schellings“. Vor allem aber vermittelt das Buch einen guten Einstieg in das Blochsche Denken. Wer statt der philosophischen Gebirge des „Prinzip Hoffnung“ oder des „Materialismusproblems“ oder der zer-klüfteten Täler des „Geist der Utopie“ einen weniger steilen Einstieg in die Blochsche Denklandschaft sucht, wird hier fündig. Das Buch lässt nicht zuletzt einen philosophischen Schriftsteller entdecken, der packend zu erzählen weiß, und dies in einem Stil, der sich vom expressionistischen Frühwerk ebenso unterscheidet wie von dem sehr verknappten Altersstil der sechziger und siebziger Jahre.
Beat Dietschy, Bern