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Töten und Sterbenlassen. Die killing/letting die - Debatte | |
Weyma Lübbe: Töten und Sterbenlassen Die killing/letting die - Debatte
Ist Töten moralisch verwerflicher als Sterbenlassen?
Bei dieser Frage denkt man gewöhnlich an medizinethische Debatten ‑ insbesondere an das Stichwort Euthanasie. Die Frage kann aber auch in zahlreichen nichtmedizinischen Handlungsbereichen relevant werden. Viele Personen, nicht nur Mediziner, treffen täglich Entscheidungen über Leben und Tod. Insbesondere politische Entscheidungen sind häufig zugleich Akte der Zuordnung von Risiken, das Leben zu verlieren. Das gilt zum Beispiel für Entscheidungen über die Höhe von Entwicklungshilfebudgets, oder auch für verkehrspolitische Entscheidungen (etwa: soll man an einer bestimmten, schulnahen Kreuzung eine Ampel installieren oder nicht?). Und wenn man das Beispiel der Entwicklungshilfe nimmt, so läßt sich leicht der Übergang vom Politischen ins Private finden: Jeder von uns fällt laufend Entscheidungen über Leben und Tod, indem er Teile des Einkommens für den privaten Konsum verwendet, anstatt sie für die Ernährung oder die medizinische Versorgung Bedürftiger zu spenden.
Gewiß ‑ wer sich, zum Beispiel, jeden Monat eine gute Flasche Rotwein gönnt, an-statt eine sogenannte Patenschaft zu finanzieren, der tötet nicht. Er läßt sterben. Eben deshalb gilt den meisten von uns ein solches Verhalten, wenngleich nicht als besonders lobenswert, so doch als erlaubt. Diese Ungleichbehandlung des Tötens und des Sterbenlassens ist tief in unsere Alltagsmoral eingelassen. Um ihre Berechtigung, unter anderem, geht es in der Euthanasiedebatte ‑ dort ist die Unterscheidung von Töten und Sterbenlassen in den letzten Jahren ausführlich zum Thema gemacht worden.
In den meisten Ländern, nicht aber zum Beispiel in den Niederlanden, ist gegenwärtig die aktive Euthanasie strikt verboten ‑ im Unterschied zur passiven Euthanasie (das ist die unterlassene Weiterbehandlung eines im Sterben liegenden Kranken). Ob das so bleiben sollte, darüber läßt sich in der Tat streiten. Auf die Weiterbehandlung eines schwerstgeschädigten Neugeborenen, zum Beispiel, darf rechtlich verzichtet werden. Wäre es nicht in seinem Interesse, wenn es anstelle mehrerer Stunden oder gar Tage des Dahinsiechens mit einer Spritze rasch getötet würde? So wird gefragt. Und auf diese Frage gibt es gegenwärtig offenbar keine eindeutige, jedermann überzeugende Antwort.
Slippery-slope-Argumente
Im Laufe der Debatten hat die Menge und Komplexität der Gesichtspunkte, die sich als berücksichtigenswert erwiesen haben, rasch zugenommen. Insbesondere die Beurteilung der sogenannten slippery‑slope‑Argumente ist schwierig und umstritten. Das sind Argumente, die die Zulassung bestimmter Formen der Lebensverkürzung ablehnen mit der Begründung, daß dies die soziale Geltung des Tötungsverbots generell beeinträchtigen würde. Und dann wäre mit weiteren, unerwünschten Aufweichungen des Le-bensschutzes zu rechnen. Ein Argument von dieser Struktur ist zum Beispiel das folgende: Die freiwillige aktive Euthanasie oder auch die Sterbehilfe (das ist die Beihilfe zur Selbsttötung des Patienten) ‑ das seien gewiß nicht notwendig Verbrechen. Aber es werde dann zu Fällen kommen, in denen der Patient, zum Beispiel von Seiten seiner pflegemüden Verwandten, einem subtilen Druck ausgesetzt wird: Er möge den mehr und mehr genutzten Pfad des freiwilligen Ablebens doch nun auch seinerseits beschreiten. Bereits die gesprächsweise Erwähnung des Themas kann unter Umständen einen solchen Druck entstehen lassen.
