PhilosophiePhilosophie

01 2022

Kristina Lepold:
Anerkennung

aus: Heft 1/2022, S. 16-25
 
Die Problematik der Anerkennung ist uns aus dem Alltag vertraut. Jeder von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, von einer anderen Person nicht angemessen anerkannt zu werden. Zugleich freuen wir uns gewöhnlich über die Wertschätzung durch die Kollegin, die Aufmerksamkeit der Freunde für unsere Bedürfnisse und können nachvollziehen, warum Menschen zum Beispiel gegen Arbeitsbedingungen protestieren, die sie als entwürdigend erleben. Doch was genau ist Anerkennung? Warum ist sie für Personen wichtig? Welche Rolle spielt Anerkennung im gesellschaftlichen Leben? Und wie sind unterschiedliche Forderungen nach Anerkennung in normativer Hinsicht zu bewerten? Über diese Fragen hat sich in den letzten 30 Jahren in der Sozialphilosophie und politischen Philosophie international eine rege Diskussion entsponnen.
 
Was ist Anerkennung?
 
Wer sich philosophisch mit Anerkennung beschäftigt, sieht sich mit dem Umstand konfrontiert, dass der deutsche Ausdruck „Anerkennung“, aber auch der englische Ausdruck „recognition“ nicht nur eine, sondern mehrere Bedeutungen haben. Einige Autoren haben daher die Wichtigkeit betont, die verschiedenen Bedeutungen zunächst klar auseinanderzuhalten, um von dort ausgehend das Kernphänomen, das mit „Anerkennung“ bezeichnet werden soll, präziser zu fassen (vgl. etwa [2], S. 7-10). Allgemein lassen sich drei Bedeutungen von „Anerkennung“ bzw. „recognition“ unterscheiden:
 
● Der englische Ausdruck „recognition“ verweist primär auf den Akt der Identifizierung von etwas oder jemandem als X. Zum Beispiel kann jemand in diesem Sinn den Gegenstand vor ihrem Fenster als Baum oder die Person auf der Straße als ihre Nachbarin identifizieren. Im Deutschen sprechen wir hier allerdings nicht von „Anerkennung“.
 
● Sowohl im Englischen als auch im Deutschen kann man ferner Tatsachen anerkennen, akzeptieren oder einräumen (im Englischen auch „to acknowledge“). In diesem Sinn kann eine Person anerkennen, dass das Wetter zu schlecht ist, um draußen Fußball zu spielen, oder anerkennen, dass sie als Arbeitnehmerin in Deutschland verpflichtet ist, dort auch Steuern zu zahlen.
 
● Zudem können Personen oder Gruppen von Personen durch andere in einer bestimmten Eigenschaft anerkannt, bestätigt oder affirmiert werden, was im Rahmen der deutschen Begriffsverwendung im Vordergrund steht. Um Anerkennung in dieser dritten Bedeutung geht es in der philosophischen Diskussion. Dabei wird von manchen betont, dass Anerkennung in dieser Bedeutung nicht gänzlich unabhängig von Anerkennung in den ersten beiden Bedeutungen ist. So scheint beispielsweise die Identifizierung als X eine notwendige Bedingung für die Affirmierung bestimmter Eigenschaften von Personen oder Gruppen von Personen zu sein. Anerkennung in dieser dritten Bedeutung hängt aufs Engste mit Anerkennung im Sinne von Einräumen   oder Akzeptieren zusammen. Ob Kollektive und Institutionen dieselben oder zumindest ähnliche Fähigkeiten haben, ist eine interessante Frage, die die Debatte um Anerkennung mit der Debatte um kollektive Intentionalität verknüpft (vgl. u. a. [10]).
 
