PhilosophiePhilosophie

FORSCHUNG

Philosophiegeschichtsforschung: Konstellationsforschung

PHILOSOPHIEGESCHICHTS-FORSCHUNG

Konstellationsforschung – eine neue Methode?


„Konstellationsforschung“ nennt sich die Methode Dieter Henrichs, das Zusammenwirken von unterschiedlichen Denkern in einem gemeinsamen „Denkraum“ zu untersuchen. Dabei sollen philosophische Entwicklungen aus Briefdokumenten, Rezensionen, Werkfragmenten und erschlossenen Gesprächslagen heraus freigelegt werden. Das opus magnum dieser Methode ist Dieter Henrichs Buch Grundlegung aus dem Ich. Henrich untersucht dort, wie nach Kant in einer kurzen Zeit und in einem beschränkten regionalen Raum ein so gewaltiges Unternehmen, wie es der Deutsche Idealismus war, entstehen konnte. Manfred Frank hat in seinem Werk Unendliche Annäherung diese konstellatorischen Analysen in den Kreis der Frühromantiker hinaus verlängert. Der deutsche Frühidealismus als ein paradigmatischer Fall von Konstellationsforschung ist unter anderem dadurch charakterisiert, dass sich seine Autoren mit nicht abweisbaren philosophischen Vorgaben befassten: Der Korpus der Kantischen Lehrsätze musste nicht erst artikuliert bzw. etabliert, sondern vielmehr begründet werden.
Wohl im Hinblick auf nachfolgende Forscher und Werke wird diese Methode in dem Sammelband

Mulsow, Martin und Stamm, Marcelo (Hrsg.): Konstellationsforschung. 370 S., kt., stw 1376, 2005, € 14.—, Suhrkamp, Frankfurt

näher vorgestellt. Um sie erfolgreich anwenden zu können, so legt Dieter Henrich dar, muss den Konstellationen von Personen und den Lebensproblemen, die ihnen gemeinsam waren, immer eine Konstellation von philosophischen Problemen und von zueinander gegenläufigen philosophischen Entwürfen vorausliegen. Diese werden dann in Debatten geklärt, vertieft und gelöst. Während des Aufstiegs der klassischen deutschen Philosophie waren es zwei Antagonismen, welche die beteiligten Personen, durch die er sich vollzog, bedrängt haben: der Antagonismus zwischen Kants Moraltheologie und dem überkommenen christlichen Glauben und, für die Theorie noch folgenreicher, der Antagonismus zwischen Kants Transzendentalphilosophie und ihrer Begründung im Subjekt und Jacobis Skizzen einer Lehre von der Wirklichkeit und dem Grund der Gewissheit eines singulären Absoluten.

Die Einsichten, die die Konstellationsforschung zutage bringt, betreffen nicht nur zahlreiche methodologische und historische Probleme, sondern ebenso die Frage danach, in welcher Weise Menschen in ihrem Denken zu einer letzten Perspektive in der Selbstverständigung ihres Lebens gelangen und unter welchen Umständen sie dazu des Mediums eines eigenständigen Theoretisierens, also der Philosophie, bedürfen.

Wann liegt eine Konstellation vor?

Martin Mulsow, einer der begabtesten jüngeren Philosophiehistoriker, definiert Konstellationsforschung als dichten Zusammenhang wechselseitig aufeinander wirkenden Personen, Ideen, Theorien, Probleme und Dokumente. Nur die Analyse dieses Zusammenhangs, nicht aber seiner isolierten Elemente, kann in einem solchen Fall ein Verstehen der philosophischen Leistung und Entwicklung der einzelnen Personen, Ideen und Theorien möglich machen. Der Verdacht, eine Konstellation liege vor, kommt dann auf, wenn mehrere Personen in enger Kommunikation miteinander stehen und dabei von einer identischen oder ähnlichen Problemlage ausgehen, und wenn aus dieser Kommunikation kreative Entwürfe resultieren, ja sogar eine Vielzahl kreativer Entwürfe in schneller Abfolge. Konstellationen haben notwendigerweise eine zeitliche Verlaufsform. In ihnen entwickeln sich neue Lösungen, neue Haltungen gegenüber Personen und Ideen, in ihnen werden intellektuelle Erfahrungen gemacht. Aufmerksamkeit für solche Konfigurationstypisierungen verlangt Reflexivität und Selbstkontrolle des Konstellationsforschers: Er sieht, welche Typen er bevorzugt an das Material heranträgt und muss sich fragen, ob dabei wirklich den Abläufen entsprochen wird oder seine Idiosynkrasien durchschlagen.

Konstellationsforschung und Diskursarchäologie

Verwandt ist die Konstellationsforschung mit der Diskursarchäologie von Michel Foucault. Auch diese beansprucht, komplexe philosophiehistorische Theorielagen in einer Weise beschreiben zu können, die über die üblichen Kategorien von Einfluss, Tradierung oder Biographismus hinausgeht und stattdessen ein Gespür für verdeckte Brüche oder Zusammenhänge entwickelt. Auch stellen beide Methoden implizit oder explizit die Frage nach der Einheit des „Autors“ in Frage. Statt eines monolithischen Subjekts konstatieren sie die Sequenz von wechselnden Positionen und lokalisieren die Produktion von Entwürfen in ein Kraftfeld. Doch weigert sich die Diskursarchäologie grundsätzlich, auf Personen und ihre Motive zurückzugehen und deren Horizonte und Wahlmöglichkeiten zu bestimmen. Stattdessen beschreibt sie strikt die „Oberfläche“ des Diskurses, die „Aussagen“, in ihren Häufungen und Regelmäßigkeiten. In diesem Vorgehen bleibt einiges auf der Strecke, was für die Konstellationsforschung charakteristisch ist: insbesondere die „Möglichkeitsdimension“. Die Diskursarchäologie hält sich an die faktisch dokumentierten Performanzen und kann daher nicht erschlossene mündliche Äußerungen nicht in den Blick nehmen. Der Sinn für Mündlichkeit ist aber wesentlich, wenn man in mikroskopischer Sicht rekonstruieren möchte, was in einem kleinen Kreis von Personen von Woche zu Woche gedacht worden ist.

