PhilosophiePhilosophie

EDITIONEN

Dewey

JOHN DEWEY

 

In den nun auch auf deutsch erschienenen elf Gifford-Lectures aus dem Jahr 1929

 

Dewey, John: Die Suche nach Gewissheit. 319 S., Ln., DM 68.--, 1998, Suhrkamp, Frankfurt

 

entwickelt der berühmte amerikanische Phi-losoph seinen “naturalistischen Humanismus”.

 

Betrachtet man die Grundlagen der Philosophien Platons und Aristoteles’ als kulturelles Material, zeigt sich, dass diese Philosophien Systematisierungen des Inhalts der religiösen und künstleri­schen Anschauungen der Griechen waren. Diese Systematisierungen brachten eine Reinigung mit sich. Die Logik lieferte die Strukturen, denen sich letztlich die realen Gegenstände anzupassen hatten. Die Naturwissenschaft wiederum war in dem Grade möglich, in dem die natürliche Welt eine Exemplifizierung letzter unveränderlicher rationaler Gegenstände darstellt. Auf diese Weise wurden zusammen mit der Eliminierung von Mythen und gröberen abergläubischen Vorstellungen die Ideale der Wissenschaft und eines Lebens der Vernunft errichtet. An die Stelle einer Erlösung durch Ritus und Kultus wird die Befreiung durch die Vernunft gesetzt. Diese beiden Ideale bildeten einen dauernden Beitrag zur abendländischen Zivilisation.

Sie führten aber auch zur Idee eines höheren Reichs einer unwandelbaren Realität, von der al-lein wahre Wissenschaft möglich ist, und einer niedrigeren Welt der wandelbaren Dinge, mit denen es Erfahrung und Praxis zu tun haben. Sie verherrlichten das Unwandelbare auf Kosten des Wandels, wobei es evident ist, dass alle praktische Tätigkeit in den Bereich des Wandels fällt.

 

Diese Vorstellung hat nicht nur die Auffassung der Erkenntnis festgeschrieben, sondern auch die spezielle Aufgabe philosophischer Untersuchung festgelegt. Als eine Form der Erkenntnis befasst sie sich mit der Enthüllung des Wirklichen als solchen, des Seins an und für sich. Von den Naturwissenschaften unterscheidet sich die Philosophie dadurch, dass sie sich mit einer höheren und grundlegenderen Form des Seins befasst. Damit kommt die Philosophie dem Verlangen des Menschen nach absoluter Gewissheit entgegen. Und diese Gewissheit kann nicht durch praktisches Machen und Tun gefunden werden, denn diese tragen die Gefahr des Scheiterns und des Rückschlages in sich. Die gesamte Tradition hat eine geringe Meinung von der Erfahrung als solcher gehegt und als das eigentliche Ziel und Ideal der Erkenntnis Realitäten angesehen, die selbst dann, wenn sie sich in Gegenständen der Erfahrung finden, nicht mit Hilfe experimenteller Methoden erkannt werden können. Die Philosophie war dadurch gezwungen, für sich selbst den Anspruch zu erheben, im Besitz einer Methode zu sein, die aus der Vernunft selbst stammt und durch die Vernunft unabhängig von der Erfahrung gerechtfertigt wird. Erst die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts bewirkte hier eine einschneidende Veränderung. Eine mathematische Naturwissenschaft, die in der Sprache der Mechanik formuliert war, erhob den Anspruch, die einzige rationale Naturphilosophie zu sein. Infolgedessen verloren die älteren Philosophien ihre Verbindung zur Naturwissenschaft  und die Unterstützung, die der Philosophie von dort zuteil geworden war. Der Wettstreit zwischen der Philosophie und der neuen Wissenschaft im Hinblick darauf, die Realität zu erkennen, wurde nun zu einer Rivalität zwischen den geistigen Werten - jenen, die sich aus der älteren Tradition herleiteten und den Schlussfolgerungen der empirischen Wissenschaften. Und je weiter die Wissenschaft voranschritt, desto stärker schien sie auf das besondere Gebiet überzugreifen, über das die Philosophie die Gerichtsbarkeit beansprucht hatte. Auf diese Weise wurde die Philosophie in ihrer klassischen Form zu einer Art apologetischer Rechtfertigung für den Glauben an eine höchste Wirklichkeit, die den Werten, die das Leben regulieren und das Verhalten kontrollieren sollten, eine sichere Grundlage bot.