Können nur Personen in philosophisch relevanter Hinsicht die Rolle von Anerkennenden und Anerkannten innehaben oder auch Institutionen und Kollektive? Auf den ersten Blick scheint es unproblematisch, zu sagen, dass eine Institution eine Person in einer Eigenschaft anerkennt oder affirmiert, oder von der Anerkennung von ganzen Gruppen zu sprechen Die meisten an der Debatte beteiligten Autorinnen und Autoren verstehen jedoch Anerkennung ausschließlich als eine Beziehung zwischen Personen (eine Ausnahme bildet etwa Charles Taylor). Diese Personen können Gruppen angehören und tun dies auch häufig, doch sind es die Personen und nicht die Gruppen, die anerkennen und anerkannt werden. Diese verbreitete Auffassung beruht auf der Annahme, dass Anerkennung auf beiden Seiten Fähigkeiten voraussetzt, wie wir sie gewöhnlich nur Personen zuschreiben.
 
Der Umstand, dass Anerkennung aus Sicht vieler Autorinnen und Autoren auf beiden Seiten bestimmte Fähigkeiten voraussetzt, lässt ferner auch erkennen, wie sie eine andere Frage beantworten, die sich in diesem Zusammenhang stellt, die Frage nämlich, ob Anerkennung grundsätzlich monologisch oder dialogisch vorzustellen ist. Wenn nicht nur auf Seiten der anerkennenden Person Fähigkeiten vorausgesetzt sein sollen, sondern auch auf Seiten der anerkannten Person, legt das eine dialogische Auffassung nahe, der zufolge beide Seiten am Zustandekommen von Anerkennung beteiligt sind. In anderen Worten reicht es nach Meinung der großen Mehrheit der an der Diskussion Beteiligten für das Vorliegen von Anerkennung nicht, wenn nur die anerkennende Person etwas tut.
 
 
Welche Fähigkeiten hier unter anderem gemeint sind, wird klarer, wenn man den Vorgang der Anerkennung näher zu fassen versucht: Hinsichtlich der anerkannten Person besteht in der Literatur große Einigkeit darüber, dass nur anerkannt werden kann, wer erstens versteht (und das heißt auch: zu verstehen fähig ist), dass ihm Anerkennung zuteil wird, und wer diese Anerkennung zweitens auch akzeptiert (und das heißt auch: zu akzeptieren fähig ist). Letzteres beinhaltet, dass man die anerkennende Person ihrerseits als fähig erachtet und ihr auch die Autorität zuspricht, diese Anerkennung zu gewähren.
 
Wenn man sich der anerkennenden Person zuwendet, könnte man nun meinen, dass alles, was diese tun muss, um die andere Person anzuerkennen, darin besteht, der anderen Person ein positives Bild ihrer selbst bzw. einiger ihrer Eigenschaften zu kommunizieren. Es hat sich in der Diskussion jedoch eine Sichtweise durchgesetzt, wonach bloß symbolische     Äußerungen (wie „Du bist toll!“) keine Anerkennung konstituieren können. Zentral sind vielmehr die Einstellungen und Handlungen der anerkennenden Person. Diese müssen derart beschaffen sein, dass sie eine Eigenschaft der anderen Person bestätigen oder affirmieren. Axel Honneth, dessen Arbeiten den zentralen Bezugspunkt des sozialphilosophischen Strangs der Anerkennungsdiskussion bilden, beschreibt dies wie folgt: Eine Person, die    einer anderen in einer anerkennenden Einstellung begegnet, nimmt an dieser bestimmte Eigenschaften (zum Beispiel deren Bedürfnisse) in ihrem Wert wahr und verpflichtet sich dabei zugleich, den Eigenschaften der anderen Person im eigenen Handeln Rechnung zu tragen.
 
Handelt sie dann auch entsprechend (indem sie sich zum Beispiel um die Bedürfnisse der anderen Person kümmert), kann man laut Honneth sagen, dass ihre Handlungen eine Bestätigung der anderen Person zum Ausdruck bringen. Auch das Anerkennen setzt somit komplexe Fähigkeiten voraus. Insbesondere muss die anerkennende Person fähig sein, Ansprüche der anderen Person an sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren. Letzteres beinhaltet, dass sie der anderen Person die Autorität zuspricht, über die Angemessenheit des eigenen Handelns zu urteilen.
 
