PhilosophiePhilosophie

FORSCHUNG

Willensfreiheit: Gottfried Seebaß kritisiert verfehlte Lösungsansätze

PHILOSOPHIE DES GEISTES

 

Gottfried Seebaß will die Philosophie aus ihrem dogmatischen Schlummer wecken

 

Verfehlte Lösungsansätze

 

Es sei Zeit, dass in Sachen Willensfreiheit die Philosophie „ihren dogmatischen Schlummer endgültig abschüttelt“, sagt der Konstanzer Philosoph Gottfried Seebaß. Dazu will er mit einem auf drei Bände angelegten Werk „Willensfreiheit und Determinismus“ beitragen, von dem der erste bereits erschienen ist:

 

Seebaß, Gottfried: Willensfreiheit und Determinismus. Band 1: Die Bedeutung des Willensfreiheitsproblems.236 S., Ln., € 39.80, 2007, Akademie-Verlag, Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

       Gottfried Seebaß

 

Im Zentrum der Untersuchung soll die Klärung der beiden Begriffe „Willensfreiheit“ und „Determinismus“ stehen. Ihnen ist jeweils ein eigener Band gewidmet. Der dritte Band soll dann das eigentliche Willensfreiheitsproblem behandeln, wobei auch hier begriffliche Fragen im Zentrum stehen. Es werde sich dann zeigen, so Seebaß, dass der Spielraum möglicher Antworten auf das Problem der Willensfreiheit wesentlich kleiner ist als zumeist angenommen und dass ein Großteil der vorliegenden Versuche zur Lösung bzw. Auflösung des Problems verfehlt sind oder auf Illusionen beruhen.

 

Die zentrale Frage

 

Die zentrale Frage beim Problem von „Willensfreiheit und Determinismus“ ist nicht, ob die These der universalen Determination wahr ist. Die grundlegende Frage ist vielmehr, ob wir unter der Annahme, dass das, was ein Mensch will, determiniert ist, folgern können, dass dieses Wollen unfrei ist. Diese Hauptfrage muss wiederum in zwei Teilfragen zerlegt werden, die ihrerseits schrittweise aufeinander aufbauen:

 

F 1: Was heißt es, etwas zu wollen und darin determiniert oder indeterminiert, frei oder unfrei zu sein?

 

F 2: Impliziert die Determiniertheit des Wollens dessen Unfreiheit?

 

Die generelle Frage der Willensfreiheit kann also nicht einfach mit der viel spezielleren Frage nach der Indeterminiertheit des Willens gleichgesetzt werden.

 

Die Phänomene des menschlichen Wollens, die sich als determiniert und frei oder unfrei erweisen können, sind vielfältig und reichen weit hinter das faktische willensgetragene Handeln zurück. Meist stehen sie im Kontext mehr oder weniger umfänglicher und rationaler handlungsbezogener Überlegungen, können aber auch unabhängig von solchen auftreten. Rationalistische Scheuklappen, wie sie für manche Diskussionen des Problems charakteristisch sind, hält Seebaß deshalb von der Sache her für unangebracht. Denn wenn man die ganze Palette menschlicher „Willensfreiheit“ und „Willensunfreiheit“ erfassen will, darf man sich nicht auf Fälle beschränken, in denen mehrere Optionen zur Wahl stehen und explizit gegeneinander abgewogen werden, ehe es zu einem festen, sei es handlungsleitenden oder handlungsverhindernden Wollen kommt.

 

Der Gedanke, die Rede von „Freiheit“ oder „Unfreiheit“ beziehe sich per se und ausnahmslos auf die Frage fehlender oder vorhandener Determiniertheit bzw. „Freiheit“ sei gleichbedeutend mit „Indeterminiertheit“ ist abwegig. Deshalb lässt sich die Frage F 2 nicht einfach bejahen, sondern verweist auf die begriffliche Vorfrage, was „Freiheit“ heißt oder in Anwendung auf die konkreten Phänomene des menschlichen Wollens und Handelns sinnvollerweise heißen sollte. Es wäre verhängnisvoll, hier vorgängige phänomenale oder begriffliche Verkürzungen vorzunehmen. Allerdings kann man, so Seebaß, summarisch sagen, „Willensfreiheit“ heißt immer soviel wie „Freiheit der Willensbildung“.