 

Die Geringschätzung der Philosophie gegenüber der Praxis würde sich ändern, wenn wir gewohnt wären, im umfassenden Sinne über sie nachzudenken und wenn wir den üblichen Dualismus zwischen zwei getrennten Arten von Werten, die eine von Natur aus höher, die andere von Natur aus niedriger, aufgäben. Allerdings kann keine Art von Handeln etwas gewähren, das einer absoluten Gewissheit auch nur nahekommt; das Handeln bietet eine Art Versicherung, aber keine Sicherheit. Viele Menschen finden angesichts dieser Erfahrung eine Art Trost darin, eine vollkommene Form des Guten in ein Reich des Wesens zu projizieren. Und Philosophen, die es für ihre eigentliche Aufgabe halten, der ontologischen Realität der höchsten Werte eine kognitive Bestätigung zu verleihen, besitzen ein Pathos von ganz eigenem Adel. Das hauptsächliche philosophische Interesse besteht darin zu beweisen, dass die wesentlichen Eigenschaften der Realität, die der Gegenstand reiner Erkenntnis sind, genau jene Eigenschaften sind, die ihren Sinn nur in Zusammenhang mit Gefühl, Begierde und Wahl haben. Der Gedanke, dass die Werte in der Welt, in der wir leben, unstabil und schwankend, in einem höheren Reich der Vernunft hingegen ewig sicher sind, gibt den Gedrückten Trost

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Eine Gewissheit, die jedoch ausschließlich theoretisch ist, ist eine Gewissheit, die praktisch keinen Unterschied macht - es handelt sich dabei um eine reine Tautologie. Dewey erinnert an den arabischen Potentaten, der den Besuch eines Pferderennens mit der Begründung ablehnt, dass er sowieso schon wisse, dass irgendein Pferd immer schneller rennen könne als ein anderes.

 

Nach der philosophischen Tradition Europas war die Geltung allerhöchster Werte des Guten, des Wahren und des Schönen damit verknüpft, dass sie Eigenschaften des letzten und höchsten Seins waren, nämlich Gotts. Alles ging gut, solange die Naturwissenschaften dieser Anschauung nicht im Wege standen. Denker, die tief von den neuen Naturwissenschaften beeinflusst waren, hörten oft auf, an die göttliche Offenbarung als höchste Autorität zu glauben. Aber dass das Gute als definierende Eigenschaft des letztlich Realen den höchsten Rang innehat, blieb als gemeinsame Prämisse, sowohl bei den Christen als auch bei den Juden. Wenn sie nicht durch die Offenbarung verbürgt wurde, dann durch das “natürliche Licht” des Intellekts. Dieser Aspekt der religiösen Tradition war so tief in der europäischen Kultur verwurzelt, dass kein Philosoph, außer überzeugten Skeptikern, seinem Einfluss entging. In diesem Sinne begann die moderne Philosophie ihre Entwicklung mit einer Akzentuierung der Lücke, die zwischen höchsten und ewigen Werten und natürlichen Gegenständen und Gütern besteht. Die Vernunft hatte dabei eine eigenartige Aufgabe: nämlich die Grundlage der Wahrheiten zu liefern, ohne welche Beobachtungen oder Erfahrung überhaupt nicht zu Wissenschaften werden könnten. Da der Mensch auf der einen Seite ein Produkt der Natur war, auf der anderen Seite am Reich des Geistes teilhatte, bildete diese Doppelnatur die Grundlage all der Probleme der Philosophie. So ist etwa das Hauptmerkmal von Kants Philosophie die Teilung der Territorien zwischen den Gegenständen kognitiver Gewissheit und denen einer gleichermaßen vollständigen praktischen moralischen Sicherheit. Die Wissenschaft beschränkt sich auf Phänomene in Raum und Zeit, damit die Welt höherer und noumenaler Realitäten von Idealen und spirituellen Werten in Besitz genommen werden kann.

 

Die Auffassung, dass die Ergebnisse der Wissenschaft eine Enthüllung der inhärenten Eigenschaften des Wirklichen überhaupt seien, ist ein Überbleibsel der älteren Metaphysik. Weil man in die Interpretationen der Schlussfolgerungen der Wissenschaft eine irrelevante Philosophie einschleust, nimmt man an, dass die Naturwissenschaften Qualitäten und Werte aus der Natur eliminieren. Deshalb kommt es zu dem Dauerproblem der modernen Philosophie: dem Problem der Beziehung der Wissenschaften zu den Dingen, die wir schätzen und lieben und die unser Verhalten bestimmen.

