PhilosophiePhilosophie

INTERVIEW

Ronald Bruzina:
Bruzina, Ronald: Freiheit durch Begrenzung

Ronald Bruzina, Cathrin Nielsen und Rainer Sepp im Gespräch über Eugen Finks Philosophie

Eugen Fink, im Schatten von Husserl und Heidegger, ist bislang wenig beachtet worden. Was hat der frühe Fink von Husserl übernommen, wo hat er sich abgesetzt?

Ronald Bruzina: Was Fink von Husserl übernommen hat? Alles! Mit einer Ausnahme: Fink war gegenüber der Phänomenologie kritisch. Für ihn ist Phänomenologie eine Methode, und unter Methode verstand er etwas anderes als Husserl, nämlich eine kritische transzendentale Methodenlehre. Das findet sich so bei Husserl nicht, für Fink hingegen war dies zentral. Für ihn war diese Methodenlehre die Möglichkeit, die gesamte Phänomenologie unter kritischen Gesichtspunkten neu zu gestalten und weiterzuentwickeln.

Inwiefern ist Fink von Heidegger beeinflusst, inwiefern ist er dessen Weg mitgegangen, und wo ist er einen eigenen Weg gegangen?

Cathrin Nielsen: Insbesondere für den späten Fink wurde der Kunstwerkaufsatz von Heidegger und die dort entwickelte Figur des Ineinanderspiels von Himmel und Erde wichtig. Die Absetzung liegt in einer stärkeren Gewichtung der Dimension der „Erde“, die Fink eigens aufgegriffen und aus einer gewissen Abstraktheit bei Heidegger herausgelöst hat. Die Erdoffenheit vor allem als Offenheit dem Tod gegenüber und der Geschlechtlichkeit gehört für ihn zum Menschen ebenso wie seine Weltoffenheit. Auf dieser Basis war Fink in der Lage, eine eigene Form der Sozialphilosophie zu entwickeln. Der Grundgedanke dabei ist, dass die menschliche Koexistenz nicht nur auf dem gelichteten Miteinander, sondern ebenso auf den dunklen Bezügen der Sterblichkeit und Generativität gründet.

Rainer Sepp: Finks Ansatz unterscheidet sich von dem hermeneutischen Ansatz Heideggers doch sehr. Fink wollte auch nie Hermeneutiker sein und hatte ein ganz anderes Verhältnis zur Sprachlichkeit.

Ist dies auf Husserls Einfluss zurückzuführen?

Rainer Sepp: Fink radikalisiert etwas von Husserl. Wenn Ronald Bruzina gesagt hat, „Er übernimmt alles von Husserl“, könnte man zugleich auch sagen: „Er übernimmt nichts von Husserl“, denn er übernimmt das „Nichts“ von Husserl. Der me-ontologische Ansatz, den Fink ausbildet, ist in gewisser Weise in der phänomenologischen Methode angelegt, aber in radikalisierter Weise. Es handelt sich dabei zugleich um eine Übersteigung des ontologischen Bezuges zur Welt, wie man sie bei Heidegger so nicht findet.

Ronald Bruzina: Heidegger hatte im Unterschied zu Fink keine selbstkritische Methodenlehre. Durch seine Methodenlehre, die Fink dank Husserl entwickelt hatte, konnte er Heidegger kritisieren.

Rainer Sepp: Fink hat 1947 in einer seiner Freiburger Vorlesungen öffentlich Heideggers Sprachphilosophie kritisiert.

Cathrin Nielsen: Bei aller Nähe zwischen den beiden hat Fink Heidegger doch in der Tradition der sogenannten Lichtmetaphysik gelesen. Er akzeptiert Heideggers Anspruch nicht, die Metaphysik überwunden zu haben und einen anderen Anfang vorzubereiten, sondern verortet Heidegger selbst innerhalb dieser Tradition. In Finks eigenem Ansatz ist die abendländische Licht- oder Vernunftmetaphysik, besonders vermittelt durch Nietzsche, auf eine andere Weise gebrochen. Die andersartige Brechung hängt vor allem damit zusammen, dass er dem Geschichtlichen oder der Zeit nicht diese uneingeschränkte Macht zuspricht, wie Heidegger das tut.


