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ESSAY

Michael Hampe:
Abschied von großen Worten. Über Illusionen der Aufklärung

aus: Heft 2/2022, S. 10-20
 
 
Philosophie und Öffentlichkeit

 Man kann Philosophie als ein Unternehmen verstehen, das ursprünglich und vor allem als eine Intervention in menschliche Verhältnisse gedacht war, nicht als eine religiöse oder politische, erst recht nicht eine militärische, sondern als eine Intervention sui generis. Sokrates’ Befragungen der Überzeugungen seiner Mitmenschen war eine Intervention im Athen seiner Zeit. Und seine Aktivitäten waren nicht gelegentliche „reach outs“ eines Akademikers, der Sokrates ja nicht war, sondern seine „eigentliche Tätigkeit“.

 Dass das menschliche Leben nicht durch Konventionen, religiöse Dogmen oder politische Vorschriften bestimmt sein muss, sondern – so kann man die Absicht der Sokratischen Tätigkeit zusammenfassen – vor allem durch ein gemeinschaftliches Nachdenken, ist selbst als eine Initialzündung aufgeklärter Philosophie deutbar, einer Philosophie, der auch eine ihr entsprechende „Lebensform“ vorschwebte: die einer Gemeinschaft von frei sich miteinander Verständigenden über das, was man sich im Leben vornehmen solle, wenn es mit der Selbsterhaltung einmal halbwegs geklappt hat, einer Gemeinschaft von nachdenkenden Freundinnen und Freunden (im Sinne von Hannah Arendt), die sich nicht durch eine Kaste von Priestern oder politischen „Führern“ sagen lassen will, was zu tun sei. Man kann das im Anschluss an John Dewey eine aufgeklärte, demokratische Lebensform nennen, wobei Demokratie für Dewey nicht lediglich eine Regierungsform war, sondern eine gemeinschaftliche Art und Weise, Lebensziele hervorzubringen. (Und sofern die, die in einer solchen Form leben, sich selbst auch noch Gesetze geben und dazu verpflichten, sie auf alle gleich anzuwenden, ist es auch eine republikanische.)

 Judith Shklar benennt drei Kennzeichen der „klassischen“ Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts in Europa: radikalen Optimismus, Anarchismus und Intellektualismus. Der radikale Optimismus bezieht sich in ihren Augen auf die Fortschrittshoffnungen, nach denen das für Menschen wirklich nützliche Wissen auch gesellschaftliche Relevanz erhalten werde und ökonomische Ungerechtigkeiten verschwinden würden. Der Anarchismus betrifft den Glauben, dass in einer Gesellschaft von wirklich vernünftig gewordenen Menschen das staatliche Gewaltmonopol zur Durchsetzung der Regeln nicht mehr nötig sein werde. Mit Intellektualismus meint Shklar die Vorstellung, dass Appelle an den Verstand ausreichen, um dem menschlichen Verhalten eine vernünftige Ordnung zu geben.

 Die durch diese Charakteristika gekennzeichnete Aufklärung sei nach den beiden Weltkriegen und den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts nicht mehr fortsetzbar, wie Shklar in After Utopia 1957 schreibt. In einem moralischen Skeptizismus sieht sie das Politische in ihrer Zeit vor allem vor die Aufgabe gestellt, zu helfen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Die Zeiten haben sich seitdem in meinen Augen nicht sehr geändert. Philip Kitcher hat ein pragmatistisches Fortschrittsverständnis vorgestellt, dass zu dieser Auffassung Shklars passt. Der seit Peirce in der Theorie der Wissenschaften existierende Fallibilismus legt es nahe, den Fortschritt der Wissenschaften in der Vermeidung und dem Ausräumen von Irrtümern und Illusionen zu sehen und nicht im Erreichen einer absoluten Wahrheit. Ließe sich dieser Fortschrittsbegriff nicht auch verwenden, um ein skeptisches Verständnis von Aufklärung zu entwickeln? Danach bestünde diese in dem ständigen Bemühen, Irrtümer, Illusionen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten kühlen Kopfes abzustellen, ohne dabei zu glauben, positive Utopien des Wissens oder Zusammenlebens zu befördern.

 Gegenwärtig scheinen immer weniger Menschen bereit, im Sinne Hannah Arendts als politische Freunde mit der Kompetenz zum Perspektivenwechsel wahrhaftig miteinander darüber nachzudenken, wie zu leben und was kollektiv zu tun sei, um Illusionen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Weder das argumentative Miteinander noch das Denken scheinen in der Öffentlichkeit gerade hoch im Kurs zu stehen. Auch die Vermeidung von Irrtümern, Illusionen und Grausamkeiten steht in einer neuen Epoche der digital verbreiteten Verschwörungstheorien und Aufrufen zu Grausamkeiten in Kommunikationskanälen wie „Telegram“ nicht gerade hoch im Kurs. Die politische Gemeinschaft scheint „im Westen“ durch eine in ihrem meist rein strategischen Konkurrenzverhalten brutalisierten Meritokratie zerstört worden zu sein, die alle Menschen in „Gewinner“ und „Verlierer“ einteilt. Die politische Öffentlichkeit ist in großen Teilen durch einen Aufmerksamkeitsmarkt für Privates ersetzt worden. Doch was können und sollen nun Philosophinnen, die sich in die Öffentlichkeit begeben, gegen solche Entwicklungen tun?