Allerdings ist die Konstellationsforschung kein beliebig anwendbares Programm. Ihre hohen methodischen Ansprüche lassen sich nur unter zwei Voraussetzungen verwirklichen: einer großen Fülle in der Quellenlage und einer hohen Qualität in der Wechselwirkung. Die Konstellationsforschung setzt darauf, seriell große Mengen von Dokumenten zu sichten und eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen (Nachlässe, Briefe, Aufzeichnungen, Bücherverzeichnisse, Promotionsregeln, Rezensionen, Bücher usw.) gegeneinanderzuhalten, um Gesprächslagen, Horizonte und Aktionen rekonstruieren zu können. Praktisch alle antiken und viele mittelalterliche Konstellationen scheiden aus diesem Grund aus.

Der amerikanische Kant-Forscher Karl Ameriks sieht bei diesem Konzept drei große Schwierigkeiten:
 Der Begriff einer Konstellation ist unklar. Spezifisch scheint ihm zu sein, dass ein Konstellationsforscher eher Interesse für eine Gruppe als für einen Einzelforscher aufbringen muss.

- Die Konstellationsforschung muss ein Wissen bereits voraussetzen. Denn ein besonderes Verdienst der Konstellationsforschung hängt ja mit der Annahme zusammen, dass die Natur der Entwicklung innerhalb einer Konstellation gerade nicht so verläuft, wie es für die früheren Beobachter noch den Anschein hatte. Ist der „Durchbruch“ in der Forschung gelungen, erweist sich die Natur des Denkens einer Gruppe der Vergangenheit in bemerkenswerter Weise fast als entgegengesetzt zu unserer Vormeinung über dieses Denken. Es kann sich etwa herausstellen, dass Hegel beispielsweise mehr unter dem Einfluss Hölderlins zu stehen scheint als umgekehrt – ganz entgegen der bisherigen Annahme.

- Aufgrund von Projektionen unsererseits können falsche Muster zustande kommen: wir lesen unsere eigenen aktuellen Bedürfnisse in die Daten hinein. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn der Datenfund weit in der Vergangenheit liegt, deswegen schwer zugänglich und für uns gerade aufgrund seiner Fremdheit von Interesse ist.

Warum ist der Deutsche Idealismus so gut für die Methode der Konstellationsforschung geeignet? Für Daniel Dahlstrom liegt der Grund darin, dass dieser aus verschiedenen und mannigfachen Talenten besteht, die in ihrem Schaffen aufeinander angewiesen waren. Demzufolge wurde ein dynamisches Mit-Sein (Miterleben, Mitreden, Mitteilen, Mitwirken, Mitwissen, Mitlaufen, Mitkämpfen usw.) zum Schwerpunkt der Forschung. Dahlstrom sieht für die Konstellationsforschung fünf charakteristische Methoden:

1. Da sie zu Recht vom historischen Kontext der Dokumente und Argumente ausgeht, vermeidet sie die oft willkürliche und verzerrte Einschränkung auf mentem auctoris, das heißt auf die in bestimmten Schriften,Argumenten und Terminologien eines einzelnen Denkers ausgedrückte Selbstwahrnehmung.

2. Die konstellatorische Lebenswelt hat eine eigene Dynamik. Der Forscher erfasst diese, indem er nicht nur nach geäußerten Meinungen und Motivierungen fragt, sondern ebenso sehr auf die den Hauptspielern unbekannten Meinungen und Motive achtet. Die Konstellationsforschung ist holistisch, indem sie nicht nur einzelnes und kollektives Denken, sondern auch Gedachtes und Ungedachtes, Geschriebenes und Ungeschriebenes zusammenfassen will.

3. Der Konstellationsforschung kommt eine bemerkenswerte Offenheit zu, indem sie „para-philosophers“, also zweitrangige Philosophen berücksichtigt und diese damit entmarginalisiert.

4. Konstellationsforschung ist reflexiv. Sie erfordert vom Forscher, dass er seine Voraussetzungen und deshalb auch gegenwärtiges Denken mit in Betracht zieht. Er ist aufgefordert, eine gewisse Beweglichkeit unter den verschiedenen Polen und Schichten der Konstellation zu entwickeln.

5. Der Forscher muss versuchen, der Vielfalt der Konstellationen gerecht zu werden und damit sowohl Thematisiertes als auch Unthematisiertes in der konstellatorischen Lebenswelt mit einzubeziehen.

Welche anderen Themen außer dem Deutschen Idealismus und der Frühromantik eignen sich für diese Methode? Paul Franks von der University of Notre Dame denkt an die Cambridge-Konstellation um More, Conway und Cudworth, an die Florentiner-Konstellation um Mirandola und die Pariser Konstellation der „philosophes“. Das Werk der Konstellationsforschung ist für ihn eine Art Negation des bislang vorherrschenden Zugriffs in der Idealismusforschung, die sich auf die großen Namen und die publizierten Schriften konzentriert. Eine Art Vorläufer sieht er dabei im Werk von R. Kroner, aber auch im Selbstverständnis des Deutschen Idealismus selbst.