 

Für Dewey ist es ebenso lächerlich wie beunruhigend, dass sich die Menschen zu der Schlussfolgerung haben verleiten lassen, die wissenschaftliche Methode, Gegenstände zu denken, würde die innere Realität der Dinge wiedergeben und dass sie in allen anderen Weisen, sie zu denken, wahrzunehmen und zu genießen, ein Zeichen der Unechtheit sehen.  Lächerlich, weil die wissenschaftlichen Begriffe, wie andere Werkzeuge auch, vom Menschen im Verlaufe der Realisierung eines bestimmten Interesses hergestellt sind - nämlich dem Interesse der maximalen Konvertierbarkeit jedes Objektes des Denkens in ein beliebiges anderes.

Einer stetigen Reihe von Philosophen erschien die Rolle der Mathematik in der Physik ein Beweis dafür, dass die natürliche Realität ein invariantes rationales Element enthält und aus diesem Grunde mehr ist als nur natürlich. Man nahm an, dass die Mathematik auf einer Grundlage erster Wahrheiten oder Axiome ruhe, die ihrer Natur nach selbst-evident seien und nur mit dem Auge der Vernunft angeschaut zu werden brauchen, um als das anerkannt zu werden, was sie sind.  Mathematische Begriffe als Ausdruck des reinen Denkens schienen auch eine Verbindung zu einem Reich des Wesens herzustellen, das unabhängig von der  - physischen oder geistigen  - Wirklichkeit ist, ein selbständiges Reich idealer und ewiger Gegenstände, welches die Gegenstände der höchsten, d.h. sichersten Erkenntnis sind. Die euklidische Geometrie gab auch das Modell für die Entwicklung einer formal rationalen Logik ab. Die Tatsache, dass es gewisse formale Gültigkeitsbedingungen des Schließens gibt, ist als eine Art letzter Garantie eines Reiches unveränderlichen Seins angesehen worden. Aber ganz analog zu der Schlussfolgerung hinsichtlich mathematischer Begriffe sind logische Formen Aussagen über die Mittel, mit deren Hilfe entdeckt wird, dass verschiedene Schlussfolgerungen auf die umfassendste und sicherste Weise ineinander übersetzt oder füreinander verfügbar gemacht werden können.

 

Aber die Vorstellung, dass mathematische Gegenstände entweder ein unabhängiges Reich von Wesenheiten bilden oder andernfalls lediglich mentale Dinge sind, wird von den Tatsachen nicht bestätigt. Die Vermutung, diese Alternativen seien erschöpft, ist ein Überbleibsel der traditionellen Vorstellung, die Denken und Ideen lediglich mit mentalen Akten identifizieren, d.h. mit Handlungen innerhalb des Geistes. Dabei ist in der Geschichte ein Übergang der mathematischen Ideen vom Konkreten ins Abstrakte festzustellen: Mathematische Ideen waren “konkret”, als es darum ging, Getreidespeicher zu bauen oder Land zu vermessen. Sie wurden abstrakt, als sie von der Verbindung zu irgendeiner besonderen realen Anwendung und Verwendung befreit wurden. Das geschah, als Handlungen, die durch Symbole möglich geworden waren, ausschließlich mit Bezug auf die Erleichterung und Steuerung anderer Operationen vollzogen wurden, die ebenfalls ihrer Natur nach symbolisch waren. Es ist eine Sache, die Fläche eines Dreiecks zu messen, um auf diese Weise ein Stück Land zu vermessen, und eine andere, eine abstrakte, diese Messung einfach als ein Mittel aufzufassen, um andere, symbolisch bezeichnete Flächen zu messen. Die letztere Art von Operation macht ein System von Begriffen möglich, die als Begriffe zueinander in Beziehung stehen; auf diese Weise bereitet sie der formalen Logik den Weg. Als der Weg erst einmal frei war, in Begriffen möglicher Operationen, unangesehen ihrer wirklichen Ausführung, zu denken, gab es für eine Weiterentwicklung keine  anderen Grenzen mehr als die des menschlichen Erfindungsgeistes. Die Entdeckung beispielsweise der logischen Unverbindlichkeit des Euklidischen Parallelenaxioms legte Operationen nahe, an die vorher niemand gedacht hatte, und eröffnete ganz neue Bereiche - die der Hyper-Geometrien. Mathematik und formale Logik sind hochspezialisierte Zweige intellektueller Tätigkeit, deren Arbeitsprinzipien jenen der Werke der schönen Kunst sehr ähnlich sind. Die Eigenschaft, die sie besonders treffend charakterisieren, ist die Kombination von Freiheit und Strenge - Freiheit im Hinblick auf die Möglichkeit neuer Operationen, Strenge im Hinblick auf formale Unverträtlichkeiten.. Diese Kombination verleiht ihnen in den Augen mancher Menschen eine große Faszination. Aber der Glaube, dass diese Qualifikationen mathematische Gegenstände aus aller Verbindung mit der Realität lösen, drückt eher eine religiöse Geisteshaltung aus als eine wissenschaftliche Entdeckung. Man darf über die konstruktive Macht staunen, mit der Symbole entworfen worden sind, die weitreichende und fruchtbare Implikationen haben. Aber das Staunen ist irreführend, wenn es als Grund dazu dient, die Gegenstände des Denkens in ein Reich transzendenten Seins zu hypostasieren.