 Beispiele und Prinzipien

 Können Philosophen steuernd in die Öffentlichkeit eingreifen und Kriterien des vernünftigen, freundschaftlichen Diskurses entwickeln, der den universalen Kampf um Macht und Aufmerksamkeit einhegt und durch gemeinschaftliches Denken und eine aufgeklärte Bildung ersetzt, für die die Philosophie die Prinzipien aufstellt, wie moderne Kantianer, etwa Habermas, es für möglich zu halten scheinen? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.

 Um meine Skepsis zu verdeutlichen, mag ein Blick in die Wissenschaftsphilosophie helfen. Denn auch dort sind regulatorische Ansprüche der Philosophie schon längst gescheitert. Paul Feyerabend schrieb bereits Ende der 80er Jahre: „Eine […] Theorie, die eine allen Wissenschaften zugrundeliegende Struktur und dazu gehörende Regeln aufdeckt […] und zeigt, wie sie mit noch allgemeineren Gesetzen der Vernunft zusammenhängt, ist […] nicht möglich. Man kann Faustregeln aufzählen […] man kann anhand von Fallstudien zeigen, wie kompliziert und geschichtsbedingt der Weg zu wissenschaftlichen Resultaten ist […] Eine Theorie, die mehr zu leisten versucht, verliert den Kontakt mit der Wirklichkeit.“ (Irrwege der Vernunft, 1989, S. 410) Das, was Feyerabend hier über mögliche Kriterien der Vernünftigkeit von Wissenschaft sagt, gilt m. E. erst recht für Kriterien der Vernunft im politischen Diskurs und der Bildung überhaupt, d.h. in einer „aufgeklärten Welt“, sofern sie über die Wissenschaften noch hinausgeht.

 So glaube ich wie auch Judith Shklar nicht, dass von einer Wiederbelebung Kantischer Vernunftideale eine Verbesserung der gegenwärtigen Umstände erwartet werden dürfte. Dass „uns“ „die Vernunft“ als „Pflicht“ und damit „für alle vernunftfähigen Wesen“ als Aufgabe gestellt ist, ist zwar eine, ich möchte sagen: erbauliche Kantische Formulierung, über die ich als Studierender auch nachdenken musste (etwa so wie in der Sonntagsschule über die Tatsache, dass wir alle Sünder sind). Aber welche Folgen soll diese Aufgabe konkret in der Erziehung haben? Dass Kant „einen Leitfaden a priori“ entdeckt haben will, der uns nicht nur beim Umgang mit der historischen Überlieferung, sondern auch in unserer eigenen Entwicklung eine Orientierung an „der Vernunft“ geben soll, ist ein interessantes Postulat. Eine erfolgreiche Anwendung dieses apriorischen Leitfadens habe ich im Umgang mit wissenschaftshistorischem Material oder bildungspolitischen Planungen jedoch nie gesehen. Dieser Leitfaden ist, um sich einer weiteren, etwas polemischen Formulierung Feyerabends zu bedienen, eher Teil eines „Luftschlosses“ einer allgemeinen Menschenvernunft. Hinter dem so gebrauchten Vernunftbegriff steht in meinen Augen eine Illusion der Aufklärung, die die Philosophie bis heute in die Irre führt. Sie ist eine Variante einer sehr allgemeinen Illusion, die ich die „Illusion der Grundlegung durch das Wälzen großer Worte“ nennen möchte. Danach hat die Philosophie für ein Geschäft der Grundlegung des Theoretisierens und Handelns überhaupt zu sorgen, indem sie über die Vernunft, die Freiheit, die Wahrheit, das Glück, die Natur und nicht über spezielle vernünftige Verfahren, Wahrheitspraktiken, Glücksverständnisse und die unterschiedlichen Gebiete des Natürlichen nachdenkt. Ich habe den größten Teil meiner schriftstellerischen Arbeit darauf verwandt, Nadeln zu schmieden, mit denen man in die Illusionsblasen solcher Grundlegungsphantasien hineinpieksen kann. Und sofern die Zerstörung von Illusionen ein Geschäft der Aufklärung sind, verstehe ich diese kritischen oder negativistischen Bemühungen gegen bestimmte Ideale der Aufklärung des 18. Jahrhunderts selbst als aufklärerische.

 Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wie Feyerabend habe ich grundsätzlich weder etwas gegen den Begriff der Wahrheit noch etwas gegen den der Vernunft. Ich denke jedoch, dass es, so wie es konkrete Wahrheitspraktiken in unterschiedlichen intellektuellen Projekten wie Mathematik, Pathologie, Archäologie, Jurisprudenz usw. gibt, in unterschiedlichen Kontexten auch jeweils Unterschiedliches als „vernünftig“ zu kennzeichnen ist. Was eine vernünftige Ernährung, eine vernünftige Geldpolitik, ein vernünftiger Forschungsplan, ein vernünftiges Argument, ein vernünftiger formaler Beweis, eine vernünftige Gedichtauslegung und ein vernünftiger Erziehungsstil sind, kann sich m. E. nicht nach allgemeinen Kriterien der Vernunft richten, die transzendental deduziert werden können (wie immer das geht), sondern muss an Beispielen für Verfahren in den jeweiligen Bereichen, die als erfolgreich eingeschätzt worden sind, studiert werden.

