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Individualismus, normativer

 

Pforden, von der, Dietmar: Normativer Individualismus

aus Heft 3/2014,  S. 5-15



Das Prinzip des normativen Individualismus


Die Aufgabe einer normativen Ethik besteht in der Kritik und Rechtfertigung bestehender Normordnungen wie Moral oder Recht. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, muss die normative Ethik verschiedene Grundelemente enthalten. Deren wichtigstes ist das Prinzip des normativen Individualismus. Es besagt, dass Pflichten und Werte in letzter Instanz nur durch Rekurs auf alle betroffenen Individuen und ihre Eigenschaften gerechtfertigt werden können. Dieses Prinzip findet sich explizit oder implizit in vielen neuzeitlichen Ethiken, etwa bei Hobbes, Locke, Kant, dem Utilitarismus sowie der Vertragstheorie.

Das Prinzip des normativen Individualismus enthält drei Teilprinzipien:

(1) Das „Individualprinzip“ des normativen Individualismus: Ausschließlich Individuen können letzter Ursprung der primären Verpflichtung und damit als betroffene Andere und Akteure letzter rechtfertigender Fixpunkt der Ethik sein, nicht aber Kollektive oder holistische Entitäten wie etwa die Nation, die Familie oder das Ökosystem. Der verpflichtende und deshalb ethisch zu berücksichtigende Andere muss ebenso wie der ethisch verantwortliche Akteur in letzter Instanz immer ein Individuum sein.

(2) Das „Allprinzip“ des normativen Individualismus: Alle von einer Handlung oder bzw. Entscheidung betroffenen Individuen müssen bei der letzten Rechtfertigung einer Handlung oder Entscheidung berücksichtigt werden. „Betroffenheit“ bezeichnet dabei eine Relation zwischen der fraglichen Handlung und den moralisch relevanten Eigenschaften der Individuen. Die Handlung kann diesen moralisch relevanten Eigenschaften im konkreten Einzelfall entweder entspre-chen oder widersprechen, und zwar in praktischer, nicht nur in logischer Form. Das heißt: Es muss ein einigermaßen wahrscheinlicher Einfluss anzunehmen sein, nicht nur ein bloß logisch möglicher.

(3) Das „Gleichheitsprinzip“ des normativen Individualismus: Alle von einer Handlung betroffenen Individuen müssen grundsätzlich gleich berücksichtigt werden.

Der Grundgedanke des normativen Individualismus


Der Grundgedanke des normativen Individualismus erscheint unter vielen verschiedenen Bezeichnungen: „Humanismus“, „legitimatorischer Individualismus“, „Subjektstellung des Menschen“, „Subjektivismus“, „Selbstbestimmung“, „Autonomie“, „Individualität“, „Wert des Einzelnen“, „Freiheit“, „Person“, „Liberalismus“, „Demokratie“.

Normativer Individualismus und Liberalismus sind sich sehr nahe. Der normative Individualismus ist aber grundlegender, weil er den direkten Bezug zu legitimationserzeugenden, aber auch -fordernden Entitäten klarstellt. Er ist ein rechtfertigendes Prinzip bzw. eine rechtfertigende Theorie, der Liberalismus dagegen ein gesellschaftliches, politisches und rechtliches Programm, das Konkretisierungen des normativen Individualismus formuliert. Aber es besteht keine strikt-legitimatorische Korrelation. Der Liberalismus ist als Programm prinzipiell auch religiös oder naturrechtlich zu rechtfertigen.

Die Ethik des normativen Individualismus darf  bzw. der Konzeption eines Ultraminimalstaats, wie sie etwa Nozick oder Gauthier vorgeschlagen haben, verwechselt werden. Beide gehen von einer Restriktion gemeinschaftlichen Zwangs auf die Ergebnisse eines tatsächlichen Koordinationsprozesses unter Verwendung der Methode der unsichtbaren Hand aus, was mit dem normativen Individualismus nicht vereinbar ist.