 

Für Dewey sind alle allgemeinen Begriffe (Ideen, Theorien, Gedanken) hypothetisch. Hypothesen sind konditional, sie müssen anhand der Konsequenzen der Handlungen, die sie definieren und lenken, überprüft werden. Der eigentliche Wert hypothetischer Ideen liegt nicht in ihrer inneren Ausarbeitung und Konsistenz, sondern in ihren Konsequenzen, die sie in der wahrnehmbaren Wirklichkeit bewirken. Den innersten Kern der Ideen stellt das Handeln dar. Die experimentelle Praxis des Erkennens  eliminiert die uralte Idee von Theorie und Praxis. Sie enthüllt, dass Erkennen selbst eine Art des Handelns ist, die einzige, die progressiv und auf sichere Weise die natürliche Realität mit verwirklichten Bedeutungen bekleidet. Zielgerichtete Tätigkeit verlangt Ideen, die über die Resultate vergangener Wahrnehmungen hinausgehen, denn sie zielt darauf ab, zukünftigen Situationen, von denen es noch keinerlei Erfahrung gibt, zu genügen. Hypothesen, die später verworfen wurden, haben sich oft bei der Entdeckung von neuen Tatsachen als nützlich erwiesen und so die Erkenntnis gefördert. In vielen Fällen war ihr Wert nicht davon abhängig, welcher Existenzstatus ihrem Gegenstand zugesprochen wurde, diese Zuschreibung war im Gegenteil irrelevant und bis zu einem gewissen Grade schädlich - ein Fortschritt war erst möglich, als die Zuschreibungen von inhärenten Eigenschaften fallengelassen und Begriffe als Bezeichnungen von zu vollziehenden Operationen angesehen wurden.

 

Eine intelligible Ordnung besitzt die Natur in dem Maße, in dem wir durch unsere eigenen offenen Handlungen in ihr enthaltene Möglichkeiten realisieren. Der Wechsel  von einer immanenten Rationalität im traditionellen Sinne zu einer Intelligibilität, die durch menschliches Handeln zu verantworten ist, erlegt den Menschen Verantwortung auf.

 

Die Philosophen haben den Entstehungs- und Funktionszusammenhang des Erkennens ignoriert und es mit gültiger Erkenntnis überhaupt gleichgesetzt. Auf diese Weise entstand die Lehre, dass alle wertvolle Erkenntnis ihrem Wesen nach kognitiv sei, und diese Annahme ist der große intellektualistische Fehlschluss. Er ist die Quelle der Geringschätzung der alltäglichen qualitativen Erfahrung, der praktischen, der ästhetischen und der moralischen. Vor dieser Herabwürdigung der Dinge, die wir durch Liebe, Begierde, Hoffnung, Furcht und Absicht erfahren, werden wir durch die Einsicht in den bewusst instrumentellen und abstrakten Charakter der Gegenstände reflexiver Erkenntnis bewahrt. Der fundamentale Vorteil, der sich ergibt, wenn wir unsere Erklärung der Erkenntnisorgane und -prozesse nach dem Modell dessen bilden, was in der experimentellen Forschung geschieht, besteht darin, dass nichts eingeführt wird, was nicht objektiv überprüft und aufgezeichnet werden kann. Im Unterschied zu traditionellen Theorien werden hier der Geist und seine Erkenntnisorgane nicht aus dem Zusammenhang mit der natürlichen Welt gelöst. Der Denkvorgang hat die- selbe Beziehung zum Gehirn wie die Wahrnehmung zu den Sinnesorganen. Deshalb wird es unmöglich, sich die Sinne als quasi-körperlich und das Denken als mental vorzustellen, so als ob das Mentale eben das Nicht-Materielle bezeichne. Das metaphysische Problem der Beziehung von Geist und Körper verwandelt sich in eine Frage, die durch Beobachtung von Fakten gelöst werden kann: Wie unterscheiden sich Handlungen auf einer strikt physiologischen Ebene von denen, die - weil sie zielgerichtet sind und spezifische Konsequenzen haben - mental sind?