 Sicherlich gehen in das Studium dieser Beispiele Bewertungen ein, deren Maßstäbe selbst der Veränderung unterliegen und diskutiert werden müssen. Und sicherlich können wir auf Wahrheits- und Vernunftpraktiken zurückblicken, die als gescheitert einzustufen sind. Die Folter ist keine gute Wahrheitspraktik in juristischen Prozessen, wie „wir“ eingesehen haben. Der Aderlass hat sich als keine vernünftige medizinische Therapiemethode erwiesen. Die historische Kenntnis dieser gescheiterten Wahrheits- und Vernunftpraktiken, das Studium unserer Irrtumsgeschichte, sind deshalb wichtig, auch für zu erhoffende zukünftige Aufklärungsbewegungen. Denn eine Irrtumsgeschichte kann uns Vorsicht und Skepsis gegenüber unserer Selbstsicherheit bei der Anwendung gegenwärtiger Wahrheits- und Vernunftpraktiken lehren.

 In diesem Studium von Beispielen werden aber auch Gründe sichtbar, warum bestimmte Praktiken verändert oder ganz fallengelassen bzw. trotz Kritik fortgeführt werden. Sind dabei Appelle an allgemeine Vernunftkriterien im Spiel? Mir scheint dies angesichts meiner (zugegebenermaßen begrenzten) Kenntnis der Entwicklung von Wahrheitspraktiken (etwa in der Biologie) und der Anwendung des Prädikats „vernünftig“ (bspw. in logischen Schlußpraktiken etwa nach der Einführung mehrwertiger Quantenlogiken) nicht der Fall zu sein. Kurz: Etwas Besseres als die historische Erinnerung an die Bewährung und das Scheitern solcher Praktiken, auch an die Geschichte der von uns heute anerkannten und gepflegten Praktiken, haben wir nicht für die öffentliche Auseinandersetzung über das, was wir als wahr und vernünftig ansehen wollen.

 Es gibt keinen philosophischen Geheimtunnel zu ahistorischen Kontrollkriterien, mit denen sich die öffentlichen Aushandlungsprozesse darüber leiten ließen, wie wir Wahrheiten ausfindig machen können und wann wir Praktiken als „vernünftig“ nobilitieren. Philosophen können Wissenschaftlerinnen, Juristen, Journalisten u. a. nicht vorschreiben, wie Wahrheitssuche in ihren Bereichen geht und sie können Erzieherinnen und Ärzten nicht vorschreiben, was eine vernünftige Erziehungspraktik oder Behandlungsmethode ist. Sie können dieses Geschäft deshalb nicht übernehmen, weil sie von den Inhalten der Wissenschaften, der juristischen Verfahren, den Erziehungs- und Heilpraktiken in der Regel gar keine Kenntnis besitzen, die auf praktischer Erfahrung beruhte. Sie kennen meist nur die Ergebnisse dieser Unternehmungen. Die Vorstellung, eine kontemplierende Kaste von philosophischen Intellektuellen verfüge über feste Beurteilungskriterien, was wahr und vernünftig sein könne, und die Praktikerinnen hätten sich nach diesen Kriterien zu richten, ist zwar eine philosophische Machtphantasie, die seit Platons „Staat“ durch die Köpfe geistert, die aber auch durch den Kantianismus nicht plausibler geworden ist. Praktiken, seien es Wahrheitspraktiken oder andere, die wir mit den Prädikaten „vernünftig“ und „unvernünftig“ versehen, sollten im Sinne Deweys von denen bewertet und weiterentwickelt werden, die sie tatsächlich ausführen und nicht von denen, die über diese Praktiken zwar reden, sie jedoch selbst gar nicht betreiben können. Beobachter von Praktiken können nachzuvollziehen, was die in den Praktiken kundigen Menschen der Vergangenheit und Gegenwart warum dazu gebracht hat, von der einen Praktik zu einer anderen überzugehen und wie sie dabei eventuell neue entdeckt haben. Steuern können Beobachter solche Übergänge aber nicht.

 Die dabei entstehende Kenntnis der Vielfalt historischer Situationen innerhalb unserer eigenen kulturellen Tradition und mehr noch der Blick in „die islamische Welt“, nach Indien, China oder Japan und unsere wachsende Kenntnis der Differenziertheit dieser Traditionen lassen die Hoffnung auf abstrakte, absolut gewisse, universale Maßstäbe der Wahrheitsfindung und des vernünftigen Handelns, die sich niemals ändern und die uns den Blick in die historische und kulturelle Vielfalt ersparen könnten, auch für die Zukunft als illusionär erscheinen. Zukünftige Aufklärungsbewegungen sollten auf diese Neigung zum behauptenden Universalismus deshalb verzichten.

 Über die vielen Beispiele für unterschiedliche Verfahren der Wahrheitsfindung und des vernünftigen theoretischen, politischen und privaten Verhaltens sollte man m. E. jedoch auch in der Schule bereits mit dem Ziel eine aufgeklärte Bildung zu fördern, diskutieren. Mit   einem solchen Beispielsstudium sollte aufgeklärt werden und nicht durch Verweise auf die vermeintlichen allgemeinen Prinzipien der Vernunft. Man könnte im Unterricht die folgenden Fragen stellen:

