Hartmut Winkler: Medientheorie der Computer

Es ist ein Universum der maschinenlesbaren Dokumente, Programme und Projekte entstanden, das technisch, gesellschaftlich und institutionell eigenen Regeln und eigenen medialen Gesetzmäsßigkeiten folgt. Die Philosophie, so sah es Derrida bereits 1967, ist gezwungen, ihr eigenes Aufschreibesystem, die Schrift, einer Prüfung zu unterwerfen: "Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden."Der Medientheoretiker Hartmut Winkler hat in seiner Habilitationsschrift "Zur Medientheorie der Computer" (1997, Boer, München) die Thesen, wie sie Medientheoretiker vertreten, untersucht.

Die These der Linearität der Schrift

McLuhan, Flusser, Bolz, Landow und andere Medientheoretiker stellen die Linearität der Schrift in den Mittelpunkt: "Bei der ersten Betrachtung des Schreibens ist die Zeile, das lineare Laufen der Schriftzeichen, das Beeindruckendste. Das Schreiben erscheint dabei als Ausdruck eines eindimensionalen Denkens und daher auch eines eindimensionalen Fühlens, Wollens, Wertens und Handelns", schreibt Flusser. Das Prinzip der linearen Anreihung läßt zu jedem Zeitpunkt nur die Auswahl eines einzigen neuen Elements zu, alle anderen möglichen Elemente müssen unterdrückt und von der Auswahl ausgeschlossen werden. Die Leistung dieses Systems besteht darin, dass es dem Denken eine einzigartige Disziplin auferlegt: "Da der beschränkte Geist des Menschen nicht fähig ist, mehrere Ideen gleichzeitig vor Augen zu haben" (Locke), ist ihm gedient, wenn diese zeitlich oder räumlich nacheinander auftreten. Die Linie zwingt dazu, zeitliche Abläufe genau zu ordnen und sich für Ursache/Folgeverhältnisse zu interessieren. Und diese Anordnung ist es, die nach den genannten Medientheoretikern in eine Krise geraten ist. In Konflikt geraten sei sie mit der zunehmend komplexen Realität und den Notwendigkeiten eines zunehmend komplexen Denkens, was letztlich bedeute, dass die Schrift als ein Modus der Abbildung vor dem Abzubildenden versagt. Nach Bolz ist "ein Medium simultanpräsenter Darstellung" gesucht. Diese Möglichkeit eröffnen "Hypermedien" (Bolz), also der Computer.

Aber, so hinterfragt Winkler die Ausgangsthese, ist die Schrift tatsächlich "linear"? Bereits Wiederholungsstrukturen innerhalb der Kette bilden ein anti-lineares Element und verweisen darauf, dass innerhalb der linearen Syntagmen Anreihungs-prinzipien wirksam sind, die der Linearität selbst nicht gehorchen. Auch lässt die These der Linearität unberücksichtigt, dass die Elemente der Anreihung einem Code entnommen werden, der selbst nicht Teil der Anreihung ist. Und dies verschiebt die Perspektive grundsätzlich; den linearen Texten steht nun die Sprache gegenüber. Und die Sprache als System ist zweifellos nicht linear.

Die Netzmetapher

Im Mittelpunkt nahezu aller Vorstellungen vom Computer steht die Netzmetapher. Sie hat auch in einer Vielzahl realer Implementierungen ihren Niederschlag gefunden. Die entscheidende Neuerung, die der Computer in die Welt gebracht hat, besteht in seiner Fähigkeit, n-dimensionale Räume aufzubauen. Und sobald die Schrift auf Datenträgern gespeichert ist, wird es möglich, die Schrift anders als linear zu verwalten und n-dimensionale Netze nun aus Texten, Textteilen oder schriftförmigen Daten aufzubauen. Es ist dies die Welt der sog. "Hypertext"-Systeme, und diese haben in besonderem Maße die Phantasien der Medientheoretiker auf sich gezogen. An jeder Stelle eines Textes können Querverweise eingefügt werden, die auf andere Texte zeigen, und anders als im Fall der traditionellen Fußnoten sind diese mit dem Ausgangstext gleichrangig, und anders als im Fall des Zitats bleibt die Passage in ihren Originalkontext eingebettet. Diese neue Signifikantenanordnung scheint die Beschränkungen aufzuheben, denen die lineare Schrift unterliegt, und ihr ausschließender Charakter zu überwinden. Der Medientheoretiker George P. Landow hat diese Entwicklung so interpretiert, dass die technische Entwicklung einem Problemdruck, der sich im diskursiven Raum aufgebaut hat, gefolgt ist: Da die Welt an Komplexität zunimmt, muss die Medienwelt reagieren und dafür sorgen, dass das Denken über entsprechend komplexe Instrumente verfügen kann. Und mit dem "World Wide Web" gibt es inzwischen ein System, das den Anforderungen entspricht und das den ganzen Globus umspannt. Eine Unzahl von Rechnern, Dateien und Projekten ist durch Links miteinander verbunden, die aus der Mitte von Texten hinaus auf andere Texte, Rechner oder Projekte zeigen.