Es ist häufig bemängelt worden, dass Anerkennungstheoretikerinnen und -theoretiker das Augenmerk vor allem darauf richten, dass Personen Anerkennung brauchen oder ein Bedürfnis nach Anerkennung haben. Autoren wie Honneth haben jedoch gezeigt, dass der Vorgang der Anerkennung eine anspruchsvolle normative Binnenstruktur aufweist. Sie sehen die wechselseitige Zuschreibung von normativer Autorität für den Vorgang der Anerkennung als zentral an, worin sie jüngeren pragmatistischen Hegel-Interpretationen folgen. Während Hegel-Interpreten wie Robert B. Brandom jedoch dazu neigen, Anerkennung ausschließlich als Zuschreibung von normativer Autorität zu beschreiben, werden in der gegenwärtigen sozialphilosophischen Diskussion im Anschluss an Honneth häufig drei Anerkennungsformen unterschieden: Liebe (oder Fürsorge), Wertschätzung und Achtung. Verschieden ist dabei, was jeweils anerkannt wird (zum Beispiel Bedürfnisse     oder besondere Leistungen), und die Weise, wie es konkret anerkannt wird (zum Beispiel Einstellungen und Handlungen der Fürsorge versus Einstellungen und Handlungen der Wertschätzung), (vgl. [5], [6]).
 
Die Bedeutung von Anerkennung für Personen
 
Anerkennung wird als etwas Positives betrachtet. Sie erscheint uns als etwas, das unser eigenes Leben bereichert bzw. – wenn wir länger darüber nachdenken – vielleicht sogar als etwas, das elementar dafür ist, dass wir nicht nur leben, sondern gut leben. Für die Anerkennungsdiskussion ist es denn auch charakteristisch, dass in ihr Fragen nach dem guten Leben ein großer Stellenwert zukommt. Diesbezüglich gibt es gewisse Überschneidungen mit dem Kommunitarismus – einer Strömung, die sich in den 1980er und 1990er Jahren als Reaktion auf die ethische Enthaltsamkeit der politischen Philosophie bildete. Es ist nicht überraschend, dass einer der      Autoren des Kommunitarismus, Charles Taylor, in den 1990er Jahren mit Politik der Anerkennung einen der beiden Texte veröffentlichte, der die zeitgenössische Diskussion um Anerkennung in Gang brachte ([8]). In ihm geht Taylor von der Grundbehauptung aus, dass Menschen ein Bedürfnis nach Anerkennung haben, weil sie nur vermöge der Anerkennung zu einer intakten Identität gelangen können. Was bei Taylor eher angedeutet wird, wird bei Axel Honneth, der in den 1990er Jahren mit Kampf um Anerkennung den anderen für die Diskussion zentralen Text veröffentlichte, weiter ausgearbeitet ([5]).
 
Honneth geht davon aus, dass Personen vermöge der Anerkennung durch andere zu dem gelangen, was er als „positive Selbstbeziehung“ bezeichnet. In dem Maße, in dem etwa familiäre Bezugspersonen durch ihre Fürsorge ein Kind als bedürftiges Wesen anerkennen, bezieht sich das Kind sich auf seine eigenen Bedürfnisse als etwas Wertvolles. Das Kind entwickelt eine positive Selbstbeziehung, die Honneth als Selbstvertrauen bezeichnet. Durch die beiden anderen Anerkennungsformen, die Honneth unterscheidet, Wertschätzung und Achtung, können Personen darüber hinaus Selbstwertschätzung und Selbstachtung als weitere positive Selbstbeziehungen ausbilden. In der Literatur ist gefragt worden, wie stark der Zusammenhang zu verstehen ist. Kann eine Person ohne Anerkennung kein positives Verständnis ihrer selbst haben, oder ist es vielmehr so, dass ihren eigenen Urteilen ohne die Anerkennung durch andere stets etwas Ungewisses oder Vorläufiges anhaftet? Auch stellt sich die Frage, ob man kontinuierlich Erfahrungen der Anerkennung machen muss, damit eine positive Selbstbeziehung bestehen bleibt oder ob eine positive Selbstbeziehung, sobald sie einmal ausgebildet wurde, relativ stabil über die Zeit ist.
 