 Welche Wahrheitspraktiken hat Darwin betrieben, um seine Theorie einer Entwicklung der Arten zu entwickeln? Warum haben sie sich bis heute bewährt? Wie kann im Gericht die Schuld eines Angeklagten bewiesen werden? Wie beweist man einen Satz in der Geometrie, etwa den des Pythagoras? Was beweist das Knallgarexperiment? Was sind die Unterschiede zwischen einem juristischen, einem geometrischen und einem chemischen Beweis? Hat sich die SPD in der Weimarer Republik vernünftig verhalten in dem Versuch, einen Erfolg der NSDAP zu verhindern? Haben sich die US-amerikanischen Republikaner vernünftig verhalten, als sie Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei gewählt haben, oder hatten sie keine andere Wahl? Was ist vernünftig, wenn es darum geht, zu entscheiden, wie eine terminale Krankheit weiter behandelt werden sollte? Sind unanschauliche Theorien, wie die der nach-newtonschen Physik, unvernünftig wie von einigen Zeitgenossen Einsteins behauptet wurde? Ist es vernünftig, alles in der Schule, was die Schüler sagen und schreiben, zu bewerten? Gibt es ein vernünftiges Verfahren, mit dem man schon in der Schule herausfinden kann, ob jemand einmal etwas wirklich Wichtiges herausfinden wird? Worauf bereitet die Schule eigentlich vor: auf ein vernünftiges Leben oder auf Erfolg im Beruf und wie unterscheidet sich beides voneinander? Auch ein Bewusstsein dafür, wie die Schülerinnen selbst die Begriffe „wahr“ und „vernünftig“ verwenden, welchen konkreten Praktiken sie in der Verleihung dieser Prädikate folgen, sollte in diesem Zusammenhang gefördert werden.

 Solche Fragen zu diskutieren setzt nicht nur auf der Seite der Schüler eine gewisse Flexibilität voraus, sondern auch auf der Seite der Lehrer die Fähigkeit, sich nicht nur an Lehrbüchern und Prüfungsaufgaben, sondern auch an gut aufbereiteten historischen und aktuellen Problemen und der tatsächlichen Lebenssituation ihrer Schüler so orientieren zu können, dass sie auf kluge Weise Stoff in der schulischen „Aufklärungsarbeit“ anbieten können. Vermutlich bereitet die gegenwärtige Lehrerbildung nicht genug auf eine solche Arbeit mit konkreten Beispielen vor, obwohl ich sie in der Projektarbeit einer Schweizer Schule, die sich am Montessorimodell – und damit auch an Deweys „learning by doing“ – orientierte, kennengelernt habe. (Womit nicht gesagt sein soll, dass an privaten Schulen immer bessere Arbeit als an staatlichen geleistet wird).

 Es wäre nun verfehlt, angesichts solcher Überlegungen – und vor allem wenn der Name Feyerabend fällt – gleich erschrocken: „Relativismus!“ und „Anarchie!“ zu rufen und zu fürchten, die „Prinzipien der Aufklärung“ (was immer das auch sein möge) gingen jetzt über Bord. Feyerabend war nicht, wie behauptet wird, ein platter Relativist, wenn man nicht alle, die die Suche nach allgemeinen überhistorischen Vernunftkriterien für unplausibel halten, als Relativisten bezeichnen will, sondern ein Empirist und Objektivist, der jede, auch eine auf den ersten Blick abstrus erscheinende Hypothese und jedes erst einmal fremdartige Verfahren getestet sehen wollte, bevor man es ablehnt. Er meinte nicht, dass Astrologie und chinesische Medizin so gut wie Persönlichkeitspsychologie und westliche Medizin seien. Feyerabend hat nicht behauptet, dass man die Wahrheit sowieso nicht kennen und nicht wissen könne, was letztlich vernünftig ist. Sondern er meinte, wir müssen Wissensansprüche erst einmal verstehen und testen, bevor wir sie verwerfen, auch diejenigen Ansprüche, die uns zunächst sehr unwahrscheinlich und unvernünftig erscheinen, weil sie etablierten Prinzipien nicht entsprechen. Denn auch der Kopernikanismus und die Einstein’sche Physik galten in ihrer Zeit zunächst als „verrückt“. Sie haben auf lange Sicht jedoch neue Beispiele dafür gegeben, wie man Physik betreiben kann, d.h. die Prinzipien, nach denen diese Disziplinen funktionieren, verändert. Auch der anarchistische Slogan „Anything goes!“ ist von Feyerabend aus dem Studium der Geschichte gewonnen: Diese zeige eben, dass es keine einheitlichen Kriterien der Klarheit, Präzision und Vernünftigkeit in den Wissenschaften – und man kann ergänzen: der Politik und dem alltäglichen Handeln – gibt, die absolut stabil über die Zeit hinweg wären.

 Feyerabend diagnostiziert in der „abendländischen Zivilisation“ einen sich durchhaltenden Konflikt zwischen „abstrakten“ und „historischen Traditionen“, man könnte auch sagen zwischen einem, wie es John Forrester genannt hat, „thinking in cases“ und einem Prinzipien-Denken. In der Wissenschaft kann das Prinzipien-Denken zu Blockaden führen, dazu, dass man Innovationen als „unvernünftig“ oder „undenkbar“ beiseite tut, wie die mehrwertige Logik, eine vierdimensionale Raumzeit oder die Veränderung des genetischen Materials durch Umwelteinflüsse, weil dies angeblich „der Vernunft“ widerspricht. Ähnliches gilt auch für das Nachdenken und Handeln außerhalb der Wissenschaft. Auch hier können Appelle an „die Prinzipien der Vernunft“ Hemmnisse darstellen, um neue politische oder soziale Wege zu beschreiten. Wenn die Aufklärung sich über sich selbst aufklären und als Bewegung erneuern will, darf sie m. E. nicht abstrakte Vernunft- und Freiheitsbegriffe zu „retten“ versuchen, um sie wie Amulette vor sich herzutragen, als könnten sie uns vor irrationalem Relativismus und der Entwürdigung unserer Person schützen, vor allem dann nicht, wenn unklar ist, wie diese Amulette eigentlich wirken.