Wichtig ist aber noch ein weiterer Punkt: Für die genannten Autoren steht fest, dass die neue Signifikantenordnung eine Annäherung an die Strukur des menschlichen Denkens bedeutet. Im Mittelpunkt dieser These steht der Begriff der Assoziation. Die vernetzte Struktur von Hypertexten kommt as-soziativen Gedankenoperationen entgegen, ja vollzieht diese mit technischen Mitteln nach. Auf die Sprache übertragen heißt das, der Systemteil der Sprache soll objektiviert und nun im Außenraum angeschrieben wer-den. "Der gesamte hermeneutische Gehalt eines Textes ist in der Verzweifungsstruktur seiner elektronischen Darstellung manifest", schreibt Bolz. Dabei geht es im Kern darum, so Winkler, die Differenz zwischen Text und Sprache zu eliminieren, d.h. die Differenz, die das Sprechen von der Sprache grundsätzlich trennt.

McLuhan, Flusser und Bolz haben explizit die These vertreten, dass die Medien eine Verlängerung des menschlichen Sinnesapparates bedeuten und dass in der weltweiten Verschaltung der Medien "der" Mensch sein Nervensystem auf den gesamten Globus ausdehne - eine Grundvorstellung, die viele Autoren übernommen haben. Nach Ansicht dieser Theoretiker verspricht das Datenuniversum eine universelle und einheitliche Sphäre des Symbolischen zu errichten.

Das Datenuniversum

Die Medienlandschaft selber unterliegt einem rasanten Prozess innerer Differenzierungen: immer neue Medien und Aufschreibesysteme drängen auf den Markt und können sich im Alltag des Einzelnen etablieren. An die Seite der Bücher sind Photoalben und Diakästen getreten, Amateurfilme, Schallplatten, Audiokassetten, CDs, Videokassetten, Computerdisketten und CD-Roms, und all dies in verschiedenen Generationen und Standards, so dass die Lesbarkeit selbst der jüngeren Aufzeichnungen nicht mit Sicherheit gewährleistet scheint. Probleme der Kompatibilität und der technischen Übersetzung spielen eine immer wichtigere Rolle. Der Kopf des Einzelnen ist der privilegierte Ort, an dem die differenten Botschaften sich wieder zusammenfinden müssen, und dieser Kopf gerät mit der Aufgabe der Synthese schnell an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Und darum dreht sich in der Medientheorie die Diskussion um den Computer als Medium. Auf der technischen Ebene bietet sich zunächst der digitale Code an, all die zersplitterten Medien auf eine technisch zuverlässige Weise miteinander zu verbinden. So sieht Kittler im Computer das universale Medium: "Mit der Universalen Diskreten Maschine ist das Mediensystem geschlossen. Speicher- und Übertragungsmedien gehen beide in einer Prinzipschaltung auf, die alle anderen Informationsmaschinen simulieren kann". Und Bolz sieht dies ähnlich: "Da alle technischen Medien heute digitalisierbar sind, können alle Daten im selben Speicher abgelegt werden." Konkret diskutiert wird dies etwa in der Frage, auf welche Weise historische Filmkopien vor dem Verfall gerettet werden können. Dabei wird immer häufiger die Möglichkeit der Digitalisierung genannt.

Das Datenuniversum wird im Rahmen zweier Modelle diskutiert, der Utopie vom Gesamtkunstwerk und derjenigen von einer universellen Enzyklopädie. Hinzu kommt ein irreduzibel religiöses Motiv, das der Idee einer universellen Vermittlung innewohnt.