Der normative Individualismus darf auch nicht mit den Vertragstheorien gleichgesetzt werden. Diese sind zwar historisch gesehen eine wesentliche Ausprägung des normativen Individualismus. Aber auch der Utilitarismus und manche naturrechtliche Theorien gehen von den Individuen aus und sind deshalb – zumindest bis zu einem gewissen Grade – normativ-individualistische Konzeptionen. Die Vertragstheorien sind ein Modell bzw. eine Konkretisierung des normativen Individualismus. Der normativ-individualistische Ausgangspunkt der ethischen Rechtfertigung schließt nicht aus, dass im Interesse der betroffenen Menschen gemeinsame Handlungen gefördert und kollektive Ziele wie Gemeinsinn oder Gleichheit angestrebt werden. Der normative Individualismus ist also mit einem gemäßigt-praktischen Kommunitarismus vereinbar.


Die Gegenposition des normativen Individualismus ist der normative Kollektivismus. Nach dessen Überzeugung lässt sich die Rechtfertigung einzelner Entscheidungen in letzter Instanz nicht auf die betroffenen Menschen, sondern auf selbstzweckhafte Kollektive zurückführen. Stärkere Versionen des normativen Kollektivismus vertreten sogar, dass alle oder zumindest die wesentlichen Entscheidungen mit letztem Bezug auf Kollektive zu rechtfertigen sind.

Weitere bekannte Ansätze von Rechtfertigungen sind solche transzendent-religiöser, naturrechtlicher oder wertobjektivistischer Art. Derartige Rechtfertigungen haben aber auf Grund ihres metaphysischen Anspruchs in der Neuzeit zumindest als immanente Begründungen an allgemeiner Überzeugungskraft eingebüßt. Sie können gegenüber den Anhängern verschiedener Religionsgemeinschaften oder metaphysischer Überzeugungen kaum mehr mit der Erwartung allgemeiner Akzeptanz erhoben werden.

Die Thesen des normativen Individualismus und des normativen Kollektivismus sind konträr, eine Mischung zwischen beiden ist nicht möglich. Normativ ist das im Hinblick auf den Rechtfertigungszweck der Ethik sinnvoll. Deskriptiv wäre es aber nur realistisch, wenn ethische Rechtfertigungen oder normative Ordnungen lediglich aus einem Satz oder mehreren streng logisch-deduktiv verbundenen Sätzen bestünden. Bei komplexeren ethischen Theorien ist das jedoch natürlich nicht der Fall. Folglich können bei ihnen einzelne Teile normativ-individualistisch, andere nicht normativ-individualistisch sein. Ein Beispiel dafür ist Hobbes’ politische Theorie, welche die Einsetzung politischer Herrschaft mit Hilfe eines Vertrags normativ-individualistisch konstruiert, dann aber in der Ausgestaltung des Staates den normativen Individualismus verlässt.

Das Individualprinzip

Warum können nach dem Individualprinzip des normativen Individualismus in letzter Instanz nur Individuen moralische Verpflichtungen bzw. Bewertungen rechtfertigen? Eine Begründung muss ihren Ausgangspunkt beim Sinn und Zweck primärer Normordnungen wie Moral und Recht und daran anknüpfend der Ethik nehmen. Sie dienen dazu, unseren Charakter sowie unser Handeln und Entscheiden angesichts zumindest potentiell widerstreitender Gesichtspunkte, Werte und Belange zu bestimmen, und zwar nicht nur mittels Ratschlägen und Empfehlungen, sondern auch mittels genuiner, kategorischer Pflichten. Die Ethik hat also als Teil der menschlichen Kultur den Sinn und Zweck, faire und vernünftige Lösungen eventuell gegenläufiger Charakter-, Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu ermöglichen, die dann auch zu handlungsleitenden, kategorischen Pflichten führen. Das erfordert, dass Handelnder und Betroffener nicht Teil eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs sind. Denn wären sie dies, so würde das bedeuten, dass sie zueinander nur im Verhältnis einer internen normativen Relation stünden, nicht im Verhält nis einer externen normativen Relation. Dann wäre nicht zu erklären, warum zwischen ihnen kategorische, handlungsbegrenzende Pflichten bestehen sollten, wie sie für Moral und Recht begriffliche Voraussetzung sind. Innerhalb eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs kann es gute Gründe der Klugheit geben, einzelne widerstreitende Handlungsgesichtspunkte zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Kategorische Pflichten müssen ihre letzte Quelle aber außerhalb dieses Kollektivs haben. Nur dann hängen sie nicht von willkürlichen Entscheidungen des umfassenden Kollektivs mit unmittelbarer Wirkung für seine Teile ab. Kollektive bedürfen für normative Entscheidungen keiner kategorischen Pflichten. Innerhalb eines normativ letztlich relevanten Kollektivs herrscht keine Moral und damit keine Ordnung, deren Verpflichtungen auf externen Relationen basieren, sondern lediglich die Faktizität der kollektiven, mehr oder weniger klugen Entscheidung über interne Relationen.