In der Tat ist das Autonomie‑Konzept (das die Fälle der "freiwilligen", also erlaubten Euthanasie von den unfreiwilligen Fällen abgrenzen soll) ein moralphilosophisches und juristisches Konstrukt, ein Schema. Solche Schemata haben normalerweise einen guten Sinn, eine Pragmatik. Ohne sie ist bei der Regelung sozialer Beziehungen nicht auszukommen; zum Beispiel bei Kauf und Verkauf, oder auch beim Heiraten. Der Standesbeamte fragt ja nicht zurück: "Sind Sie auch wirklich sicher, daß Sie diese Person heiraten wollen?". Aber im Falle von Tötungsvereinbarungen ist die Verwendung des Autonomieschemas heikel. Das mag erklären, warum Vertreter von slippery-slope‑Argumenten die Abgrenzbarkeit erlaubter Formen des Tötens Unschuldiger stets bestritten haben.
Die Äquivalenzthese
Slippery‑slope‑Argumente sind nur eines von mehreren komplexen und entsprechend umstrittenen Teilproblemen, die bei der Beurteilung der aktiven Euthanasie eine Rolle spielen. Ein anderes Argument lautet, es sei auf keine Weise begründbar, daß man eine Unterlassung, die einer verbotenen Handlung in allen ihren Folgenaspekten gleicht ‑ die also gleich schlimme Folgen hat, ‑ daß man diese Unterlassung nicht ebenfalls verbiete. Der einzige Unterschied, der zwischen beiden Verhaltensweisen bestehe, sei dann der zwischen Aktivität und Passivität (also zwischen dem Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Körperbewegung). Es sei nicht einzusehen, wie ein solches sozusagen bloß physikalisches Datum eine derartige normative Bedeutsamkeit sollte beanspruchen können, wie sie die Gegner der aktiven Euthanasie offenbar voraussetzen. Ist es nicht einzig die Vermeidbarkeit des fraglichen Schadens, auf die es ankommt? Die Vermeidbarkeit jedenfalls ist es, die das Geschehen aus dem Bereich blinden Fatums heraus‑ und damit in den Bereich des normativ Regulierbaren hineinhebt. Will man innerhalb dieses Bereichs einen Fall moralisch anders behandeln als einen anderen, dann ‑ so das Argu-ment ‑ bedürfe es eines überzeugenderen Grundes, als ihn der Hinweis auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Körperbewegung biete. Dies ist die sogenannte Äquivalenzthese ‑ die These, daß Handeln und Unterlassen unter sonst gleichen Umständen moralisch äquivalent sind, daß also der handlungstheoretische Unterschied zwischen ihnen als solcher keinerlei moralische Relevanz hat.
Die enge Verflechtung der Äquivalenzthese mit den von der medizinischen Praxis vorgegebenen Problemfällen hat zunächst den Blick darauf verstellt, daß diese These, konsequent angewandt, erheblich revolutionärere Regelungen generiert als die, die in der Praxis diskutiert werden. Tatsächlich gibt es eine Fülle von Beispielen, in denen die Äquivalenzthese zu gänzlich common sense-fernen Resultaten führt. Dieses hier stammt von Daniel Dinello: "Jones and Smith are in a hospital. Jones cannot live longer than two hours unless he gets a heart transplant. Smith, who had had one kidney removed, is dying of an infection in the other kidney. If he does not get a kidney transplant, he will die in about four hours. When Jones dies, his one good kidney can be transplanted to Smith, or Smith could be killed and his heart transplanted to Jones." (S. 95) Dinello konstatiert, daß ein Vertreter der Äquivalenzthese im Falle des Fehlens sonstiger relevanter Unterschiede beide Verhaltensalternativen gleich beurteilen müßte. Und im Falle eines relevanten Unterschieds in der Folgenmenge (zum Beispiel: Jones hat vier Kinder, Smith ist alleinstehend) ‑ in diesem Falle müßte ein Äquivalenztheoretiker sogar die Tötung von Smith zur moralischen Pflicht erheben. "But, this seems to be wrong", fügt Dinello schlicht hinzu.
Solche, milde gesagt, alltagsfernen Beispiele sind typisch für die killing/letting die‑Debatte. An der Reaktion auf das zitierte Beispiel scheiden sich die Äquivalenztheoreti-ker in einer Weise, die es zweckmäßig macht, zwei Positionen zu unterscheiden.