Computer als Gedächtnismaschinen

Lange Zeit hat man versucht, den Computer vom individuellen Gedächtnis her zu verstehen und ihn als eine Erweiterung, Veräußerlichung oder Simulation des individuellen Gedächtnisses beschrieben. Die Debatte drehte sich damals um die Frage, ob "der Mensch" sich auf Dauer gegen "die Maschine" werde behaupten können (so noch 1994 Bolz). Von daher bedeutet es einen gewaltigen Sprung, wenn die Rechner nun vom kollektiven Gedächtnis und vom intersubjektiven Raum her begriffen werden. Kittler geht sogar soweit, das Modell des Computers zu verabsolutieren und auf alle anderen Medien zu übertragen: "Es geht mithin um Medientechnologien, um Übertragung, Speicherung, Verarbeitung von Informationen". An die Stelle des Begriffs "Gedächtnis" ist der des Speichers getreten, zudem hat sich ein mechanistisches Konzept durchgesetzt: "Nachrichten speichern und Nachrichten übertragen können, ohne auf so obskure Gegebenheiten wie Menschengeist oder Menschenseele zurückgreifen zu müssen - genau das macht Medien aus" (Kittler). Dabei, so kritisiert Winkler, kann etwa die Psychologie zeigen, dass das menschliche Gedächtnis Eigenschaften hat, die einer mechanistischen Auffassung diametral gegenüberstehen. Wahrnehmungen, Erlebnisse und Informationen werden in der Erinnerung keinesfalls reproduziert, sondern finden sich verschoben, verstärkt oder abgeschwächt. Alle diese Veränderungen, die gemessen am Speichermodell als Unzuverlässigkeit des Gehirns erscheinen müssten, haben eine präzise Funktion darin, die einzigartige Ökonomie der Gedächtnisvorgänge zu ermöglichen. Wichtig ist zudem, dass alle Gedächtnisinhalte an Affekte gebunden sind. Das Gehirn organisiert sein Material nach den jeweiligen Affektbeiträgen, und die Affekte wiederum stellen die Energie für die Gedächtnisarbeit bereit. Und drittens ist der überwiegende Teil des Gedächtnisinhaltes dem Bewusstsein nicht verfügbar. Die Speichermetapher, so das Fazit Winklers, verfehlt wesentliche Eigenschaften des menschlichen Gedächtnisses. Auch die Ver-treter der Künstlichen Intelligenz sind zu demselben Resultat gekommen und haben die noch in den siebziger Jahren vertretene These, es werde binnen kurzer Zeit gelingen, gedächtnisanaloge Strukturen zu implementieren, zurückgenommen.

Das gesellschaftliche Interesse ist inzwischen vom "Speicher" auf den "Diskurs" übergegangen. Nicht die Speicher selbst sind interessant, sondern die Prozesse, die die Speicher füllen und strukturieren bzw. leeren und umstrukturieren. Die Tatsache, dass das individuelle Gedächtnis nur als Prozess gedacht werden kann, geht mit der metaphorischen Übertragung auf das kollektive Gedächtnis über und zwingt dazu, auch dieses nicht als einen Zustand, sondern als einen Vorgang zu denken. Auch Flusser war bemüht, sich von den materiellen Manifestationen auf den diskursiven Prozess umzuorientieren und entwickelte eine radikal funktionale Sicht, in der Menschen wie Maschinen völlig äquivalent als "Knoten in einem Netz", das sich im Fluss der Informationen konstituiert, gesehen werden. Diese Perspektive ermöglicht es, Menschen und Medien in eine parallele Position zum gesellschaftlichen Prozess zu bringen: Vom Mechanismus der Traditionsbildung aus be-trachtet ist es nahezu gleichgültig, ob die Inhalte in die Gedächtnisse und die Körper der Subjekte eingeschrieben werden, wie dies in oralen Gesellschaften mit mündlicher Traditionsbildung der Fall ist, oder in ein "Aufschreibesysteme". Als materiale Manfestationen strukturieren die Medien den intersubjektiven Raum, ihre Struktur prägt sich den Subjekten auf, und die Subjekte umgekehrt schreiben gestaltend in die Medien zurück.