Wenn man von den Belangen bzw. Interessen von Kollektiven spricht, lässt sich immer die Frage anschließen: Entsprechen diese auch wirklich den dahinter stehenden moralisch zu berücksichtigenden Belangen bzw. Interessen der Mitglieder des Kollektivs? Liegt etwa ein bestimmtes Handeln eines Unternehmens auch wirklich im moralischen Interesse der Arbeitnehmer, Aktionäre und Kunden? Handelt die Repräsentantin oder der Repräsentant einer Familie wirklich im Interesse aller Familienmitglieder? Das Umgekehrte gilt aber nicht: Wenn Individuen moralisch betroffen sind und nicht in speziellen Rollen als Repräsentanten eines Kollektivs agieren, so kann man nicht moralisch fragen: Entsprechen die Auffassungen der fraglichen Individuen auch wirklich den dahinter stehenden, individuenunabhängigen Auffassungen des Kollektivs?

Diese grundlegende Asymmetrie der ethischen Berücksichtigung von Individuen und Kollektiven zeigt sich am deutlichsten in der Frage der Auflösbarkeit von Kollektiven. Es gibt keinen ethischen Grund, warum Kollektive gegen den klaren Willen, d. h. die Ziele und Wünsche aller zu berücksichtigenden Betroffenen, bestehen bleiben sollen. Stimmen alle zu berücksichtigenden Betroffenen zu, so ist die Auflösung von Kollektiven nicht verwerflich. So sieht man es nicht als verwerflich an, wenn Freundschaften auseinandergehen oder ein Verein seine Selbstauflösung beschließt. Die Beendigung einer Gemeinschaft als solche ist grundsätzlich ethisch indifferent. Gemeinschaften haben jenseits der Bejahung durch die Individuen keinen eigenen intrinsischen Wert.

Das Allprinzip

Warum sind alle von einer Handlung betroffenen Individuen zu berücksichtigen und nicht nur einige, etwa eine Elite, wie manche Äußerungen Nietzsches nahelegen? Warum gilt also neben dem Individualprinzip auch das Allprinzip des normativen Individualismus? Die normativ-ethische Trennung zwischen dem Handelnden und dem von einer Handlung ethisch relevant Betroffenen (und damit das Individualprinzip des normativen Individualismus) setzt voraus, dass der Betroffene eigenständige, in ethischer Hinsicht relevante Eigenschaften besitzt – andernfalls könnte er nicht ethisch berücksichtigungswürdig sein. Dies gilt aber für alle zu berücksichtigenden Individuen in gleicher Weise. Deshalb ist kein Grund ersichtlich, warum nicht alle Wesen, bei denen diese Voraussetzung vorliegt, grundsätzlich ethisch zu berücksichtigen sein sollen. Dies bereitet auch die Antwort auf die Frage vor, wie weit die Grenze der ethisch zu berücksichtigenden Individuen zu ziehen ist. Die Antwort lautet: Alle Individuen sind moralisch zu berücksichtigen, die derartige Belange (Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen) erkennen lassen.

Das Gleichheitsprinzip

Schließlich gilt auch grundsätzlich das Gleichheitsprinzip der Berücksichtigung der Individuen, weil nicht erkennbar ist, warum ein Individuum bei Bestehen der ethisch relevanten Eigenschaften prinzipiell einen Vorrang erhalten sollte. Die Bejahung des Gleichheitsprinzips des normativen Individualismus schließt allerdings nicht aus, dass in einzelnen Abwägungssituationen Individuen aus bestimmten Gründen, etwa einer höheren Entwicklung ihrer Belange oder einer besonderen persönlichen Nähe zum Akteur, mit ihren Interessen den Vorrang genießen.