In der ersten Gruppe ‑ zu ihr gehören Juri-sten ebenso wie Philosophen ‑ bezweifelt man zwar die normative Bedeutsamkeit der Unterscheidung von Aktivität und Passivität. Aber man bestreitet nicht, daß die intuitive moralische Beurteilung des Dinello‑Falls die richtige ist: Nur die Tötung von Smith, nicht das Sterbenlassen von Jones sei verboten. Denn nur die Tötung verstoße gegen das zentrale Rechtsgebot "neminem laede" (schädige niemanden). Zur Begründung die-ser Intuition, wie immer sie lauten mag, könne man aber nicht auf die Differenz von Aktivität und Passivität zurückgreifen. Denn es gebe auch Fälle, in denen man durch Un-terlassen töte. Daher könne es nicht die Passivität als solche sein, die im Dinello-Fall das Unterlassen erlaubt macht.
In der zweiten, radikaleren Gruppe von Äquivalenztheoretikern finden sich keine Juristen ‑ es handelt sich um eine philosophische Spezialität. Hier opfert man in der Tat die moralischen Intuitionen der vermeintlich besseren theoretischen Einsicht und erklärt: Ein Leben, das man trotz Bestehens einer Eingriffsmöglichkeit nicht rettet (und sei es ein mit einem Tötungsakt verbundener Eingriff) ‑ dieses Leben habe man ebenso gut zu verantworten wie eines, das man getötet hat. Ich erinnere: das gilt dann auch für jeden von uns, der sich eine Flasche Rotwein genehmigt, anstatt das Geld für die Hungerhilfe zu spenden. Daß wir in diesem Sinne alle Mörder sind, das kann man denn auch bei in der Philosophie nicht ganz unbekannten Autoren nachlesen ‑ so zum Beispiel bei James Rachels in seinem Aufsatz Killing and Starving to Death (2).
Die nichtrevolutionäre Form der Äquivalenzthese
Es gibt Fälle, in denen dem üblichen moralischen Urteil nach Unterlassungsfolgen mit demselben starken Vorwurf belegt werden wie vergleichbare Handlungsfolgen. Eine moralische Relevanz der Unterscheidung von Aktivität und Passivität liegt dann auch intuitiv nicht vor. Der Handlungstheoretiker Gottfried Seebaß nennt folgendes Beispiel: "Niemand, der in einer entscheidenden Abstimmung seinen Arm nicht gehoben hat, kann sich allein aufgrund der Tatsache, daß sein Verhalten die Form des Unterlassens hat, von seiner Verantwortung für das Ergebnis entlasten".
Beispiele wie dieses werfen zunächst einmal ein begriffliches Problem auf: Nach welchem Kriterium entscheidet man überhaupt, ob ein Geschehen eine Handlungsfolge oder eine Unterlassungsfolge ist? Man hätte im gerade zitierten Beispiel über den betreffenden Vorgang ja auch in der Form berichten können, die Person habe "an einer Abstimmung teilgenommen". Dann wäre niemand auf die Idee gekommen, darin eine Unterlassung zu sehen. Also scheint die Kategorisierung eines Vorgangs als Handlung oder als Unterlassung von der Art des sprachlichen Bezugs auf ihn abzuhängen. Von der moralischen Qualität des Vorgangs wird man dasselbe nicht sagen wollen. Denn dann könnte man sich moralischen Vorwürfen, anstatt durch Andershandeln, auch durch Andersbeschreiben entziehen. Insofern scheint bereits der Hinweis auf die Beschreibungsabhängigkeit der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen ein Hin-weis auf ihre moralische Bedeutungslosigkeit zu sein.
Auf diese Argumentation kann in folgender Weise geantwortet werden: Die Wahl zwischen unterschiedlichen Beschreibungen eines Vorgangs ist keine beliebige, und deshalb kann man sich auch Vorwürfen nicht nach Belieben durch Beschreibungswechsel entziehen. Wer nach der Abstimmung vorträgt, er habe sich nicht gerührt und mithin auch nichts getan, dem kann mit Fug und Recht darauf hingewiesen werden, daß er sich insgesamt so verhalten hat, wie man sich verhalten muß, um als jemand be-schreibbar zu sein, der "an einer Abstimmung teilnimmt". Die Einlassung, er habe "nichts getan", da er den Arm nicht gehoben habe, greift aus dem Gesamtvorgang ("Abstimmung") einen Ausschnitt heraus, an dem als isoliertem in der Tat ein moralischer Vorwurf nicht haftet. Der Vorwurf haftet ‑ so jedenfalls ist das Beispiel offenbar gemeint ‑ an der Teilnahme an der Abstimmung. Und die Natur dieses Aktes ist mit dem Hinweis auf das Nichtheben des Arms offenbar recht unvollkommen erfaßt.