Honneth geht es jedoch nicht nur darum, dass Anerkennung wichtig für die psychische Gesundheit oder das psychische Wohlergehen von Personen ist. Er glaubt ferner, dass sich positiv auf sich selbst beziehen zu können letztlich die Voraussetzung für eine ungezwungene Verwirklichung des eigenen Selbst ist. Nur wer zum Beispiel Sicherheit mit Blick auf den Wert etwa der eigenen Bedürfnisse hat, wird sich trauen, diese angstfrei zu artikulieren. In anderen Worten ist Anerkennung nach Auffassung Honneths am Ende deshalb wichtig, weil sie gelebte oder wirkliche Freiheit möglich macht (vgl. bereits [5], Kap. 9, und [6]).
 
Die gesellschaftliche Rolle von Anerkennung
 
Nun mag man zu bedenken geben, dass nicht jede Person jederzeit anerkannt wird. Wir alle kennen aus unserem eigenen Leben Situationen, in denen wir uns von einer anderen Person nicht angemessen anerkannt gefühlt haben. In diesem Zusammenhang stellt sich zum
einen die wichtige normative Frage, wann Anerkennung gerechtfertigterweise erwartet oder eingefordert werden kann und wann ein Ausbleiben von Anerkennung als problematisch zu bewerten ist. Wenn sich eine fremde Frau in der U-Bahn beschwert, dass ich sie nicht aktiv in ihren Lebensentscheidungen unterstütze, würden wir kaum sagen, dass das Ausbleiben von Anerkennung hier in normativer Hinsicht ein Problem darstellt. Der Umstand, dass wir im sozialen Leben sowohl Anerkennung als auch das Gegenteil – das Ausbleiben von Anerkennung und aktive Formen von Missachtung – erleben und beobachten, ist in der philosophischen Diskussion aber auch unter der Fragestellung betrachtet worden: Kann man von hier ausgehend soziale und politische Auseinandersetzungen verstehen? Um diese deskriptive Frage soll es im vorliegenden Abschnitt gehen.
 
In einer Vielzahl von sozialen und politischen Auseinandersetzungen geht es um Anerkennung. In seinem berühmten Aufsatz Die Politik der Anerkennung [kl2] von 1992 geht Charles Taylor davon aus und versucht die Voraussetzungen zeitgenössischer Forderungen nach Anerkennung zu klären. Taylor glaubt, dass eine „Politik der allgemeinen Menschenwürde“, die zum Beispiel auf die Ausweitung des Wahlrechts auf alle Mitglieder einer Gesellschaft zielt, in der Gegenwart tendenziell durch eine Politik der Anerkennung kultureller Besonderheit abgelöst wird. Er untersucht in diesem Zusammenhang zum einen Forderungen von nationalen Minderheiten wie der frankokanadischen nach bestimmten Sonderrechten, zum anderen aber etwa auch Forderungen zur Diversifizierung von Schulcurricula (vgl. [8]).
 
Dass eine sogenannte „Politik der Differenz“, in der es vor allem um die Anerkennung von kulturellen Identitäten geht, Einzug in die Öffentlichkeit gehalten hat, davon ist auch Nancy Fraser überzeugt. Sie warnt allerdings davor, soziale und politische Auseinandersetzungen nur noch als Auseinandersetzungen um Anerkennung wahrzunehmen. Sie erinnert an das Weiterbestehen der klassischen sozioökonomischen Auseinandersetzungen, in denen traditionelle Forderungen nach Umverteilung artikuliert werden (vgl. [4]). Demgegenüber hat Axel Honneth prominent die Auffassung vertreten, dass es erstens falsch wäre zu glauben, dass wir es erst heute mit Forderungen nach der Anerkennung von Besonderheit zu tun hätten und dass es zweitens falsch wäre, Auseinandersetzungen um Anerkennung in dieser Weise mit Auseinandersetzungen um Umverteilung zu kontrastieren. Auch Kämpfe um eine materielle Grundabsicherung oder Kämpfe um eine angemessene Entlohnung seien letztlich, so Honneth, als Auseinandersetzungen um Anerkennung zu analysieren (vgl. [4], insb. S. 177-189).
 