Die entscheidenden Eigenschaften der Individuen: Ziele, Wünsche, Bedürfnisse, Strebungen (Belange bzw. Interessen)

Sind alle betroffenen Individuen letzter Ursprung der ethischen Rechtfertigung bzw. Kritik, stellt sich die Frage, welche Eigenschaft bzw. welcher Aspekt der Individuen normativ entscheidend sein soll. Dazu gibt es bekanntlich eine unübersehbare Vielzahl von Vorschlägen: Streben nach Selbsterhaltung (Hobbes), faktische Einwilligung (Locke), Wille, Willkür (Rousseau, Kant), Lust und Leid bzw. Nutzenbefriedigung (Bentham, Mill, Utilitarismus), Rechte (Nozick, Dworkin), Bedürfnisse (Marx, Apel), Freiheiten (v. Hayek), Interessen (Patzig, Hoerster, Höffe), Präferenzen (Arrow, Gauthier), Wohlergehen (Griffin, Raz), Fähigkeiten (Sen, Nussbaum), fiktive Zustimmung bzw. Rechtfertigung (Rawls, Scanlon, Habermas, Koller).

Nimmt man die Individuen ernst, dann darf man ihnen keine bestimmte Eigenschaft von außen vorschreiben, sondern muss sie grundsätzlich selbst entscheiden lassen, welcher Aspekt ihrer Individualität ausschlaggebend sein soll, selbst wenn die Entscheidung irrational ist. Eine solche Selbstentscheidung ist aber natürlich im Rahmen einer abstrakten ethischen Theorie nicht für konkrete Konflikte und konkrete Individuen möglich. Dann muss man jedoch zumindest Theorieelemente annehmen, durch welche die Selbstentscheidung der Individuen möglichst ernst genommen wird. Das führt zur Unplausibilität des Hedonismus: Es mag sein, dass manche unserer normativ relevanten Eigenschaften auf Lust und Leid rückführbar sind oder zumindest auch Aspekte von Lust und Leid enthalten. Aber wir nehmen als entscheidungsfähige Wesen für uns in Anspruch, körperliche Strebungen bzw. Bedürfnisse der Lustmehrung und Leidvermeidung durch unseren Willen und unsere mentalen Fähigkeiten noch einmal zu bewerten und zu beurteilen. Wir setzen etwa ein Fußballspiel trotz verletzungsbedingter Schmerzen fort. Wir helfen Anderen, weil es notwendig ist, selbst wenn dies Gefühle der Unlust bei uns erzeugt. Diesem Anspruch auf voluntative und mentale Bewertung und Beurteilung körperlicher Strebungen und Bedürfnisse, der ein zentraler Ausdruck unserer Individualität und unseres Selbstverständnisses ist, muss im Rahmen einer ethischen Theorie, die dem normativen Individualismus verpflichtet ist, Rechnung getragen werden.