Man sieht: Wenn es um die Frage der Klassifizierung von Schäden als Handlungsfolgen oder als Unterlassungsfolgen geht, kommt das in Handlungstheorie und Jurisprudenz vieldiskutierte Problem der Einheit der Handlung ins Spiel. Manche Verhal-tensweisen, auf die wir uns sprachlich mittels eines Handlungsnamens beziehen, stellen sich also als komplexes Verhalten dar, das zum Teil aus aktivem Handeln und zum Teil aus Unterlassungen besteht. Alltagssprachlich werden die Folgen solchen komplexen Ver-haltens meist mit größter Selbstverständlichkeit als Handlungsfolgen klassifiziert. Zum Beispiel: Wer eine Bombe legt, mag bis zur Explosion reichlich Zeit haben, sie wieder zu entfernen. Und wer jemanden vergiftet, mag vor dem Eintritt des Todes Zeit haben, ein Gegenmittel einzuflößen. Dennoch würde niemand deshalb die Explosion und den Vergiftungstod als Unterlassungsfolgen bezeichnen.
In der killing/letting die‑Debatte ist ein verwandtes Beispiel diskutiert worden: Jemand sperrt einen Hund in einen Käfig und unterläßt es, ihn zu füttern, sodaß der Hund verhungert. Einige haben argumentiert: Das sei eine Unterlassungsfolge, aber sie verdiene denselben Vorwurf wie eine Tötung ‑ ja, es sei eine Tötung. Deshalb könne der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen nicht in der Aktivität oder Passivität des Handlungssubjekts gesucht werden. Vielmehr komme es auf die sogenannte kausale Rolle des Subjekts an. Das ist ein wenig aussagekräftige Bezeichnung ‑ gemeint ist folgendes: Um eine Tötung soll es sich bei einer Unterlassung handeln, wenn jemand die Situation, in der sein Unterlassen für einen anderen den Tod bedeutet, selbst herbeigeführt hat. Das Beispiel mit dem Käfig zeigt freilich, daß die fragliche Situation von dem betreffenden Subjekt durch aktives Tun herbeigeführt worden sein muß ‑ und nicht etwa wiederum durch Unterlassen. Wenn A den Hund nicht selbst einsperrt, sondern es lediglich unterläßt, die Einsperrung des Hundes durch B zu hin-dern, dann wird man, wenn der Hund verhungert ist, nicht sagen, daß A den Hund getötet habe. Sondern B hat ihn getötet; A hat den Hund lediglich sterben lassen. Das zeigt, daß das Konzept der kausalen Rolle das Kriterium der Aktivität nicht ersetzen kann; es setzt die Wichtigkeit dieses Kriteriums vielmehr voraus.
Nun gibt es zahlreiche Gesichtspunkte, die dazu zwingen, ein komplexes Verhalten nicht als Handlungseinheit zu behandeln. Am offensichtlichsten ist das der Fall, wenn innerhalb eines Verhaltenskomplexes der erste, aktive Teil als solcher nicht verboten ist. Sondern er führt lediglich eine Pflicht zur Durchführung bestimmter schadensver-hindernder Folgehandlungen mit sich. Auch hier ein Beispiel: Es ist nicht verboten, als Produzent Ledersprays in Umlauf zu bringen. Verboten ist dagegen, die in Umlauf gebrachten Sprays nicht zurückzurufen, wenn sich aus Rückmeldungen Hinweise auf ihre Gesundheitsheitsschädlichkeit ergeben. Die Gesundheitsschäden, die sich nach Unterlassen der Rückrufaktion ereignen, sind daher, juristisch gesprochen, Körperverletzungen durch Unterlassen ‑ und nicht Körperverletzungen wegen getätigter Auslieferung des Produkts. Die moralisch relevante Frage muß, nach dem Gesagten, also lauten, ob eine Aktivität oder keine Aktivität, d.h. reine Passivität, den Schaden bedingte. Nur diese Unterscheidung funktioniert auch mit Bezug auf komplexe Verhaltenseinheiten, die beides enthalten.
