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Siger von Brabant

SIGER VON BRABANT

Bekannt wurde Siger von Brabant (ca. 1240 bis vor 1284) vor allem durch die Verse aus Dantes Göttlicher Komödie:

„Dieser, von dem dein Blick zurückkehrt zu mir,
ist das Leuchten eines Geistes, dem es in seinen ernsten Gedanken
mit dem Sterben nicht schnell genug zu gehen schien:
dieses ist das ewige Licht Sigers,
der, bei seinen Vorlesungen in der Rue du Fouarre
durch Syllogismen zu neiderregenden Wahrheiten gelangte.“
Der ins Paradies aufgenommene Denker verkörpert für Dante ein philosophisches Vorgehen, das zumindest für bestimmte Wissensgebiete eine rein rationale, von theologischen Vorannahmen unbeeinflusste Forschung für möglich hält. Damit ist auch die Interpretationslinie vorgegeben, die Siger von Brabant bis heute Prestige und auch die Aufnahme in eine Reihe von Übersetzungen mittelalterlicher philosophischer Texte eingebracht hat.

Eine andere Rezeptionslinie zeichnet sich durch eine scharfe Kritik an Sigers Werk aus. Diese bezieht sich auf Sigers bekannteste Lehrmeinung: die Ansicht, den Menschen sei ein gemeinsamer Intellekt eigen. Siger hielt dies im Anschluss an Averroes für eine philosophisch nicht zu bestreitende Wahrheit. Damit löste er heftige Kritik und Ablehnung aus. Ein Zeitgenosse Sigers hielt dies aus theologischen Gründen für eine „teuflische Illusion“, und für den katholische Mittelalterforscher Martin Grabmann war das noch 1941 eine „höchst widerwärtige Häresie“.

Siger gilt nicht nur als „Averroist“, sondern als der bedeutendste Averroist. Diese Bezeichnung geht auf Thomas von Aquin zurück, und wurde im 20. Jahrhundert heftig diskutiert. Für Siger stand in seinem Selbstverständnis als Philosoph nicht die objektive Suche nach Wahrheit an erster Stelle, sondern sein Philosophieren als Mensch zu vervollkommnen. Philosophieren bestand für ihn wesentlich in der richtigen Auslegung und Aktualisierung philosophischer Autoritäten. Allein deren Denken wies für ihn die argumentative Sicherheit auf, die es erlaubte, eine philosophische Wahrheit zu entwickeln, die von theologischen Vorgaben ganz unbeeinflusst war. Mit ihren theologischen Kollegen waren die Averroisten allerdings darin einig, Wahrheit dadurch zu suchen, dass man autoritative Texte argumentativ durchdrang und über ihre richtige Auslegung die Wahrheit suchte.

Seine Interpretation der IntellektLehre des Aristoteles ist in einer von Matthias Perkams herausgegebenen, übersetzten und eingeleiteten (dieser Einleitung folgt auch dieser Text) zweisprachigen Ausgabe

Siger von Brabant: Quaestiones in tertium De anima. Lateinischdeutsch. 255 S., Ln., € 34.—, 2007, Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters Band 12, Herder, Freiburg.

erschienen. Für Siger ist sowohl der aktive als auch der materiale Intellekt jeweils eine ewige Substanz, die in allen Menschen die gleiche ist, während ihre Verbindung untereinander, der betrachtende Intellekt, als eine aktuelle Erkenntnis gedacht werden muss, die offenbar in einem Menschen aufgrund von Vorstellungen bzw. Intentionen der Vorstellung geschieht und folglich vergänglich ist. Diese Konzeption unterscheidet sich vom Ansatz des Averroes dadurch, dass sie den materialen Intellekt anders bewertet, nämlich als eine überindividuelle unkörperliche Substanz. Sie erhält mit der Annahme einer NichtIndividualität sowohl des aktiven als auch des materialen Intellekts ein Element, das in einer monotheistischen Religion, für die die Annahme einer individuellen Unsterblichkeit zentral ist, zu Problemen führt.

Averroes’ AristotelesKommentare erreichten zu Beginn des 13. Jahrhunderts die lateinische Welt und wurden von einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Michael Scotus aus dem Arabischen übersetzt. Damit wurde Averroes für die Denker des 13./14. Jahr

hunderts zum „Kommentator“ schlechthin. Am schnellsten wurde Averroes in Paris rezipiert, der damals bedeutendsten europäischen Universität, an der auch Siger lehrte

Diese Rezeption beeinflusste allmählich die weitere Entwicklung der Universität. Sie lässt sich in den Werken von Albertus Magnus, Robert Kilwardby, Bonaventura und Thomas von Aquin fassen. Eine Reihe von Mitgliedern der Artistenfakultät begann nun damit, Averroes Position aufzugreifen und zu verteidigen. Dabei zogen sie die logische Konsequenz aus seiner Lehre: Sie forschten rein philosophisch und suchten die Wahrheit auf den Spuren von Aristoteles und Averroes. Diese Entwicklung ist aufs engste mit Siger von Brabant verbunden. Er vertrat in seinen Vorlesungen genau die These, die Bonaventura und Thomas aus theologischen Gründen zurückgewiesen hatten: Alle Menschen hätten nur einen Intellekt. Seine Schrift Quaestiones in tertium De anima ist das am frühesten erhaltene und zugleich eines der radikalsten Zeugnisse dafür.

Bonavantura beklagte daraufhin 1267 die Irrtümer dieser Philosophen, denn die Annahme, dass es nur einen Intellekt gebe, impliziere die Behauptung, „dass der schlechteste Mensch gerettet und der beste verdammt wird“. 1270 wurde diese These durch den Pariser Bischof zusammen mit anderen als häretisch verurteilt und alle ihre Anhänger exkommuniziert.