Die normativ relevanten Eigenschaften der Individuen stehen in einem Kontinuum oder einer Reihe von Abstufungen zwischen körperlicher und mentaler Bestimmtheit: Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele (Absichten, verallgemeinert: der Wille). Die vier Begriffe sind unscharf begrenzt, aber man kann sie vielleicht folgendermaßen präzisieren: Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Integrität jenseits der bloßen Wirkung der physikalischen Grundkräfte dienen. Sie lassen sich als lokale und zeitweilige Umkehrung der allgemeinen physikalischen Entropie kennzeichnen und finden sich nur bei Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren und Menschen, nicht aber bei lebloser Materie, wie Steinen oder Gewässern. Eine Strebung des Menschen ist z. B. die nach körperlichem Temperaturausgleich. Bedürfnisse haben häufig eine körperliche Basis, sind aber geistig beeinflussbar, etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt und den Umfang der Befriedigung. Sie finden sich nur bei Tieren und Menschen, etwa das Bedürfnis nach Nahrung, nach Flüssigkeit, nach Ausscheidung, nach Wärme, nach Trockenheit etc. Wünsche haben gelegentlich auch eine körperliche, primär aber eine geistige Komponente. Die geistige Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig sachlich und zeitlich gegenüber einer eventuellen körperlichen Komponente durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches inhaltlich modifizieren oder sogar ganz unterdrücken. Wünsche finden sich hauptsächlich bei Menschen, möglicherweise auch bei höheren Tieren, etwa der Wunsch nach Geselligkeit, Schutz, Abenteuer, Unterhaltung, neuen Erlebnissen, Vergnügen. Ziele (Absichten) sind schließlich rein mentale Eigenschaften und nach allem, was wir wissen, vor allem bei Menschen zu finden, obwohl höhere Tiere nach neueren Erkenntnissen z. B. auch Werkzeuge zu bestimmten Zwecken benutzen. Ziele wären etwa die Veränderung der Gesellschaft, der Erwerb von Anerkennung, das Verfassen eines Buches, das Erreichen einer beruflichen Stellung, die Teilnahme an einer Reise. Ziele können zu anderen Zielen in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen. Man spricht dann von untergeordneten und übergeordneten Zielen.

Pluralismus des Bezugs der Wertungen und Verpflichtungen

Die Belange des von einer Handlung betroffenen Anderen können sich prinzipiell auf alle Aspekte der Handlung eines Akteurs im weitesten Sinn beziehen: Charaktereigenschaften/Tugenden, Überzeugungen, Wünsche, Absichten, die Suche nach Mitteln, der Handlungswille/die Mittelauswahl, die Handlung im engeren Sinne sowie die Konsequenzen.

Der Konsequentialismus behauptet dagegen eine ausschließliche oder in schwächeren Versionen zumindest primäre Bezugnahme der Interessen bzw. moralischen Wertungen und Verpflichtungen auf die tatsächlichen bzw. intendierten Konsequenzen von Handlungen, wobei alle anderen Elemente allenfalls sekundär der Sicherung bester Konsequenzen dienen sollen. Kant sowie kantianische Theorien wollen die Berücksichtigung dagegen auf den guten Willen bzw. die guten Absichten begrenzen. Beide Beschränkungen sind nach der hier vorgetragenen Auffassung unhaltbar. Was spricht für diese These des Pluralismus des Bezugs der Belange auf alle möglichen Elemente der fraglichen Handlung? Zunächst dies: Wir können bei realen Belangen eine plurale Bezugnahme auf alle Elemente der Handlung beobachten: Die meisten Menschen haben etwa nicht nur ein Interesse, dass sie ihr Nachbar nicht in den Konsequenzen seines Handelns schädigt, sondern auch, dass er keinen gewalttätig-schädigenden Charakter hat, keinen Schädigungswunsch entstehen lässt, keine Schädigungsabsicht entwickelt, keine Vorbereitungen zur Schädigung trifft, keine schädigenden Mittel erwägt, keinen konkreten Handlungswillen zur Schädigung fasst und keine Schädigungshandlung durchführt (was natürlich nicht heißt, dass diese Interessen auch berechtigt sind und den Nachbarn als Ergebnis einer Abwägung normativ-ethisch verpflichten). Auch das Strafrecht bestraft nicht nur die vollendete, vorsätzliche Tat, sondern bei vielen Delikten bereits den Versuch einerseits und die fahrlässig herbeigeführten Folgen andererseits.

Die Ablehnung des Konsequentialismus schließt nicht aus, dass bei bestimmten Entscheidungen, etwa vielen Fällen der politischen Ethik, praktisch allein eine Abwägung der voraussehbaren Konsequenzen zentral sein wird, z. B. bei der Frage, ob, wie und wo eine Umgehungsstraße oder ein Schwimmbad gebaut wird. Umgekehrt wird in persönlichen Nahbeziehungen vor allem der Wille eine wesentliche Rolle spielen. Die abstrakte These des grundsätzlich gleichmäßigen Bezugs der Interessen auf alle Handlungselemente ist also damit vereinbar, dass in konkreter typisierten oder einzelnen Entscheidungssituationen der Bezug der Belange bzw. Interessen mit guten Gründen auf einzelne Elemente der Handlung im weiteren Sinn konzentriert wird.