Analysen dieser Art sind im Einzelfall ein mühsames und im Ergebnis auch keineswegs stets unstreitiges Geschäft. Aber ohne sie kommt es leicht entweder zu einer völligen Ablehnung des Aktivitätskriteriums oder, umgekehrt, zu seiner Dogmatisierung. Ein Beispiel für das letztere ist der medizinethisch vieldiskutierte Fall des Abschaltens eines Beatmungsgeräts. Manche klassifizieren das als Töten, weil es sich beim Betätigen des Schalters um eine Aktivität handle. Das ist zwar richtig ‑ aber ein Tötungsakt liegt hier gleichwohl nicht vor. Denn bei der in Frage stehenden Aktivität handelt es sich, ihrem moralisch re-levanten Kontext nach, um nicht anderes als um die Beendigung einer vorausgegangenen Aktivität, nämlich der Beatmung ‑ also um deren Unterlassung.
Daß der Übergang zur Unterlassung jener ersten Aktivität (der Beatmung) nur mittels einer weiteren Aktivität bewerkstelligt werden kann ‑ das hängt mit der zunehmenden Verlagerung unserer Aktivitäten vom eigenen Körper auf technische Systeme zusammen. Ein strukturell analoges, alltägliches Beispiel mag das abschließend erläutern: Solange wir den Garten mit der Gießkanne bewässerten, beendeten wir das Bewässern, indem wir einfach damit aufhörten ‑ wir hörten auf, die Kanne mit Wasser zu füllen und sie im Garten wieder auszugießen. Seit wir den Garten mit dem Sprinkler bewässern, haben wir, anstatt passiv, aktiv zu werden, um das Bewässern zu beenden. Beenden wir es, dann kann es sein, daß die zuvor mitbewässerten Blumen auf dem Nachbargrundstück vertrocknen. Sollte das, weil das Bewässern aktiv beendet wurde, nun plötzlich Sachbeschädigung sein? So direkt kann die Relevanz des Aktivitätskriteriums in der Tat nicht ausgelegt werden. Aber deshalb ist es nicht gänzlich irrelevant. Die revolutionäre Form der Äquivalenzthese
Die radikale Variante der Äquivalenzthese opfert unsere moralischen Intuitionen der vermeintlich besseren theoretischen Einsicht. Carolin Morillo zum Beispiel formuliert das so: "The point of the radical criticism ist not to find fault with what our intuitions have been telling us about killing, but with what they have failed to tell us about letting die." (3, S. 34) Morillo argumentiert in der üblichen Weise: Der einzige Unterschied zwischen Herbeiführen und Geschehenlassen liege in der An‑ oder Abwesenheit einer Körperbewegung. Und sie fährt fort: "With respect to that I feel in- clined to say that for rational, decision‑making creatures, the mere presence or absence of such a movement is simply not morally relevant" (3, S. 32). Aber wie kann man ‑ angesichts der Tatsache, daß in dem Beispiel von Dinello die weitaus größte Mehrheit zum gegenteiligen Resultat kommt ‑ für diesen Satz intuitive Evidenz beanspruchen?
Über den Rekurs auf intuitive Evidenzen und über das zugehörige wechselseitige Zuschieben der Begründungslast sind die einschlägigen Debatten nicht recht hinaus-gekommen. Wie sich gezeigt hat, ist es überraschend schwer, für die intuitive Ungleichbewertung des Tötens und des Sterbenlassens explizite Gründe zu benennen, die die einschlägige Intuition nicht in der einen oder anderen Weise schon voraussetzen. Zum Beispiel wird vorgebracht, daß man in Smiths Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit eingreife, wenn man ihn zugunsten von Jones töte. Aber das ist eben der fragliche Punkt: Warum denn schützt das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nur gegen Eingriffe ‑ nicht aber dagegen, daß ein Eingriff, der einen vor dem Tode retten könnte, un-terlassen wird? Andere wollen sich darauf stützen, daß Jones eines natürlichen Todes sterbe, wenn man seinen Tod abwarte, wäh-rend Smith durch Menschenhand sterbe, wenn man ihn töte. Dem wird ein Äquivalenztheoretiker zu Recht entgegnen, daß auch der Tod von Jones nicht rein natürlich sei. Unter seinen Eintrittsbedingungen befinde sich ein nichtnaturaler Faktor, nämlich die Entscheidung, ihm kein Spenderorgan zu beschaffen. Dieser Faktor bedürfe, als nichtnaturaler, ebenso der Rechtfertigung wie jede andere von Menschen gesetzte Schadensbedingung auch.