 

Willensfreiheit als Frage nach Schuld und Verantwortung

 

Die Frage der Willensfreiheit wird gewöhnlich nicht in abstracto gestellt, sondern als Teil der Frage nach Schuld und Verantwortung. Denn ob jemand verantwortlich ist für das, was er tut oder nicht, interessiert vor allem im Hinblick auf seine Erfüllung geltender Normen.

 

Normen haben trotz ihrer sichtbaren Verschiedenartigkeit, etwas gemeinsam. Sie beziehen sich auf menschliches Handeln und erfüllen dabei eine Doppelfunktion. Sie sind erstens an Menschen adressiert, von denen sie Normenkonformität fordern und deren Handeln sie in diesem Sinne beeinflussen wollen, und sie fungieren zweitens als Maßstab, an dem vollzogene Handlungen gemessen, bewertet und eventuell sanktioniert werden.

 

Ob bzw. in welchem Umfang bestimmte Personen normativ ansprechbar und insofern verantwortlich für normenkonformes oder -diskonformes Verhalten sind, ist eine reine Tatsachenfrage. Wenn von „Verantwortung“ oder „Schuld“ die Rede ist, geht es meist nicht nur um relevante Fakten, sondern auch und zuerst darum, was die Betroffenen als Adressaten geltender Normen tun sollen bzw. hätten sollen und dass ihnen für ihr Verhalten Lob oder Tadel, Lohn oder Strafe gebührt. Die Bedeutung solcher Verantwortungszuschreibungen ist komplex. Ein deskriptiver Kern, der nur auf die normative Ansprechbarkeit und Verantwortlichkeit abstellt, wird durch eine präskriptive Komponente ergänzt, die den Kern gleichsam wie eine Schale umgibt und manchmal völlig verdeckt. Bei besonders schweren Verbrechen, allen voran Sexualvergehen gegen Kinder, aber auch bei Tabubrüchen von geringerer Bedeutung oder bei gesellschaftlich abnormem Verhalten ist in der breiten Öffentlichkeit vielfach nicht einmal mehr das Bewusstsein dafür vorhanden, dass die Schuld der Betreffenden dadurch vermindert oder vollständig aufgehoben sein kann, wenn ihnen einschlägige Voraussetzungen der normativen Steuerungsfähigkeit fehlen. Auch die Rede vom „freien Willen“ unterliegt dieser Mehrdeutigkeit und der Tendenz zur Verdrängung des deskriptiven Grundsinns. Das gilt auch für die Negativvariante. Wer die „Unfreiwillligkeit“ seiner Handlungen in einer „Welt voller Sachzwänge“ beschwört, will keine bloße Tatsachenfeststellung treffen, sondern einen pauschalen Freibrief haben für moralisch dubiose Praktiken. Wie weit freie Willensbildung in solchen Fällen tatsächlich eingeschränkt ist, bleibt nebelhaft und wird in der Regel nicht einmal geprüft.

 

Die Praxis der Verantwortungszuschreibung zeigt eine auffällige Asymmetrie. Menschen werden vorzüglich verantwortlich gemacht oder erklären sich selbst für nicht verantwortlich, wenn sie bestehenden Ansprüchen nicht genügen und negative Wertungen, Gefühle oder Sanktionen auf sich ziehen. Dann und gewöhnlich nur dann wird Verantwortung für sie zum Problem. Im Positivfall dagegen gilt sie als unproblematisch. Lob, Belohnung oder Bewunderung werden bereitwillig von anderen entgegengenommen, sofern nur die Standards, die sozial erwünscht sind, faktisch erfüllt oder übertroffen sind. Ob die Betreffenden etwas für ihre Leistungen können, ob sie überhaupt normativ ansprechbar waren und normenorientiert handelten, wird in der Regel nicht nachgeprüft. Die Gesellschaft interessiert sich mehr für Verhaltensweisen, die von der Norm abweichen als für solche, die ihr entsprechen. Folglich konzentriert man sich nur noch auf Negativfälle, in denen Vorwürfe und Strafen drohen und achtet bei anderen vorzüglich auf die verantwortungssteigernden Umstände, bei sich selbst auf die verantwortungsmindernden.