Notwendigkeit eines Abwägungs- bzw. Zusammenfassungsprinzips

Im Falle ihres realen oder möglichen Widerstreits müssen die individuellen Belange notwendig abgewogen bzw. zusammengefasst werden, um zu einer begründeten ethischen Entscheidung zu gelangen. Ein vergleichbares Prinzip der Abwägung wird vom Utilitarismus (als Maximierungsprinzip bzw. Summenprinzip), von deontologischen Ethiken (als Verallgemeinerungsprinzip) sowie beinahe allen anderen Ethiken mit Ausnahme rein egoistischer Willensethiken, wie derjenigen Nietzsches, oder situativen oder dezisionistischen Ethiken bejaht.

Das Abwägungsprinzip


Zwischen den Belangen unterschiedlicher Individuen muss mit Hilfe eines Abwägungsprinzips eine Entscheidung herbeigeführt werden. Dabei stehen als Kandidaten verschiedene solche Prinzipien zur Verfügung. Alle diese Prinzipien haben zwar eine gewisse Berechtigung, sie sind aber entweder zu abstrakt und können eine Abwägung nicht konkret inhaltlich steuern (Vertragsprinzip, Diskursprinzip) oder sie sind zu konkret und können deshalb nur bei bestimmten Fallkonstellationen überzeugen (Gleichheitsprinzip, Maximierungsprinzip, Maximinprinzip, Paretoprinzip, Verallgemeinerungsprinzip, Genügensprinzip).

Wie könnte dann ein allgemeines, für jeden ethischen Konflikt signifikantes und gleichzeitig abwägungstaugliches Prinzip aussehen? Der grundlegende Gesichtspunkt ist die unterschiedliche Wertigkeit bzw. Berücksichtigungswürdigkeit der Belange in der Abwägung. Wie soll diese bestimmt werden? Es liegt nahe, nicht nur die Belange der Betroffenen, sondern auch die jeweilige Gewichtung der eigenen Belange auf einer sekundären Ebene zu berücksichtigen. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich der einzelne durch eine besondere Gewichtung der eigenen Belange in der Abwägung einen Sondervorteil verschafft. Es gilt deshalb, die Bewertung der Belange zu objektivieren. Eine Lösung bietet das „Prinzip der relativen Individual- und Gemeinschaftsbezogenheit der Individualbelange“: Je stärker der Belang bzw. das Interesse eines ethisch zu berücksichtigenden Individuums in der Entstehung oder Realisierung notwendig von anderen Betroffenen bzw. einer Gemeinschaft abhängt, desto eher muss sich das Individuum eine Relativierung in der Abwägung gefallen lassen bzw. darf die Gemeinschaft nach Gemeinschaftszielen entscheiden.

Die genannte Abhängigkeit kann sich aus zwei Gründen ergeben:

- historisch und vergangenheitsorientiert, weil eine bestimmte Praxis mit Anderen die notwendige Entstehungsbedingung der Ausprägung des Belangs war (etwa der gesellschaftliche Trend zu einer bestimmten Sportart wie dem Joggen als Bedingung des Wunsches zu joggen);

- instrumentell und zukunftsorientiert, weil eine bestimmte Praxis nur mit Anderen bzw. in einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren Einrichtungen realisiert werden kann (etwa das Interesse, mit Anderen zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten oder in einer bestimmten Stadt ein bestimmtes öffentliches Verkehrsmittel wie die U-Bahn zu benutzen).