Man kann als Gegner der Äquivalenzthese mit ihren Befürwortern von vornherein nur auf gemeinsamen argumentativen Boden gelangen, wenn man sich auf ihr grundlegendes Moralkriterium einläßt. Dieses Kriterium besagt, daß die moralische Qualität eines Verhaltens einzig von der Qualität seiner (erkennbaren) Folgen abhänge. Selbst wenn man diese These einmal akzeptiert, bleibt jedoch manches kritisierbar - insbesondere die Kurzsichtigkeit und Phantasielosigkeit, mit der in den einschlägigen Debatten verfahren wird, wenn es um die aktuelle Nennung der jeweils zu erwartenden Folgen geht.
Die Äquivalenzthese kann nicht so ver-standen werden, als bedeute sie, daß jedem Handlungssubjekt die Folgen aller seiner Unterlassungen zur Last zu legen seien. Auch ein Äquivalenztheoretiker muß sich an dem Satz "Ultra Posse nemo obligatur" orientieren (d.h. man kann niemanden zu mehr verpflichten, als wozu er imstande ist). Einen vollständigen Sinn ergibt die mo-ralische Gleichbehandlung des Unterlassens mit dem Handeln also nur in Verbindung mit einem Kriterium, das angibt, wie das Subjekt unter seinen vielen Verhaltensmög-lichkeiten wählen soll ‑ nämlich so, daß es bezüglich sämtlicher eintretender Unterlas-sungsfolgen als gerechtfertigt gelten kann. Die Äquivalenztheoretiker verwenden hier typischerweise das utilitaristische Moralkriterium. Danach ist unter allen Verhaltensalternativen jeweils einzig diejenige gerechtfertigt, mit der man das situativ mögliche Optimum an Wohlfahrt, Nutzen oder Glück realisiert.
Immerhin ‑ das verpflichtet den Handeln-den, wenn nicht zur Vermeidung, so doch zur beständigen Zurkenntnisnahme und Ein-kalkulierung sämtlicher Folgen seines Un-terlassens. Bereits das ist eine Aufgabe, die wir auch nicht in einer einzigen Entscheidungssituation in endlicher Zeit lösen können, geschweige denn in jeder Entschei-dungssituation. Daher haben die Menschen ein Interesse an der Verfügbarkeit von Schemata legitimen Handelns. Sie wollen, wenn es um die Frage der Erlaubtheit ihres Handelns geht, auf eine weniger komplexe, rascher verfügbare und besser objektivierbare Begründung zurückgreifen, als es eine jedem Einzelfall neu zu veranstaltende Ge-samtfolgenabwägung darstellt.
Die meisten Äquivalenztheoretiker ersparen sich die Reflexion auf diese Schwierigkeiten, indem sie in ihren Beispielen sowohl die Komplexität des zu bedenkenden realen Möglichkeitsspielraums als auch die Reichweite der Folgenbetrachtung drastisch beschränken. Die Zahl der gegeneinander ab-gewogenen Handlungsoptionen beläuft sich typischerweise auf zwei, und die Folgenbetrachtung erstreckt sich meist auf den Vergleich der unmittelbarsten Effekte. Dabei wäre einiges zu klären, bevor man das Ge-bot "Du sollst nicht töten" mit dem Zusatz versieht: "und ebensogut sollst Du nicht sterben lassen". Diese Komplikationen ha-ben einen ganz einfachen Grund: Hinsichtlich der unerwünschten Folgen einer Aktivität (einer Tötungshandlung zum Beispiel) ist das Gewünschte erreicht, wenn sämtliche Subjekte aufgefordert werden, passiv zu bleiben ‑ nicht zu töten. Mit den unerwünschten Folgen des Unterlassens ist das anders. Hier ist das Gewünschte keines-wegs erreicht, wenn sämtliche Subjekte aufgefordert werden, aktiv zu werden ‑ also nicht sterben zu lassen. Denn eine effektive Entfaltung von schadenshindernden Aktivi-täten setzt die Verteilung von Zuständigkeiten voraus. Positive Pflichten, Pflichten, tätig zu werden, sind koordinierungsbedürftig. Diese Koordinierungsbedürftigkeit erklärt, warum angesichts eines Schadens nor-malerweise nicht jeder Beliebige belangt wird, der den Schaden im Prinzip hätte hin-dern können ‑ nicht jeder Unterlassende al-so. Juristisch ist es vielmehr so, daß die allermeisten Unterlassungdelikte (es gibt nur zwei Aunahmen) eine sogenannte Garanten-stellung des fraglichen Subjekts voraus-setzen. Das aus dem Alltag bekannteste Bei-spiel ist die Garantenstellung der Eltern ‑ und nicht zum Beispiel beliebiger Anwohner oder Passanten ‑ für das Wohlergehen ihrer Kinder. Die Pflichten der Anwohner und Passanten gegenüber den Kindern be-schränken sich im wesentlichen darauf, diese nicht aktiv zu schädigen. Mithilfe dieser Überlegung kann ein erheblicher Teil unserer Alltagsintuitionen über die Erlaubtheit des Unterlassens rekonstruiert werden.