Es gibt in der Diskussion somit nicht nur Uneinigkeit darüber, wie neu Forderungen nach der Anerkennung von kultureller Besonderheit sind, sondern auch darüber, als wie umfassend das Set an Auseinandersetzungen, in denen es um Anerkennung geht, angesehen werden muss. Im Hintergrund der Fraser-Honneth-Debatte stehen dabei zudem komplizierte Fragen danach, wie moderne kapitalistischen Ökonomien sozialtheoretisch am besten zu beschreiben sind (vgl. dazu auch [14]): Funktionieren sie weitgehend unabhängig von den normativen Vorstellungen und Erwartungen von Gesellschaftsmitgliedern, oder sind letztere ein integraler Bestandteil ökonomischer Dynamiken? Während Fraser glaubt, dass etwa Proteste gegen einen geplanten Stellenabbau letztlich auf systemische Dynamiken innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsform reagieren, meint Honneth, dass ökonomische Dynamiken an den normativen Konsens einer Gesellschaft rückgebunden sind.
 
Gerade Honneth interessierte sich von Anfang an zudem auch dafür, wie es überhaupt zu Kämpfen um Anerkennung kommt. Dies ist in Zusammenhang mit seinem Versuch zu sehen, das Projekt einer kritischen Gesellschaftstheorie in der Tradition der Frankfurter Schule auf eine neue Grundlage zu stellen. Honneths These, dass Erfahrungen des Ausbleibens von Anerkennung oder der Missachtung den Anstoß zu Kämpfen um Anerkennung geben und gesellschaftliche Veränderungen erklären können, hat in der Diskussion großen Widerhall gefunden (vgl. u. a. [11]). Honneth geht davon aus, dass Personen aufgrund des genannten Zusammenhangs von Anerkennung und Selbstverwirklichung leiden, wenn sie nicht anerkannt werden. Diesem Leiden kommt bei der Entstehung von Kämpfen seiner Auffassung zufolge eine doppelte Rolle zu:
 
● Zum einen kann es, wie Honneth gestützt auf pragmatistische Überlegungen argumentiert, dazu führen, dass eine Person sich ihrer normativen Erwartungen an das Gegenüber bewusst wird („eigentlich sollte mich die andere Person doch anders behandeln“).
 
● Zum anderen soll das Leiden, wie Honneth wiederum gestützt auf psychoanalytische Vorstellungen behauptet, die motivationale Grundlage für den Widerstand gegen das als unangemessen wahrgenommene Verhalten des Gegenübers bilden. Auf diese Weise kann es zu Kämpfen um Anerkennung kommen. Wo strukturell ähnliche Erfahrungen mangelnder Anerkennung oder von Missachtung gemacht werden, können diese Kämpfe einen nicht bloß individuellen, sondern sozialen Charakter haben.
 
Allerdings ist grundsätzlich zu fragen, wie stark Honneths These zu verstehen ist: Führen Erfahrungen des Ausbleibens von Anerkennung oder der Missachtung immer zu Kämpfen um Anerkennung, wie Honneth an manchen Stellen nahelegt, oder nur in einigen Fällen? Letzteres zu vertreten wäre deutlich plausibler. So ist zum Beispiel zweifelhaft, ob Personen in der Folge des ausgelösten Leidens notwendigerweise realisieren, dass Erwartungen, die sie an das Gegenüber hatten, verletzt wurden. Diesbezüglich besteht eine interessante Verbindung zu den Phänomenen, die in der gegenwärtigen Debatte um epistemische Ungerechtigkeit im Anschluss an Mirandas Fricker bahnbrechende Arbeiten analysiert werden. Es scheint, dass in manchen Fällen erst geeignete hermeneutische Ressourcen verfügbar sein müssen, bevor jemand seiner Situation Sinn abgewinnen kann. Weiterhin ist denkbar, dass Personen in dem Fall, in dem sie realisieren, dass ihre Erwartungen durch das Gegenüber verletzt wurden, ihre Erwartungen korrigieren oder anpassen, statt an ihnen festzuhalten. Außerdem ist, wie etwa Patchen Markell hervorgehoben hat (vgl. [14], Kap. 5), im Lichte der von Theoretikern wie Honneth selbst angenommenen Wirkung von Anerkennung auf Personen zu fragen, ob das Ausbleiben von Anerkennung nicht auch demotivierende Effekte auf Personen haben kann, sie also gerade davon abhält, für sozialen Wandel einzutreten. Es gibt somit einige Gründe zu glauben, dass Erfahrungen des Ausbleibens von Anerkennung oder der Missachtung nicht in jedem Fall Kämpfe um Anerkennung nach sich ziehen.
 