 Erziehung

 In meinen Augen sind die meisten unserer Bildungsinstitutionen von einem universalisierten Markt zu Karriereinstrumenten degradiert worden. Diese Institutionen waren jedoch, bevor das geschah, auch nicht bloß Schulen der Vernunft, in denen das freundschaftliche Diskutieren und Begründen geübt und gelernt wurde, wie man vernünftiges Argumentieren vom Machtausüben unterscheidet. Es geht hier nicht darum, die pädagogische Vergangenheit zu idealisieren. Gute alte Zeiten sind meist ein Symptom für ein schlechtes Gedächtnis. Ich selbst wurde noch körperlich gezüchtigt in Grund- und weiterführender Schule. Doch versuchten diese Institutionen trotz ihres teilweise respektlosen Umgangs mit der Schülerinnenschaft gleichzeitig eine education sentimentale zu bieten, eine beruflich völlig irrelevante Erziehung der Gefühle und des politischen Gespürs, der ästhetischen Empfindsamkeit und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zwischen Epochen und Kulturen. Sie dienten idealerweise der Heranbildung eines Bewusstseins dafür, was man selbst so alles herausfinden und erschaffen kann. All das geschah weitgehend durch das gründliche Studium von wissenschaftlichen, historisch-politischen und künstlerischen Beispielen, indem man einen Schwingkreis in der Physik, die Entwicklung der französischen Revolution im Geschichtsunterricht oder Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ in Deutsch studierte. Das geschieht vielleicht immer noch.

 Doch heute, so erscheint es mir, geht es weniger um vernünftige Verfahren der Forschung, politischen Gestaltung und gelingenden Deutens von Kunst kennenzulernen, sondern um Kreditpunkte einzusammeln, damit man einmal zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern in der Meritokratie gehört. Die Beschäftigung mit Inhalten ist (was sie für einige vielleicht immer schon war) Mittel zum Zweck eines messbaren Ausbildungserfolgs geworden, der die Berufschancen in einer durch und durch marktförmig strukturierten Gesellschaft steigern soll. Auch wenn die Idee des sich selbst organisierenden Marktes eine aus der Aufklärung stammende war, so ist die Vorstellung, dass Konkurrenz die menschlichen Verhältnisse verbessert, inzwischen zu einem Dogma geworden, das wenige bei seiner jeweiligen Anwendung sich zu begründen bemühen.

 Man kann und soll m. E. von dem, was heute in den Bildungsanstalten passiert, nicht einfach zu dem zurückkehren, was vor 50 Jahren üblich war oder vor 120 Jahren in Deweys Laborschule in Chicago schon besser gemacht wurde als das, was vor 50 Jahren geschah. Die vergangenen Tatsachen der Bildung verweisen lediglich auf Möglichkeiten, Bildungsinstitutionen als etwas anderes zu begreifen, denn als Vorbereitung auf eine außerschulische meritokratische Wirklichkeit in einer vermutlich nicht mehr lange fortsetzbaren Gesellschaft, der es überwiegend um Aufmerksamkeit und Reichtum geht, bei weitgehender Missachtung der moralischen, politischen und ökologischen Kollateralschäden dieser Zweckausrichtung des Lebens für andere menschliche und nicht-menschliche Wesen.

 Dass auch die „alten“ Bildungsanstalten nicht vor Katastrophen schützen konnten, ist oft zu Recht gezeigt worden. Das deutsche humanistische Gymnasium, das Auswendiglernen der Zehn Gebote, einschließlich „Du sollst nicht töten“, haben den Massenmord bekanntlich nicht verhindern können. Imre Kertész schrieb entsprechend: „Du entwirfst eine grauenhafte Vision: Mit dem Ranzen auf dem Rücken trotten Millionen Kinder zur Schule (ins humanistische Gymnasium, M.H.), um sich später auf dem Vorplatz der Krematorien (in den Konzentrationslagern, M.H.), an einer als Massengrab ausgehobenen Grube als Täter und Opfer wiederzutreffen.“ (Kertész, Dossier K. Eine Ermittlung, 2006, S. 207) Dewey’sche Schulreformen allein werden „unsere“ Gesellschaft so wenig „retten“ wie der „Dritte Humanismus“, der in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgerufen wurde, die Weimarer Gesellschaft vor der Diktatur gerettet hat. Alle sonstigen Möglichkeiten, die anderen politischen Freunden einfallen mögen, um die universale Konkurrenz der Reichtumsgesellschaften und ihre ökologischen Schäden zu beenden, sollten deshalb m. E. in die Öffentlichkeit gebracht und dort erwogen werden, um in der politischen Auseinandersetzung zum Einsatz kommen.