Freilich: Mit welcher Rechtfertigung will man - wenn Sterbenlassen wirklich gleich shclimm ist wie Töten - darauf bestehen, seine Organe zu behalten, wenn gleich vier Patienten damit gerettet werden könnten? John Harris hat in dem Aufsatz The Survival Lottery vorgeschlagen, jedem - auch den Organkranken selber - eine Nummer zu ge-ben und dann auszulosen, wer zu sterben hat. Wenn die Patienten Äquivalenztheoretiker sind, dann werden sie, so argumentiert Harris, sich diskriminiert fühlen, wenn man ihr gesundheitliches Problem als ihr Problem behandelt, anstatt es als Problem aller Organinhaber anzusehen. Gewiß dürfe man keine Unschuldigen töten. Aber sie selbst seien auch unschuldig. Und warum sollten gerade sie sterben müssen, bloß weil sie das Pech hatten, krank zu werden? Wenn hingegen jemand seinen Organschaden selbst verschuldet, zum Beispiel seine Leber durch chronisches Trinken ruiniert hat, dann soll nach Harris die lotterievermittelte allgemeine Spendenpflicht entfallen. Entgangen ist dem Autor dabei, daß in der Kategorie des "Schuldigen", (die der Aufsatz ganz unkommentiert verwendet) die Unterscheidung von Aktivität und Passivität bereits tief verwurzelt ist. Weshalb gälte uns sonst der Trinker als der Schuldige - und nicht, zum Beispiel, jeder, der ihn am Trinken nicht gehindert hat?
Mit dem Hinweis auf solche Inkonsistenzen ist freilich die gedankliche Herausforderung, die in dem Text steckt, nicht vom Tisch. Bei aller Abstrusität der diskutierten Beispiele stecken meines Erachtens in der Sachfrage eine hoch relevante praktische Problematik und jede Menge weitere begriffliche Herausforderungen ‑ wenn man sich an die analytisch weit weniger leicht zu bewältigende Komplexität realer, praxisre-levanter Beispiele heranwagt.
Praktisch relevante Komplizierungen
Für die außerphilosophische medizinethische Diskussion spielen allerdings Beispiele wie das zuletzt genannte so gut wie keine Rolle. Man verzichtet nämlich dort schlicht auf eine nichtzirkuläre Begründung der moralischen Sonderstellung des Unterlassens. Das kann man tun, weil man sich insoweit auf einen überwältigenden Konsens verlassen kann.
Niemand erwägt ernsthaft, einen gesunden Menschen zu töten und mit seinen Organen vier Transplantatbedürftige zu retten ‑ und dann zu erklären, er habe dies getan, weil es besser sei, einen Menschen zu opfern, als vier. Dennnoch aber würden die meisten Menschen die gerade wiedergegebene Be-hauptung als solche ‑ daß vier Menschen-leben mehr wert und daher auch rettenswerter seien als eines ‑ durchaus unterschreiben. Es ist diese, ebenfalls tief in unserer Alltagsmoral verankerte Intuition, auf die sich die Äquivalenztheoretiker letztlich berufen: Auf die Folgen komme es an, wenn es um den moralischen Wert eines Verhaltens gehe.