Ronald Bruzina: In einem weiteren Punkt, nämlich dem Thema Welt, unterscheidet sich Fink von Heidegger. Bei Heidegger ist Welt etwas, das im Dasein zu erklären ist. Bei Fink ist es umgekehrt: Der Mensch ruht in der Welt, die Welt ist nicht etwas von ihm Abhängiges.

Rainer Sepp: Es gibt bei Fink aber keine Welt an sich. Der Mensch hat einen Bezug zur Welt, aber wir können über die Welt nur in der Weise sprechen, wie der Mensch zu ihr Kontakt hat, wohl wissend, dass die Welt nicht relativ zum Menschen ist; dass die Welt den Menschen übersteigt.

Cathrin Nielsen: Aber dennoch ist der Mensch frei.

Rainer Sepp: Genau, die Freiheit ist nicht genommen. Man könnte ja sagen: Wenn die Welt den Menschen übersteigt, wird der Mensch entmachtet. Wenn er schon bei Heidegger zum Hörer des Seins wird, könnte man denken, bei Fink würde er noch mehr entmündigt werden. Aber das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil sich die Welt entzieht, wird der Mensch wieder in seine eigene Freiheit zurückgebracht.

Worin besteht Finks Alternative zu Heidegger und Husserl?

Cathrin Nielsen: Der Unterschied besteht weniger in einer Alternative als in einer Radikalisierung. Und aus dieser Radikalisierung entspringen alternative Dimensionen, wie die Dimension der Koexistenz mit ihren politischen Implikationen, die eine gewisse Alternative zu Leerstellen bei Heidegger darstellen.

Ronald Bruzina: Bei jeder Antwort bleibt eine Frage. Für Fink ist dies philosophisch gesehen das Interessanteste: dass zwar die Fragen bleiben, aber sich immer wieder anders entwickeln.

Cathrin Nielsen: Das würde aber auch Heidegger für sich beanspruchen.

Wie kann man Finks Ansatz pointiert formulieren?

Cathrin Nielsen: Am interessantesten ist Finks Ausdifferenzierung dessen, was Heidegger „Erde“ genannt hat. Heidegger beschäftigt darin das Moment der Verborgenheit. Dieses ist – hier ist die Interpretation ambivalent – entweder als Gegenpol zur Entborgenheit, der geschichtlich gelichteten Welt, zu verstehen, oder aber als nur formales Element, insofern wir den Gedanken der Verbergung haben müssen, um Entbergung oder Entborgenheit überhaupt in einem emphatischen Sinne denken zu können. In dieser Hinsicht bleiben „Erde“ oder „Verbergung“ aber abstrakt. Fink hat sie durch die zwei zentralen Momente des geschlechtlichen Eros und des Todes abgründig inhaltlich gefüllt. Damit kennt er ein Gegengewicht zu der geschichtlich gelichteten Welt, das nicht nur abstrakt neben uns herläuft, sondern uns unmittelbar betrifft. Zwar nicht in der reflektierten und bewusstseinsmäßigen Form, wie wir dies in der philosophischen Tradition kennen, aber in anderen Formen des Bezuges, auf die wir menschlich immer schon reagieren, die aber in einem hermeneutischen Sinne nicht explizierbar sind.

Rainer Sepp: Tod ist zwar ein Grundthema bei Heidegger, aber er behandelt dieses indirekt, so als wäre es bereits behandelt und würde nun nochmals bespiegelt. Im Spätwerk behandelt er Probleme durch die Brille von Dichtern, auch das ist eine indirekte Behandlung. Fink hingegen behandelt die Probleme selbst. Er betrachtet den Tod selbst. Heidegger dagegen geht von einer Theorie aus und er betrachtet die Theorie und nicht den Tod selbst. Diese Unmittelbarkeit unterscheidet Fink von Heidegger.

Ronald Bruzina: Fink wollte nie Schüler von jemandem sein, er wollte auch kein Nachfolger von Heidegger sein. Er wollte einzig ein Denker sein, der die Fragen aufnimmt. Das war alles, was bei ihm zählte. Und was Husserl und Heidegger sagten, das war für ihn lediglich eine Hilfe dazu.

Was ist der Ansatzpunkt für Finks politische Philosophie?