In der Diskussion ist darüber hinaus vermutet worden, dass Anerkennung soziale und politische Auseinandersetzungen gelegentlich verhindern kann (das heißt, jetzt geht es nicht mehr um den Mangel an Anerkennung, sondern um Anerkennung selbst). Unter dem Stichwort „Anerkennung als Ideologie“ ist debattiert worden, ob Anerkennung nicht auch derart funktionieren kann, dass sie Personen gleichsam perfekt in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse einpasst und Kritik an diesen verunmöglicht. Als Gewährsleute für derartige Vermutungen werden unter anderem der französische marxistische Philosoph Louis Althusser wie die poststrukturalistische Theoretikerin Judith Butler genannt. Wie genau Anerkennung dies bewerkstelligen soll, wird leider nicht immer mit der Klarheit erläutert, die man sich wünschen würde. Insbesondere klingt es manchmal so, als würde Anerkennung Personen direkt mit bestimmten Eigenschaften ausstatten, die sie dann Teil bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sein lässt. Ob Anerkennung Personen aber so direkt als X (zum Beispiel als Frau oder bedürftig oder stark) konstituieren kann, ist mehr als fraglich. Plausibler scheint die Idee zu sein, dass Anerkennung aus Sicht von Personen so positiv ist, dass sie motiviert sein können, bestimmte Eigenschaften auszubilden, die sie in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse einfügen (vgl. [9], [12]). Weil Personen auf fortgesetzte Anerkennung angewiesen sind, so könnte man weiter vermuten, ist es ihnen dann auch nur schwer möglich, sich kritisch zu diesen Verhältnissen zu verhalten. Diese Idee kann unter anderem für feministische Analysen von geschlechtlichen Herrschaftsverhältnissen fruchtbar gemacht werden.
 
Anerkennung und Gerechtigkeit
 
Es ist eine Sache, ob Personen meinen, dass sie zu einer bestimmten Anerkennung berechtigt sind (siehe die fremde Frau in der U-Bahn) und eine ganz andere, ob sie dies auch tatsächlich sind. Akzeptiert man – unter Berücksichtigung der im letzten Abschnitt diskutierten caveats – Honneths Erklärung der Entstehung von Kämpfen um Anerkennung, dann haben diese immer eine normative Komponente in dem Sinn, dass die Partei, die die Auseinandersetzung beginnt, meint, dass das Gegenüber bestimmte normative Erwartungen verletzt hat. Doch wird nicht nur das Gegenüber in vielen Fällen nicht einfach davon überzeugt sein, dass es falsch gehandelt hat (wir können uns unter anderem vorstellen, dass das Gegenüber sich auf die Auseinandersetzung einlässt, aber erstmal seine Sicht der Dinge darstellt und verteidigt, oder, dass es von vornherein jede Rechenschaftspflicht verneint). Es stellt sich vor allem auch die Frage, wie die verschiedenen Erwartungen und Auffassungen der Beteiligten aus Perspektive der Moral- und Gerechtigkeitstheorie zu bewerten sind. Am einfachsten ist es, mit den Forderungen zu beginnen, die Charles Taylor unter der „Politik der allgemeinen Menschenwürde“ zusammenfasst. Dazu gehören etwa Forderungen wie die von Frauen nach dem gleichen Wahlrecht wie Männer. Sie zielen grundsätzlich darauf ab, eine        Eigenschaft an Personen zu schützen, die sie prinzipiell mit allen anderen Menschen teilen, nämlich ihre Würde oder Fähigkeit zur Autonomie. Diese Art von Forderungen steht in der zeitgenössischen liberalen Gerechtigkeitstheorie im Vordergrund, auch wenn diese dort selten als Anerkennungsforderungen beschrieben werden.
 