 

Diese asymmetrischen Zuschreibungen und die Interferenz von fremden Gesichtspunkten, präskriptiven wie emotiven, verstellen den Blick auf die deskriptive Seite der Verantwortung, auf der das System der normativen Verhaltenskontrolle eigentlich fußt. Seebaß fordert zu versuchen, diese konsequent auszublenden. Nur im analytisch-kritischen Durchgang durch schon bestehende, konkrete Verantwortungszuschreibungen kann ihr deskriptiver Gehalt herausgearbeitet und    einer kritischen Prüfung unterzogen werden.

 

Das System der normativen Verhaltenskontrolle setzt nicht voraus, dass Menschen immer und in jeder Hinsicht normativ ansprechbar sind, sondern nur hinreichend oft und in hinreichend hohem Maße. Und das ist bei normal entwickelten erwachsenen Menschen, die unter normalen Umständen handeln und willensbildende Überlegungen anstellen können, erfahrungsgemäß der Fall. Aber auch wenn kein Zweifel besteht, dass eine Person grundsätzlich über die Fähigkeit zu normengeleitetem und eigenverantwortlichem Handeln verfügt und diese normalerweise auch anwendet, lässt sich im Einzelfall oft nicht erkennen, ob bzw. in welchem Umfang sie die relevanten Kriterien wirklich erfüllt. Schon dem Handelnden selbst sind die genauen Umstände und Hintergründe seines Verhaltens nicht immer durchsichtig. Und von außen ist es noch weitaus schwieriger zu beurteilen, ob jemand tatsächlich mit Willen gehandelt hat. Praktibilitätsgründe zwingen daher, Menschen nach weniger anspruchsvollen Kriterien verantwortlich zu machen, als dies von der Idee her eigentlich wünschenswert wäre.

 

Willensfreiheit, verstanden als Freiheit der Willensbildung, ist eine notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit im prägnanten Sinne. Sie ist aber nicht die einzige oder auch nur die bedeutendste Bedingung dafür. Ein relevantes Zusatzkriterium ist der individuelle Beteiligungsgrad. Auch wenn eine bestimmte Person zurechenbar handelt, kann das Resultat ihres Tuns unzurechenbar sein, wenn andere einen Beitrag leisten, der den ihrigen auslöscht oder so stark reduziert, dass er vernachlässigt werden kann. Der Fabrikant eines Küchenmessers muss sich den Mord nicht zurechnen lassen, der damit verübt wird, obgleich er auch indirekt dazu beigetragen hat. Dagegen trägt jeder Benutzer von Schadstoffen zwar nicht allein die Schuld, wohl aber zurechenbare Mitverantwortung für die Umweltverschmutzung, die daraus entsteht, mag sein persönlicher Anteil noch so klein sein.

 

Willentlichkeit der Minimalbedingung

 

„Willensfreiheit“ im allgemeinen heißt „Freiheit der Willensbildung“. Ehe man aber hier Zurechenbarkeitskriterium ins Spiel bringen kann, muß erst einmal sichergestellt sein, dass überhaupt ein relevanter „Wille“ gebildet und eine Handlung „mit Willen“ ausgeführt wurde. „Willentlichkeit“ gilt als Minimalbedingung für „Handeln“ im engeren Sinne, unterschieden von bloßem Verhalten. Für eine willentliche Handlung gilt:

 

a)     der Handelnde muß das, was er tut, wollen, und

b)    dieses Wollen muss signifikanten Einfluss auf sein Tun haben.

 

Für die Zurechnungsfrage ist die Beziehung des Wollens zum Tun relevant. Dieses Tun erstreckt sich keinesfalls, wie manche Theoretiker (so z.B. Davidson) glauben, auf elementare Handlungen, die der Handelnde direkt ausführt. Es geht nicht nur um einfache äußere Körperbewegungen wie Gehen oder Sprechen oder direkt ausgeführte Bewusstseinsleistungen wie Sich-Erinnern oder Denken. Seebaß rechnet zum Tun vielmehr auch eine Vielzahl näherer und entfernterer Folgen, die indirekt durch elementare Handlungen herbeigeführt werden. Auch diese Folgen sind konstitutiver Teil der Gesamthandlung, soweit sie die Kriterien a) und b) erfüllen. Seebaß will Handlungen grundsätzlich als Komplexe analysiert sehen, die durch mehrere miteinander verbundene Teilereignisse konstituiert sind und nur im Grenzfall nicht mehr umfassen als ein Ereignis, nämlich die willentlich ausgeführte elementare Verrichtung selbst. Es ist denn auch niemals der Wille allein, sondern immer der Wille in Verbindung mit geeigneten Zusatzbedingungen, der etwas direkt oder indirekt herbeiführt. Um Einfluss im Sinne von Kriterium b) haben zu können, muss der Beitrag des Wollens zwar nicht groß, aber signifikant sein: Ein einziges Wort seitens eines Generals kann einen Weltkrieg auslösen.