 Die Zerstörung der Öffentlichkeit durch das marktförmig funktionierende Internet und die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit hängen miteinander zusammen. Die Unfähigkeit, auf die ökologische Krise zu reagieren, ergibt sich aus einer allgemein gelähmten Reaktionsfähigkeit der Öffentlichkeit, der kollektiven Subjektivität, weil diese nur noch bedingt reflexiv, ja kaum mehr reaktiv ist, sondern weitgehend zu        einem triggerbaren Mechanismus geworden ist, der angesichts der Aufmerksamkeitsbelohnungen, die das Netz bereitstellt, immer effizienter manipuliert werden kann, um gewünschte Meinungen zu produzieren oder Kaufhandlungen durchzuführen. Die Öffentlichkeit ist zu einer Art Pavlowschen Hund geworden, der auf die Glocken, die Google, Facebook u.a. erklingen lassen, pünktlich seinen Speichel bzw. seine Daten absondert und sein Geld abgibt. So scheinen die finstersten Albträume Adornos, dass man dem Kapitalismus nirgends mehr entrinnen kann, dass alles zur Ware wird, langsam aber sicher Realität zu werden. Unsere Lebenszeit, unsere Aufmerksamkeit, unsere Meinungen, unsere persönlichen Daten – all das ist zur Ware geworden. Jeder Austausch zwischen Menschen im Netz ist ein potentieller Ort für Werbemaßnahmen und das Abgreifen weiterverkaufbarer Daten.

 Auf die Zerstörung der Umwelt kann ein so konditioniertes kollektives Wesen nicht mehr effizient reagieren. Die Werbeagenturen der große ökologische Kosten verursachenden Konzerne appellieren für die Abwendung ökologischer Katastrophen an die „Verantwortung der Einzelnen“, auf die es ja angeblich immer ankommt, um dadurch notwendige internationale institutionelle Reformen zu verhindern, die ihren Handlungsspielraum einschränken würden. Eine solche Strategie kann sich sogar aufklärerisch verstehen, weil sie die Vernunft der einzelnen Person anspricht, die als mündiger Mensch eben den Müll trennen und das Fleischessen ebenso wie das Fahren mit Dieselfahrzeugen einstellen kann, wenn sie das als richtig einsieht, so dass der Markt als Aggregation der vernünftigen Entscheidungen der Einzelnen auch die ökologischen Probleme schon richten wird.

 Wäre es nicht auch hier sinnvoll, sich an konkreten Fällen zu orientieren statt an die Vernunft der Individuen und des Marktes zu glauben? Hat die blind das Prinzip der freien Marktwirtschaft anwendende Umgestaltung des Gesundheits- oder öffentlichen Transportwesens diese effizienter und allgemein preiswerter gemacht? Mir scheint das, wenn ich beispielsweise an meine Reisen mit der Eisenbahn in England und Deutschland in den letzten Jahren denke und sie mit denen in der staatlichen Schweizer Bahn vergleiche, nicht der Fall zu sein. Kann in dieser Situation die Entwicklung von allgemeinen Kriterien des Vernünftigen, gar der Bezug auf Locke und Kant helfen? Auch das kann ich nicht glauben.

 Es scheint mir deshalb nötig, Menschen zu bilden, die in der Lage und guten Mutes sind, die gegenwärtige Gesellschaft und Kultur nicht mehr einfach fortzusetzen, weil diese Gesellschaft und Kultur in den nächsten 50 Jahren vermutlich entweder unter Entstehung von viel Leid von selbst aufhören wird, eine fortsetzbare zu sein, oder aber eben grundlegend reformiert vielleicht sogar revolutioniert werden wird. Wie aber kann man Menschen hervorbringen, die die bestehenden Verhältnisse nicht perpetuieren oder verschlimmern, sondern auf sie reagieren können? Denn alle Menschen entstehen in ihren Gewohnheiten und Zielvorstellungen ja in den bestehenden nicht mehr lange fortsetzbaren Verhältnissen. Eine gewalttätige Revolution, die sich gegen die gegenwärtigen Institutionen richtet, obwohl sie vielleicht immer wahrscheinlicher wird (vor allem in den USA), wenn die politische Polarisierung der Menschen in Gewinner und Verlierer weiter fortschreiten sollte und das Gemeinwohl beschädigt, würde an den Gewohnheiten der Menschen nichts ändern. Menschen, die mit den Gewohnheiten und Zielen „ausgestattet“ sind, die gegenwärtig in die Zerstörung der Demokratie und der ökologischen Lebensgrundlagen führen, werden nach einer revolutionären Zerschlagung der Institutionen der gegenwärtigen Gesellschaft keine neuen errichten können, die Menschen mit anderen, politisch und ökologisch länger fortsetzbaren Gewohnheiten und Zielvorstellungen hervorbringen können. Nur wenn es innerhalb dieser Gesellschaft gelingt, in den Bildungsinstitutionen eine potentielle Anti-Struktur zu den anderen Institutionen dieser Gesellschaft zu bilden, kann diese Gesellschaft sich aus sich heraus ändern und einen anderen Pfad nehmen als den in die politische und ökologische Selbstzerstörung.