Rainer Sepp: Seine Weltkonzeption. Fink hat eine Konzeption von Welt begründet, die dem Menschen in eine maximale Freiheit entlässt, sodass er aufgerufen ist, diese Freiheit zu übernehmen und auszufüllen. Für Fink sind Bildung und Politik eng aufeinander verwiesen, da sie demselben Ursprung entstammen. Dieser liegt in dem schlichten Faktum, dass für den Menschen keine konkreten Handlungsziele vorgegeben sind. Er muss sie also immer wieder neu entwerfen, und darin realisiert er seine Freiheit. Je mehr diese Ziele den sozialen und geschichtlichen, aber auch den natürlichen Strukturen der Wirklichkeit angemessen sind, desto gerechter und erfolgversprechender wird sein politisches Handeln sein. Und wenn für Fink der überbordende Staatsapparat eine Folge des Verfalls der Bildungsgüter ist, folgt daraus für ihn nicht eine Restauration älterer Bildungskonzepte, sondern radikaler eine Verständigung über das, wo eigentlich wir nach zweieinhalb Jahrtausenden in Europa angekommen sind.

Cathrin Nielsen: Man kann aber nicht sagen, dass diese Freiheit sozusagen die Freiheit eines zur Freiheit verurteilten Individuums darstellt, durch dessen Entschluss sich erst so etwas wie Welt konstituiert. Vielmehr ist der Mensch oder das Dasein bei Fink wesentlich auch ein antwortendes Dasein und zwar insofern, als der Mensch nicht nur auf die Aufforderung der Freiheit zu reagieren hat, sondern in vielfältiger Weise immer schon Antwortgebender ist, allein schon in der dualen Konzeption von geschichtlicher Welt und erdhafter ‚Welt’. Das macht sich zum Beispiel am Phänomen der Scham fest. Fink würde die Scham nie als etwas bezeichnen, das sich letztlich nur durch die geschichtliche Welt klärt. Deswegen ist man auch nie nur aus der geschichtlichen Konstellation her verantwortlich, man bleibt durch die über- oder vorgeschichtliche Dimension der Erde einem Anspruch verpflichtet, der geschichtlich nicht aufgehoben werden kann. Ich glaube, da steckt auch sehr viel Widerstandspotential gegen geschichtlich eindeutige Welten, etwa gegen das Dritte Reich oder das Zeitalter der Technik. Bei Heidegger hat dies zuletzt totale Züge. Bei Fink zwar auch, aber hier bildet das ‚maßlose Maß’ der Erde zugleich ein wirkliches Gegengewicht. Dies ist geschichtlich nicht aufzuheben und nimmt das menschliche Dasein genauso in Anspruch und begrenzt seine Freiheit

Rainer Sepp: … und ermöglicht sie zugleich. Die Freiheit ist das, was sie ist, nur möglich durch diese Begrenzung. Wir haben zum einen die Geschichte, zum anderen die Natur und ich kann diese nicht so in meine Gewalt bringen, dass ich eine schrankenlose Freiheit hätte. Eine Freiheit muss sich vielmehr an bestimmten Schranken entwickeln.

Wie hat sich Fink zur Zeit des Nationalsozialismus verhalten? Wie war seine Reaktion auf Heideggers Engagement?

Ronald Bruzina: In Finks Notizen findet sich keine Eintragung zu diesem Thema.

Rainer Sepp: Ich glaube, das ist genau seine Haltung: Eine vornehme Verschwiegenheit. Fink hat beim Nationalsozialismus nicht mitgemacht, aber nicht aus politischer Überzeugung, vielmehr war der Nationalsozialismus für ihn ein Angriff auf die Freiheit des Einzelnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Fink als Parteigenosse mit den Nationalsozialisten hätte einlassen können

Ronald Bruzina: .... unmöglich. Fink ist auch verhört worden. Die Universitätsleitung hatte ihm mitgeteilt, wenn er in der Universität Karriere machen wolle, müsse er von Husserl weggehen. Fink hat dies abgelehnt. Er ist bis zum Ende bei Husserl geblieben.

Rainer Sepp: Und dann ging er nach Löwen und wurde später aufgegriffen, von der Gestapo verhört und zum Militär „gepresst“.

Ronald Bruzina: Die Gestapo hatte ihm eine Offizierskarriere angeboten, Fink hat dies mehrmals abgelehnt und hat den Krieg als einfacher Soldat durchgestanden.