Man kann bei der relativen Individual- und Gemeinschaftsabhängigkeit in idealtypischer Form von einem Kontinuum ausgehen. An dessen einem Ende stehen Belange, die sehr wenig oder gar nicht notwendig von den jeweils betroffenen Anderen bzw. der spezifischen Gemeinschaft abhängen, sondern durch sie allenfalls zufällig gefördert oder nicht gefördert werden, etwa das physische Leben des einzelnen, seine körperliche Unversehrtheit, sein grundlegendes Denken und Wollen oder seine Würde. Diese Interessen lassen sich in allen Ländern der Erde und in allen Kulturen und Gesellschaften realisieren. Für sie gilt vor allem das Gleichheitsprinzip, weil sich die Individuen ohne Rechtfertigung für eine Unterscheidung mit ihren individuellen Belangen gegenüberstehen. Das Interesse, nicht gefoltert zu werden, verbindet z. B. die jeweils kaum gemeinschaftsabhängigen Interessen an der eigenen körperlichen Unversehrtheit und der eigenen Willensentschließung und potenziert damit quasi deren je einzelne starke Individualabhängigkeit. Deshalb muss das Interesse, nicht gefoltert zu werden, in höchstem Maße frei von relativierenden Abwägungen bleiben.

Am anderen Ende des Kontinuums stehen fast vollständig von Anderen bzw. sozialen Gemeinschaften abhängige Belange, wie etwa das Interesse, mit Anderen zu kommunizieren, zusammenzuarbeiten, öffentliche Einrichtungen wie Museen oder Verkehrsmittel zu nutzen, das Interesse an sozialer Unterstützung, an natürlichen Ressourcen wie sauberer Luft oder Mineralöl und an dem Erhalt der Gemeinschaft. Für diese sehr stark sozial abhängigen Belange gilt wohl vor allem das Maximierungsprinzip, weil die Abhängigkeit der Belange von der Gemeinschaft die gemeinschaftliche Entscheidung rechtfertigt. Der einzelne kann der kollektiven Perfektionierung kein legitimes Veto entgegenhalten. Zwischen beiden Extremen liegen z. B. Interessen an respektvoller Behandlung, der Aufklärung über persönlich wichtige Tatsachen, der Erwerbstätigkeit, der freien Meinungsäußerung oder der Nutzung eigener Güter, also vor allem die klassischen Menschenrechte jenseits von Leib, Leben und Psyche. Für diese Interessen gelten weder das Gleichheits- noch das Maximierungsprinzip, sondern es muss eine faire Abwägung erfolgen, etwa nach dem Paretoprinzip oder dem Maximinprinzip.

Man kann idealtypisch zur Gewichtung drei Arten oder Zonen von Belangen bzw. Interessen unterscheiden:
(1) die Belange einer Individualzone, die grundsätzlich nicht oder praktisch nicht notwendig von bestimmten Anderen abhängen, etwa Leib, Leben, physische und psychische Unversehrtheit, also Belange, die innerhalb einer symbolischen Körpergrenze lokalisierbar sind,

(2) die Belange einer Relativzone, die partiell notwendig von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa die allgemeine Freiheit der Handlung, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Freiheit der Religionsausübung, die Freiheit der Berufsausübung, die Hilfe durch andere in Notlagen,

(3) die Belange einer Sozialzone, die weitgehend oder fast vollständig notwendig von Anderen oder einer Gemeinschaft abhängen, etwa das Interesse an gemeinsamen Aktivitäten im Erwerbsleben, der Kultur oder im Sport, die hocharbeitsteilige und infrastrukturabhängige moderne Wirtschaft, die Nutzung natürlicher Ressourcen, die Gleichheit sozialer Chancen.

Zur Abwägung zwischen potentiell widerstreitenden Belangen kann man nun statt des abstrakteren Grundprinzips der relativen Individual- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit diese Typisierung in drei Zonen heranziehen. Man muss dazu die potentiell konfligierenden Interessen einer der drei Zonen zuordnen. Dann ist entscheidend, ob ein Widerstreit zwischen Belangen der gleichen Zone oder unterschiedlicher Zonen besteht:

Im Fall eines Widerstreits zwischen Belangen der gleichen Zone erscheinen folgende Grundprinzipien einleuchtend:

(1) Im Falle eines Konflikts zwischen Interessen der Individualzone gilt das Gleichheitsprinzip. Steht etwa Leben gegen Leben, so sind alle Betroffenen grundsätzlich gleich zu berücksichtigen. Es ist kein Grund ersichtlich, das Leben des einen höher zu bewerten als das Leben des anderen. Das verbietet es grundsätzlich, zu fordern, dass ein Leben für ein anderes geopfert wird.