 John Dewey hat in Human Nature and Conduct schon 1922 gezeigt, dass eine Gesellschaft, die sich lediglich reproduziert, aber nicht verändert, in einen vicious circle geraten kann, in dem es ihr gerade nicht mehr möglich ist, sich zu erhalten, sich fortzusetzen, weil sie fortwährend Bewegungen vollführt, die sie selbst vernichten. Nur eine reaktionsfähige und zur Selbstveränderung fähige Gesellschaft ist in dieser Perspektive auch eine fortsetzbare. Unsere gegenwärtigen westlichen Gesellschaften befinden sich dagegen überwiegend bereits in diesem Deweyschen vicious circle; sie sind reaktions- und in entscheidenden Punkten veränderungsunfähig geworden angesichts der ihnen klar vor Augen stehenden Bedrohungen. In dieser Situation geht es nicht mehr um die Autonomie des einzelnen Menschen und der Gemeinschaft im Sinne der Selbstgesetzgebung, auch wenn Republikanismus und Kantische Freiheit der Individuen eine schöne Sache sind. Es geht um die sehr elementarere Kompetenz des Überhaupt-noch-kollektiv reagieren-Könnens auf Gefahren, um die Fähigkeit, andere Ziele zu verfolgen als die der Profitmaximierung und des gesellschaftlichen Aufstiegs, deren sture Verfolgung der Abwendung dieser Gefahren im Wege steht.

 Würde es helfen, die Erzieher in dieser Situation mit Platon, Kant oder Habermas zu erziehen? Gibt es eine philosophische Utopie der Geschichte im Westen, die die gegenwärtigen Menschen überall auf dem Globus, auch in China und Indien und im US-amerikanischen Mid-West nachvollziehen und der sie zustimmen könnten, würde sie nur verständlich in die Öffentlichkeit getragen, um von ihnen als eine globale soziale und politische Alternative zum gegenwärtigen Kapitalismus wählbar zu sein? Ich habe da große Zweifel. Doch ein solcher globaler Vorstellungszusammenhang wäre nötig, wenn man die globalen Tendenzen zum Autoritarismus und zur zerstörerischen Ausbeutung unserer Lebensgrundlagen beenden wollte.

 Wie kommt es, dass die seit der Stoa existierenden Argumente gegen die Sklaverei nie bewirkt haben, dass diese abgeschafft werden konnte, sondern erst Kunst, nämlich Uncle Tom’s Cabin von Harriet Beecher Stowe aus dem Jahr 1852 und vermutlich wirtschaftliche Zwänge, die sie unrentabel erscheinen ließen im 19. Jahrhundert diese Folge hatten? Muss die Philosophie sich angesichts solcher Tatsachen nicht fragen, welche soziale und politische Wirksamkeit ihre Argumente haben? Hier teile ich die Position von Raymond Geuss, wonach ein „guter Philosoph […] ein selbstkritischer Partisan der Aufklärung“ zu sein hat und kein fanatischer Ritter der „Vernunft“, der auch in der Gegenwart noch für Kantische Ideale in die Schlacht zieht.

 An dieser Stelle ergeben sich einige Überschneidungen zwischen dem Denken von Geuss, dem von Feyerabend in seinen Irrwegen der Vernunft und den Versuchen, die selbst unternommen habe. Denn Feyerabend hat die Hoffnung geäußert, dass alle Anstrengungen, „unsere Handlungen von Einsicht und nicht länger von […] Schlagwörtern“ leiten zu lassen, zu einer „neuen Aufklärung“ führen könnten, in der auch alte Traditionen des Denkens und solche aus anderen Kulturen geprüft und eventuell zu neuer Geltung gebracht werden. (Irrwege der Vernunft, S. 440) Was Feyerabend als den Fehler, sich von Schlagwörtern leiten zu lassen, nennt, nennt Geuss „World-View“ und ich das „Wälzen von großen Worten zu Grundlegungszwecken“. Eine Bewegung der Dritten Aufklärung würde Schlagworte, World-Views und Grundlegungsprojekte zu vermeiden suchen. Sofern Utopien „World-Views“ sind, ginge sie auch diesen aus dem Weg. Denn sie sind nach Geuss letztlich nichts anderes als ein nicht funktionierender Ersatz für eine ehemals intakte und zukunftsfähige Gemeinschaftlichkeit bzw. der Versuch, diese Gemeinschaftlichkeit durch ein „Theoriegebäude“ zu retten. Gemeinschaften, in denen sich die Menschen kaum noch aneinander durch irgendetwas gebunden fühlen als ihre gemeinsamen ökonomischen Interessen, „brauchen“ rechtfertigende Weltsichten und, so möchte ich ergänzen, Utopien. Doch diese theoretischen Konstrukte können die verschwundene Kohäsion und Zukunftsfähigkeit einer Gemeinschaft auch nicht wiederherstellen.

 Formen der Aufklärung

 Man kann zwischen einer positiven und einer negativen Aufklärung unterscheiden, so wie man zwischen einem positiven und einem negativen Utilitarismus differenzieren kann. Der erste versucht, ein möglichst großes Glück für eine möglichst große Zahl zu befördern. Der zweite strebt die Verminderung von Leid an. Die positive Aufklärung hat versucht, die   Autonomie zu befördern und die Mündigkeit, die Fähigkeit, selbst zu denken und aus dem eigenen Denken und Fühlen heraus auch das Handeln zu wagen. Sie hat als politische Bewegung für die Emanzipation marginalisierter Menschen, die Frauen und die Ausgebeuteten gekämpft. Sie hat dabei versucht, allgemeine Kriterien der Vernünftigkeit (im Sinne Kants) und eine allgemeine „rationale Sprache“ (im Sinne des Cartesischen Discours de la mé-thode oder der Leibnizschen characteristica universale) zu entwickeln. Die negative Aufklärung (die es auch immer schon gegeben hat, wie den negativen Utilitarismus) versucht dagegen, Grausamkeiten und Illusionen zu vermeiden, Autoritäten zurückzudrängen, religiöse Angstmacherei zu beenden. Eine dritte Aufklärung müsste ebenfalls eine negative sein, die versucht, die schon laufenden Grausamkeiten zu stoppen, die durch die Universalisierung des Marktes den Menschen und auch anderen Lebewesen angetan werden. Sie müsste zeigen, dass es der allgemeinen Kriterien der Vernunft nicht bedarf, um einen Wandel in Praktiken dennoch als „vernünftig“ zu charakterisieren.