Die Forderung, dass Frauen gegenüber Männern, was das Wahlrecht betrifft, nicht diskriminiert werden dürfen, ist in vielen Ländern der Welt mittlerweile erfolgreich durchgesetzt worden. In der Diskussion ist es common sense, dass dies gerechtfertigt ist, weil alles andere offensichtlich eine unzulässige Diskriminierung von Frauen darstellen würde. Doch wer aufgrund dieses Beispiels meint, dass ganz einfach zu entscheiden ist, welche Forderungen angesichts der Gleichheit der Menschen gerechtfertigt sind und welche nicht, muss nur das Beispiel etwas abwandeln und die Frage stellen, ob das Wahlrecht auch auf Nicht-Staatsangehörige in einer Gesellschaft ausgeweitet werden sollte oder nicht. Hier liegen nicht nur politisch, sondern auch in den entsprechenden theoretischen Diskussionen die Auffassungen weit auseinander.
 
Taylor nennt in seinem Aufsatz Die Politik der Anerkennung die Virulenz einer anderen Art von Forderungen, die auf die Anerkennung kultureller Besonderheit zielen und die das Bild nochmals erheblich verkomplizieren. Kann es in bestimmten Fällen gerechtfertigt sein, die Rechte von Personen einzuschränken, um kulturelle oder ethnische Minderheiten zu schützen bzw. zu bewahren und somit deren Besonderheit anzuerkennen? Taylor argumentiert am Beispiel der frankokanadischen Québec, dass dies durchaus gerechtfertigt sein kann, sofern klar ist, dass dabei keine Grundrechte (wie das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Religionsfreiheit) eingeschränkt werden, denn das Fortbestehen solcher Gemeinschaften sei an sich ein Gut (vgl. [8], S. 37-48). Taylor tritt damit nach eigener Auffassung für einen differenz-sensiblen Liberalismus ein. Kritiker haben allerdings die Frage gestellt, wie liberal Taylors Vorschlag noch ist, würden hier doch stärkere Eingriffe in die Freiheit der Einzelnen verteidigt und werde der Einzelne so als zu autonomen Entscheidungen fähiges Wesen missachtet. Ein anderer Vorschlag, der dieser liberalen Kritik entgeht, stammt von Will Kymlicka ([7]). Er argumentiert, dass kulturelle Gemeinschaften für die Einzelnen von großer Bedeutung sind und somit der Gleichheitsgrundsatz verletzt werde, wenn dieser Umstand rechtlich nicht angemessen berücksichtigt wird.
 
Nun geht es bei vielen Forderungen, mit denen sich Philosophinnen und Philosophen in der Diskussion um Anerkennung befassen, allerdings nicht unbedingt um solche, die auf die Etablierung von rechtlichen Ansprüchen abzielen. So geht Taylor in seinem Aufsatz etwa zudem auf Forderungen ein, schulische oder universitäre Curricula zu diversifizieren, was zumindest nach seiner Lesart Wertschätzung für die kulturellen Leistungen bisher ausgeschlossener Gruppen zum Ausdruck bringen soll. Allerdings macht er an solchen Forderungen ein konzeptionelles Problem aus: Solche Wertschätzung, wenn sie eine genuine Wertschätzung sein soll, kann nicht einfach eingefordert werden. Taylor meint jedoch, dass es aus moralischer Sicht geboten sei, fremden kulturellen Erzeugnissen mit Offenheit zu begegnen, also bereit zu sein, sich von deren Wert überzeugen zu lassen (vgl. [8], S. 50-60).
 
Auch Nancy Fraser, die die Wichtigkeit der Politik der Differenz, daneben aber auch von Forderungen nach ökonomischer Umverteilung betont, befasst sich mit Forderungen nach Anerkennung, die nicht oder jedenfalls nicht hauptsächlich rechtlicher Natur sind. Frasers Auffassung zufolge werden viele gesellschaftliche Gruppen, seien das Homosexuelle oder Schwarze, aufgrund vorherrschender gesellschaftlicher Wertmuster als minderwertig betrachtet und behandelt. Dieser Mangel an Anerkennung ihrer Besonderheit, gegen den die fraglichen Personengruppen aufbegehren, ist laut Fraser ungerecht, weil er die Betroffenen davon abhält, als Gleiche mit anderen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – obwohl sie formal häufig über die gleichen Rechte verfügen. Fraser hält angesichts dessen eine Veränderung der vorherrschenden gesellschaftlichen Wertmuster für geboten (vgl. [4], etwa S. 56-62).
 