(2) Im Falle eines Konflikts zwischen Interessen der Relativzone wird man differenzieren müssen. Für die Abwägung individueller Handlungen, etwa wenn zwei Personen einer beruflichen Tätigkeit nachgehen wollen, gilt wohl ebenfalls grundsätzlich das Gleichheitsprinzip. Es ist nicht ersichtlich, warum eine Berufsausübung grundsätzlich besser oder wichtiger als die andere sein soll. Allerdings wird man im Konflikt wohl anders als in der Individualzone auch weitergehende Gesichtspunkte der Gewichtigkeit berücksichtigen müssen. Für den Bereich des privaten Austausches von Gütern gilt etwa das Paretoprinzip. Niemand darf schlechter gestellt werden. Aber dass sich einige verbessern, ist nicht unzulässig. Für den Bereich der öffentlichen Verteilung von Gütern ist dagegen bereits eine stärkere Gemeinschaftsorientierung anzunehmen, da die Güter vor der Verteilung gemeinschaftlich erzeugt werden müssen. Hier ist Rawls’ Differenzprinzip ein guter Kandidat.

(3) Im Falle eines Konflikts zwischen Belangen der Sozialzone tritt dagegen die Prägung der Interessen durch Andere und die Gemeinschaft in den Vordergrund: Dann ist regelmäßig das Maximierungsprinzip einleuchtend. Die Gemeinschaft kann die Optimierung der Summe der gemeinschaftlichen Belange verfolgen, etwa bei politischen Projekten, z. B. der Austragung Olympischer Spiele.

In Konstellationen des Widerstreits von Interessen verschiedener Zonen ist die Abwägung komplizierter und kann hier nur angedeutet werden:

(1) Grundsätzlich gilt, dass die Belange der Individualzone gegenüber solchen der Relativ- und der Sozialzone den absoluten Vorrang genießen, weil gegenüber den einzelnen Betroffenen keine Einschränkung ihrer kaum von bestimmten Anderen oder der Gemeinschaft notwendig abhängigen Belange rechtfertigbar ist. Man darf etwa Anderen nicht das Leben nehmen oder weit jenseits natürlicher Risiken gefährden, um den eigenen Beruf auszuüben oder gemeinschaftliche Projekte wie etwa Baumaßnahmen zu verfolgen. Man darf sie nicht zur Förderung des allgemeinen Wohls foltern usw.

(2) Bei den Belangen der Relativzone besteht ebenfalls ein solcher Vorrang gegenüber Belangen der Sozialzone, aber kein absoluter, sondern nur ein relativer und grundsätzlicher. Dem individuellen Wunsch, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, wird man prinzipiell einen gewissen Vorrang vor gemeinsamen Projekten der Zusammenarbeit zuerkennen. Der einzelne muss frei sein, zu entscheiden, ob er sich an einer derartigen Zusammenarbeit beteiligen will oder lieber alleine oder mit anderen tätig sein möchte. Der einzelne darf etwa nicht gezwungen werden, im Interesse der Familie einen bestimmten Beruf zu ergreifen oder einen bestimmen Partner zu wählen.

UNSER AUTOR:

Dietmar von der Pfordten ist Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Universität Göttingen.

Von ihm sind zum Thema u. a. erschienen:
von der Pfordten, Dietmar (2004): Normativer Individualismus, Zeitschrift für Philosophische Forschung 58, S. 321-346.

von der Pfordten, Dietmar (2007): Fünf Elemente normativer Ethik – Eine allgemeine Theorie des normativen Individualismus, Zeitschrift für philosophische Forschung 61, S. 283-319. (engl. in: Ethical Theory and Moral Practice 15 (2012), S. 449-471).

von der Pfordten, Dietmar (2010): Normative Ethik. Berlin: De Gruyter.

von der Pfordten, Dietmar (2013): Worauf beziehen sich moralische Urteile und Verpflichtungen?, Zeitschrift für Philosophische Forschung 67, S. 242-262.

von der Pfordten, Dietmar / Kähler, Lorenz (Hrsg.) (2014) Normativer Individualismus in Ethik, Politik, und Recht. Tübingen: Mohr Siebeck.