 Denn es gibt, wenn man etwa in die Geschichte des Strafprozessrechts oder des Fußballspieles schaut, eine kontinuierliche Veränderung der Regeln, nach denen diese Praktiken ausgeübt werden. Gute Historikerinnen und Historiker können beschreiben, wie die Änderungen jeweils abgelaufen sind und welche Gründe die Leute für ihre Änderungen hatten. Auch die Arten der Gründe mögen dabei selbst einer Veränderung unterliegen. Sofern diese Prozesse nachvollziehbar sind, kann man sie als „vernünftige“ charakterisieren, ohne dass sie deshalb durch Prinzipien der Vernunft gesteuert sein oder auf die Realisierung der uns allen aufgegebenen Vernunft teleologisch zulaufen müssen.

 Das gilt m. E. auch für die Geschichte der Philosophie. Auch sie wird nicht durch eine Vernunft angetrieben und läuft auch nicht auf eine hinaus. Sie erscheint mir so wenig wie die Geschichte der Malerei oder der Dichtung eine Fortschrittsbewegung. Ich teile die Dia-gnose von Ian Hacking, dass Philosophie nicht im progress business ist, dass es nicht die Aufgabe der Philosophie sein kann, Erkenntnisfortschritt im Sinne der Natur- und Technikwissenschaften zu betreiben, weil sie viel weniger als diese durch geteilte Methoden bestimmt ist.

 Aufforderungen, eine neue Aufklärung voranzutreiben, sind auch ein Versuch, sich zu erinnern. Denken wir uns Menschen, die seit 100 Jahren im Krieg leben. Schon lange gibt es keine friedlichen Gelage, keine ruhige Gemeinschaftlichkeit, die nicht zu Konkurrenz führt mehr, sondern nur Flucht, Not und Kampf. Auch daran können sich Menschen gewöhnen, wie der Aufklärer Lichtenberg einmal bemerkt hat, weil die, die den Frieden „geschmeckt“ haben, aussterben und die Erinnerung an ihn deshalb schwindet. So wie man sich an den Krieg gewöhnen kann, haben „wir“ uns an unser Leben gewöhnt, das wir gern auch noch als „fortschrittlich“ charakterisieren, weil es mit technischen Innovationen und Reichtumsgewinnen für eine kleine Gruppe verbunden ist. Doch was, wenn wir einsehen müssen, dass dieser Fortschritt einer Mehrheit der Menschen und anderen Lebewesen zum Schaden gereicht und deshalb die auf ihn eingestellten Institutionen scheitern müssen? Ist dann nicht auch das Wort „Fortschritt“ wie das Wort „Vernunft“ und das Wort „Freiheit“ ein Großbegriff der Aufklärung, ein „Schlagwort“ im Sinne Feyerabends, über dessen Bedeutung vielleicht mehr nachgedacht, über den „die Aufklärung“ als kulturelle Bewegung sich selbst aufklären sollte? Kann in diesem Sinne nicht eine Erinnerung an alte Gedanken, eine Zusammenstellung von Überlegungen, die einigen gut bekannt sein mögen, trotzdem einen aufklärerischen Nutzen in der Öffentlichkeit haben? Manchmal können Äußerungen aus der Vergangenheit ja Naivitäten in der Gegenwart entlarven. Dies gilt auch für eine Bemerkung des Pragmatisten Chauncey Wrights, der schon 1865 in einer Kritik an Herbert Spencer schrieb:

Progress is a grand idea, – Universal Progress is a still grander idea. It strikes the key note of modern civilization. Moral idealism is the religion of our times. What the ideas of God, the One, and the All, the Infinite First cause, were to an earlier civilization, such are Progress and Universal Progress to the modern world, – a reflex of its moral ideas and feelings. (Chauncey Wright, The Evolutionary Philosophy…. Vol. 1. 2000, S. 69)

 Wäre es nicht lohnenswert, statt den vermeintlichen Fortschritt vorantreiben zu wollen, sich stattdessen daran zu erinnern, dass Menschen auch anders leben können als „wir“ es gerade tun? Ist es nicht lohnenswert, sich daran zu erinnern, dass, so wie es möglich war, ohne Krieg zu leben, es auch möglich war, zu leben, ohne alles zu verkaufen, ohne immer nur in einer Konkurrenz auf einem Markt zu sein, ohne sich gegenseitig seine Meinungen ins Gesicht zu schreien? Wäre eine der breiteren Öffentlichkeit zugängliche „Entlarvung“ der Rolle des Fortschrittsbegriffs als eines leeren „Schlagworts“ im Feyerabendschen Sinne innerhalb eines „World-Views“ im Sinne von Geuss deshalb nicht ein erstrebenswertes Projekt negativer Aufklärung?

UNSER AUTOR:

Michael Hampe ist Professor für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Eine ausführliche Darstellung findet sich im Jahrbuch für Aufklärung, (Meiner).