Axel Honneth hat einen eigenen Vorschlag zum Thema Anerkennung und Gerechtigkeit gemacht, für den ebenfalls entscheidend ist, dass eine Vielzahl von Forderungen nach Anerkennung jenseits der rechtlichen Sphäre berücksichtigt werden (vgl. insb. [6], S. 119-126). Honneth unterscheidet drei Anerkennungsformen, die er für moderne Gesellschaften für charakteristisch hält. Deren Bedeutung zeige sich immer wieder in Kämpfen um Anerkennung, in denen Forderungen nach mehr oder anderer Fürsorge, Wertschätzung und Achtung artikuliert werden. Auf der interpersonellen Ebene ist wohl entscheidend, dass Personen in der richtigen Art von Beziehung zueinanderstehen, um überhaupt legitimerweise bestimmte Forderungen aneinander richten zu können (die Frau in der U-Bahn kann von mir beispielsweise nicht legitimerweise Fürsorge erwarten, denn wir stehen in keinerlei Beziehung zueinander, innerhalb der ich ihr Fürsorge schulde). Honneth interessiert sich jedoch vor allem für soziale Kämpfe und die Forderungen, die darin erhoben werden. Nach Honneths Auffassung sind Forderungen nach Anerkennung auf der sozialen Ebene dann gerechtfertigt, wenn sie in Richtung größerer Freiheit weisen, also dann, wenn sie entweder darauf zielen, dass mehr Personen eine bestimmte Form von Anerkennung erhalten oder dass neue Eigenschaften an Personen anerkannt werden sollen. Forderungen, die einen ausschließenden Charakter haben oder die alte Stereotype aufrufen, die die Spielräume der Einzelnen einschränken, sind hingegen nach seiner Auffassung ungerechtfertigt.
 
Literatur
 
Zur Einführung:
 
[1] McBride, Cillian (2013): Recognition, Cambridge: Polity.
[2] Ikäheimo, Heikki (2014): Anerkennung, Berlin und Boston: de Gruyter.
[3] Siep, Ludwig, Ikäheimo, Heikki und Quante, Michael (2020): Handbuch Anerkennung, Wiesbaden: Springer VS.
 
Klassische Texte der Debatte:
 
[4] Fraser, Nancy und Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
[5] Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozia-
ler Konflikte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
[6] Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp.
[7] Kymlicka, Will (1995): Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford: Oxford University Press.
[8] Taylor, Charles (2009 [1992]): „Die Politik der Anerkennung“, in: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
 
Weiterführende Literatur:
 
[9] Allen, Amy (2014 [2010]): Herrschaft begreifen. Anerkennung und Macht in Axel Honneths kritischer Theorie, [kl3] Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2), S. 260-278.
[10] Ikäheimo, Heikki und Laitinen, Arto (Hg.) (2011): Recognition and Social Ontology, Leiden und Boston: Brill.
[11] Iser, Mattias (2008): Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a. M. und New York: Campus.
[12] Markell, Patchen (2003): Bound by Recognition, Princeton und Oxford: Oxford University Press.
[13] McNay, Lois (2008): Against Recognition, Cambridge: Polity Press.
[14] Schmidt am Busch, Hans-Christoph (2011): ‚Anerkennung‘ als Prinzip der kritischen Theorie, Berlin und New York: de Gruyter.
[15] Van den Brink, Bert und Owen, David (Hg.) (2007): Recognition and Power. Axel Honneth and the Tradition of Critical Social Theory, Cambridge: Cambridge University Press.
 
UNSERE AUTORIN:
 
Kristina Lepold ist Juniorprofessorin für Sozialphilosophie / Kritische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2021 erscheint bei Campus ihre Monografie Ambivalente Anerkennung sowie bei Columbia University Press der Sammelband Recognition and Ambivalence, den sie gemeinsam mit Heikki Ikäheimo und Titus Stahl herausgibt.