 

Viele Verrichtungen geschehen wider Willen oder vollkommen willenlos. Aber selbst wenn die Willentlichkeit als solche feststeht, ist ihre Reichweite gewöhnlich äußerst begrenzt. Denn schon die kleinsten und einfachsten Handlungen haben zahllose Folgen, die der Handelnde weder vorher noch nachher registriert, geschweige denn als solche will. Ein ehrgeiziger junger Schriftsteller mag einen Bestseller für die Nachwelt schreiben wollen und ein Buch in dieser Absicht veröffentlichen. Doch ob seine Hoffnung sich letztlich erfüllt, liegt nicht mehr in seiner Hand, und auch wenn das Gewollte eintritt, ist dies in dieser Hinsicht nicht seine Handlung.

 

Unwillentlich eingetretene Folgen, auch solche von willentlich ausgeführten Handlungen, und von widerwilligen und willenlosen Verrichtungen erst recht, sind den Handelnden normalerweise nicht zuzurechnen. Da ihre Zahl riesig ist, ist der Bereich des Unzurechenbaren zumeist wesentlich größer als der des Zurechenbaren. Die meisten Folgen, die ungewollt eintreten, sind für die handelnden Personen ebenso wie für ihr soziales Umfeld ohne jeden Belang. Sie werden daher weitgehend ignoriert und zwar nicht nur von den Akteuren selbst, sondern auch vom System der normativen Verhaltenskontrolle.

 

Das wichtigste Kriterium, das zu dem der Willensbildung hinzu kommen muss, ist das des Wissens. Partiell ergibt sich dies schon aus der Bedingung des Wollens selbst. Denn wer nicht weiß, welche Verrichtungen er direkt ausführen und welche Folgen sie haben, kann dies auch nicht wollen. Dass die mei­sten faktischen Handlungsfolgen ungewollt eintreten, liegt vor allem daran, dass die Handelnden sie nicht kennen und angesichts ihrer immensen Anzahl auch nicht kennen können.

 

Unkenntnis ist ein schwerwiegender Grund, Handlungen und Handlungsfolgen nicht zuzurechnen. Doch das bloße Faktum des Nichtwissens reicht nicht aus, um individuelle Zurechenbarkeit definitiv auszuschließen. Es muss auch gesichert sein, dass die Wissensmängel selbst nicht zurechenbar sind. Umgekehrt ist vorhandenes Wissen ein gravierender Zurechnungsgrund. Ein Mensch, der willentlich handelt und weiß, was er tut, muss sich dieses Tun normalerweise auch zurechnen lassen.

 

Weiter nimmt Seebaß partielle Zurechenbarkeit in den Blick. Viele Handlungen sind zu komplex, um pauschale Urteile zuzulassen. Sie sind den Handelnden nur jeweils partiell zurechenbar. Dies gilt auch für die Art und Weise der Handlungsausführung selbst. Im Handlungsablauf können einzelne Phasen der bewussten, willentlich kontrollierten Ausführung mit Phasen wechseln, in denen diese Kontrolle fehlt. Eine zweite prinzipielle Beschränkung ergibt sich aus möglichem Vorverschulden. Handlungen, die während der Ausführung unzurechenbar sind, können zurechenbar werden, wenn die handelnde Person sich durch früheres, zurechenbares Handeln selbst in diesen Zustand gebracht hat und dies voraussehen konnte. Sogar Handlungen, die gänzlich willenlos oder passiv ausgeführt werden, können durch Vorverschulden zurechenbar werden. Wer sich betrinkt und weiß, dass er dadurch fahruntüchtig wird, kann sich nicht einfach mit seiner Unzurechenbarkeit zum Zeitpunkt des Tuns entschuldigen.