Vermutlich ist mit den beiden fraglichen Intuitionen ‑ mit der Sonderstellung des Unterlassens und mit der Überzeugung, daß es auf die Folgen ankomme ‑ ein jedenfalls partiell unauflösbarer Konflikt in unserer Alltagsmoral verankert. Wie es mit diesen konfligierenden Intuitionen bei einem selbst bestellt ist, kann man ganz gut am sogenannten Weichenstellerfall testen: Ein Bahnbeamter bemerkt, daß ein Zug auf einen versehentlich nicht geschlossenen Bahnübergang zurast, der gerade von einem Passanten überquert wird. Der Beamte hat nur die Möglichkeit, eine Weiche umzustellen, woraufhin der Zug auf ein anderes Gleis geriete, auf dem freilich gerade ein Gleisarbeiter tätig ist. Darf der Bahnbeamte die Weiche umstellen? Ich erinnere, daß der heranfahrende Zug zunächst einmal das Problem des Passanten auf dem Bahnübergang ist ‑ ganz ebenso, wie eine Nierenerkrankung zunächst einmal das Problem desjenigen ist, der an ihr erkrankt. Das macht geneigt, zu sagen, es sei nicht erlaubt, die Weiche umzustellen. Bleibt man bei dieser Antwort, wenn auf dem Bahnübergang zwei Passanten unterwegs sind? Und wenn es zwanzig sind ‑ oder hundert?
Die Struktur des Problems ist eine allgemeine, und seine praktische Bedeutung wächst. Ein Hauptgrund dafür ist der ständig wachsende Eingriffsdruck, dem insbesondere die politischen Instanzen angesichts der krisenhaften Entwicklung der Industriegesellschaften ausgesetzt sind. Keine politische Instanz kann sich aufs Unterlassen zu-rückziehen, wenn Schäden größeren Ausmaßes drohen. Verlangt deren effiziente Verhinderung, einzelne Bevölkerungsgruppen mit besonderen Risiken zu belasten, dann haben wir ein Problem von der Struktur des Weichenstellerfalls ‑ nämlich eine Zwangslage, in der sich die Frage stellt, ob es erlaubt ist, um der vielen willen einige wenige zu schädigen - oder ihre Schädigung zu riskieren.
Heikel wird das Sichstützen auf die Han-deln/Unterlassen‑Unterscheidung, wenn die institutionellen Kontexte so kompliziert sind, daß der Rekurs auf einen eingriffsfreien Verlauf als Maßstab der Urteilsbildung nicht mehr zur Verfügung steht. Zugleich entnaturalisiert sich hier die Unterscheidung: sie ist immer weniger schlicht am Vorliegen oder Nichtvorliegen von Körperbewegungen abzulesen, weil die relevante Vorgeschichte des fraglichen Verhaltens immer schon Handlungen und Unterlassungen enthält.
LITERATUR ZUM THEMA
Der vorstehende Text ist eine überarbeitete Kurzfassung aus: Lübbe, Weyma: Verantwortung in komplexen Prozessen (215 S., Ln., DM 68.--, 1998, Alber Reihe Praktische Philosophie, Alber, Freiburg), Kap. III: Unterlassungsbedingte Schäden.
Gesamtübersicht
Eine Gesamtübersicht über das Thema findet sich in: Birnbacher, D.: Tun und Unterlassen (400 S., kt., DM 18.--, RUB 9392, Reclam, Stuttgart); als Reader: Steinbock/Norcross, B. und A. (eds.): Killing and Letting Die (2nd ed., 320 p., pbk., § 16.95, Fordham Univ. Press, New York).
Im Artikel genannte Literatur:
(1) Dinello, Daniel: On Killing and Letting Die, in: Steinbock/Neucross, a.a.O. S. 192-196.
(2) Rachels, Killing and Starving to Death,
in: Philosophy 54, S. 159-171.
(3) Morillo, Carolyn R.: Doing Refraining, and the Strenoussness of Morality, in: American Philosophical Quarterly 14, 1977.
(4) Harris, John: The Survival Lottery, in: Steinbock/Norcross, a.a.O., S. 257-265.
UNSERE AUTORIN:
Weyma Lübbe, z.Zt. Heidelberg, ist Heisenberg-Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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