Das rein quantitative Wachstum der Daten steuert auf eine Krise zu. "Die Technisierung der Gedächtnisspeicher - vorgestellt als Vollendung des enzyklopädischen Ideals, in das der Fortschritt des Wissens als Teleologie der Geschichte wie als Emanzipation des Menschen einschließt - hat Automatismen des Bewahrens erzwungen, von denen keiner sich eine angemessene Vorstellung hat machen können", schreibt Hans Ulrich Reck. Dass dieser Zustand das Datenuniversum insgesamt ergriffen hat, ist nach Winkler am gegenwärtigen Zustand der internationalen Datennetze unmittelbar abzulesen. Er begreift die neuen Medienkonstellationen als eine "Hypertrophie des Gedächtnisses" und macht darauf aufmerksam, dass die additive Grundlogik selbst ein Problem sein könnte, die notwendig zu Ergebnissen führt, die der Erwartung nicht entsprechen. Winkler schlägt ein alternatives Modell vor. Er versteht das System der Sprache als Produkt einer Verdichtung. Damit können die beiden "Orte" der Sprache, die linearen Texte im Außenraum und die semantische Struktur im Innenraum der Gedächtnisse komplementär aufeinander bezogen werden. Diskurs schlägt um in System, und syntagmatische Anreihungen gehen in paradigmatisch/assoziative Beziehungen über. Ausschließlich im Umschlag von Diskurs in System erhält die Sprache ihre Funktion. Sprache ist vom Sprechen vollständig abhängig, aber sie fällt mit dem Diskurs und den Äußerungen nicht zusammen. Verschränkt mit dem Gedächtnis bildet sie das Gegenüber des Sprechens, einen Ort der Beharrung. Winkler geht aber noch einen Schritt weiter und konzipiert Sprache als ein "Gedächtnis". Das Sprechen arbeitet am Netz der Sprache, indem es Positionen fixiert und sukzessive verändert sowie Relationen auf- und abbaut. Lineare syntagmatische Reihen werden so in n-dimensionale paradigmatische Verweise umgearbeitet, im "Durchlauf durchs Netz" werden Bahnungen bestätigt, verstärkt oder abgetragen.

Das Datenuniversum hingegen kennt, anders als die Sprache, eine Verdichtung nicht. Die Vorstellung, praktisch unbegrenzte Quantitäten mit Hilfe neuer Zugriffstechniken dennoch beherrschen zu können, lebt von der Utopie, vollständig ohne Verdichtung auszukommen, ja, sie ist ein Gegenmodell der Verdichtung selbst: Das Geäußerte soll nicht untergehen, sondern erhalten bleiben. Im Kern ist dies das Ideal einer Kopräsenz von Gegenwart und Vergangenheit, das die Zeitachse negiert und die Vergangenheit in die Gegenwart mitnimmt. Winkler hält diese Vorstellung für absurd. Das Datenuniversum hat seiner Meinung nach keine Alternative, als seinen Diskurscharakter anzuerkennen und sich als Diskurs zu etablieren. Eine Recherche, die 12’000 Antworten zum Resultat hat, hat nicht Reichtum, sondern weißes Rauschen geliefert. Die Suchalgorithmen laufen an wesentlichen Dokumenten zwangsläufig vorbei, kein Synonymlexikon unterstützt die Filterung und kein Sachlexikon schließt die sachfremden Kontexte aus: den Rechnern fehlt die Sprache. Das gegenwärtige flächige Nebeneinander der heterogensten Informationen lebt von der Utopie, eine Hierarchisierung vermeiden zu können und - ein basisdemokratisches Ideal - peripheren Strukturen gegen die etablierten Strukturen eine Chance geben zu können. Nach Winkler wird sich das Datenuniversum nur retten können, wenn es Mittel findet, Hierarchien in dem neuen Zeichensystem durchsetzen zu können. Seine Prognose ist, dass sich im Datennetz Orte unterschiedlicher Bedeutung herausbilden. Diese werden schließlich das getreue Abbild jenes gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses sein, das der Anfangs-Enthusiasmus glaubte ver-meiden zu können. Allgemein scheinen Zei-chenysteme eine Zyklus zu durchlaufen, der von einer hoffnungsvollen Frühphase in eine stabile, neutralisierte Herrschaftsphase führt, um dann in eine "Desillusionierung" einzumünden, worauf die Mediengeschichte mit einer technischen Innovation antwortet, die ein Neuanlaufen des Zyklus erlaubt.