Rainer Sepp: Das betrifft auch das Verhältnis zu Heidegger. Als Philosophen hatte Fink Heidegger sehr geschätzt. Aber als Menschen? Zwischen den beiden entstand nie eine wirkliche Freundschaft.

 

Cathrin Nielsen: Fink hat sich aber später für Heidegger eingesetzt.

Ronald Bruzina: Es war aber immer Heidegger, der Fink um Gefallen gebeten hatte. „Könnten Sie nicht vorbeikommen?“, fragte Heidegger jeweils, „wir haben etwas zu diskutieren“. Umgekehrt hat Fink nie Heidegger angerufen.

Cathrin Nielsen: Es besteht aber, wenn man die Stichworte „Erde“ oder „Geschichtlichkeit“ nimmt, durchaus eine gewisse Nähe von Fink zum späten Heidegger. Auch Fink beruft sich nirgends auf den Universalismus der Vernunft oder die Demokratie. Heideggers Philosophie ist deswegen als von Grund auf nationalsozialistisch denunziert worden – dabei ist man von seinem politischen Versagen ausgegangen. Aber auch Fink ist als politischer Denker totgeschwiegen worden – obwohl von politischem Versagen keine Rede sein kann.

Wie ist Finks philosophische Entwicklung verlaufen?

Rainer Sepp: Finks Entwicklung verläuft konsequent, ich kann keinen Bruch sehen. Auf den ersten Blick könnte man zwar sagen, der frühe Fink ist der Phänomenologe, der spätere ist eher spekulativ. Aber das ist sehr plakativ. Fink war bereits bei Husserl ein spekulativer Kopf und hat auch später seinen phänomenologischen Hintergrund beibehalten. Die Grundphänomene des menschlichen Daseins weisen deutlich darauf hin, dass das Phänomenale seinen Stellenwert auch beim späten Fink hat. Es ist irreführend, wenn man Fink von Husserl und Heidegger her projiziert, man muss vielmehr versuchen, ihn von sich aus zu verstehen. Dann sieht man, dass er schon sehr früh, schon mit seiner Dissertation, ein kosmologisches Programm im Blick hatte. Wenn man dann noch die VI. Cartesianische Meditation hinzunimmt, kann man Finks Philosophie im Umriss entwerfen.

Ronald Bruzina: Fink war sehr wichtig, dass die Zuhörer bzw. die Leser seinen Gedanken folgen konnten und er hat einen entsprechenden Schreibstil entwickelt. Nach der Zeit des Nationalsozialismus war ihm wichtig, dass die Deutschen wieder lernten selbständig zu denken und deshalb hat er seine Vorlesungen so vorbereitet, dass darin Fragen gestellt werden. Darin unterscheidet sich Fink von anderen Philosophen und das erklärt auch seine Motivation für die politische Theorie und Pädagogik.

Cathrin Nielsen: Darin liegt auch der Keim für Finks Pädagogik als Lebenslehre.

Was war denn das Besondere an Finks Pädagogik?

Cathrin Nielsen: Das Besondere liegt daran, dass Fink unter Bildung viel mehr als Ausbildung verstand. Es geht bei ihm nie um die reine Vermittlung von Kenntnissen, um konkrete Wege der Organisation des Schulwesens und praktische Handhabung von Wissensinhalten. Vielmehr geht es ihm im philosophischen Sinne darum, über das Wesen der Bildung und das Wesen der Erziehung nachzudenken. Dabei bezieht er die Bildung auf seinen philosophischen Entwurf zurück. Trotzdem – oder vielleicht deswegen? – hat er nie eine wirklichkeitsferne Philosophie vertreten, sondern sich den Ansprüchen der Gegenwart gestellt. Er hat sich nicht nur aktiv in die Bildungspolitik eingemischt, sondern aus den Gegenwartsfragen heraus seine Bildungsphilosophie entfaltet.

Die Teilnehmer am Gespräch:

Cathrin Nielsen und Rainer Sepp geben zusammen die Eugen-Fink-Gesamtausgabe im Alber-Verlag heraus, Ronald Bruzina ist Herausgeber von Finks Nachlass aus dessen Assistentenzeit bei Husserl.