PhilosophiePhilosophie

BERICHT

Henning Ottmann:
Platon, Aristoteles und die neoklassische politische Philosophie der Gegenwart

Der unglücklich gewählte Terminus „normativ“

In den Lehrbüchern der Politikwissenschaft findet man unter den verschiedenen Gegenwartsströmungen der politischen Philosophie eine, die „normativer“ Ansatz oder „normative“ politische Philosophie genannt wird. Unter diesem nicht gerade glücklich gewählten Etikett versammelt man die Wiederbegründer der Politischen Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg: Hannah Arendt, Dolf Sternberger, Eric Voegelin, Leo Strauss sowie die Freiburger und die Münchner Schule. Geistige Verwandtschaften dieser Denker bestehen zu Joachim Ritter und seinen Schülern oder zu den Kommunitaristen in den USA.

Ich spreche im folgenden nicht von einem „normativen“ Ansatz, sondern fasse die genannten Denker unter dem Begriff „neoklassische politische Philosophie“ zusammen. Denn schon der Name „normativ“ ist irreführend. Arendt, Sternberger und Strauss erneuern auf je unterschiedliche Weise die klassische Philosophie der Antike. Diese lässt sich jedoch nicht mit dem Begriff „normativ“ erfassen, ist dieser doch in seiner heutigen Verwendung durch das 19. Jahrhundert geprägt, von der Differenz zwischen Sein und Sollen. Diese findet sich jedoch weder bei den genannten Denkern noch bei ihren Vorbildern, den klassischen Philosophen der Antike. Das Etikett „normativ“ versucht unglücklich zu umschreiben, dass die neo-klassische politische Philosophie in scharfer Frontstellung steht zu einer wertneutralen, an Max Weber orientierten Sozialwissenschaft. Sowohl Voegelin als auch Strauss sehen in Weber einen Wertrelativisten und Wertnihilisten. Eine wertneutrale Sozialwissenschaft verfehlt nach ihrer Meinung die Hauptaufgabe der Politikwissenschaft, nämliche eine Lehre von der guten Verfassung und vom guten Bürger zu sein. Was nützt eine Wissenschaft, die zwischen Diktatur und Demokratie nicht werten will? Sie wird selbst wertlos, ein Instrument, das vielen, ja beliebigen Zwecken dienen kann.

Damit erneuert die neoklassische Philosophie noch einmal die querelle des anciens et des modernes und den Streit um die Frage, ob die Neuzeit der Antike vorzuziehen sei. Viele der Neoklassiker haben für die Antike votiert. Aus der Erfahrung des Totalitarismus heraus, den man der Neuzeit anlastete, wollte man das antike Erbe unserer Kultur erneuern: das Naturrecht (Strauss), die platonisch-aristotelische epistēmē (Voegelin), den Politikbegriff des Aristoteles gegen den des Machiavelli oder des Augustinus (Sternberger), die vita activa gegen die instrumentelle Vernunft und die Technik der Neuzeit (Arendt).

Unterschiede in der klassischen antiken Philosophie

Die Bedürfnisse der Epochen haben die Unterschiede verwischt, die zwischen den Philosophien des Platon und des Aristoteles bestehen. Heute ist es vielleicht eher als früher möglich zu erkennen, dass die politische Philosophie der Klassik zwei Wurzeln hat und dass das politische Denken der Gegenwart zwei große Vorbilder besitzt: Platon und Aristoteles

Innerhalb der politischen Philosophie der Antike lassen sich fünf relevante Differenzen unterscheiden, die sich auch bei ihren modernen Anknüpfern wieder finden:

 -Platonische Kulturrevolution versus aristotelische Anknüpfung an das Bestehende

Platons Politik setzt den Bruch mit der attischen Demokratie und mit der vorherrschenden Bildung voraus. Die Interpreten streiten, was die Politeia eigentlich ist: Handelt es sich um eine Utopie, ein Ideal, ein bloßes Paradigma? Oder hat Platon geglaubt, dass diese Stadt verwirklicht werden kann? So oder so, Platons beste Stadt ist ein philosophisches Gegenbild zum existierenden Athen. Keine Demokratie, sondern eine Herrschaft von Philosophenkönigen.
Platon ist ein Kulturrevolutionär, Aristoteles dagegen ein Philosoph, der wieder die Verbindung sucht zur herrschenden Kultur und zur existierenden Politik. Die Konkurrenz des Philosophen mit den Dichtern wird verabschiedet. Wenn Platon vor allem mit den Dichtern der Tragödie konkurriert und diese aus der idealen Stadt vertreibt, so schreibt Aristoteles der Tragödie eine für die Stadt nützliche Rolle zu. Die Katharsis, welche die Tragödie beim einzelnen bewirkt, ist auch nützlich für die Stadt.

Platon ist ein politischer und kultureller Revolutionär. Was Aristoteles vertritt, kann man mit Joachim Ritter eine „hermeneutisch-hypoleptische“ Philosophie nennen. Hypolepse ist die Anknüpfung an die Rede eines anderen, und Aristoteles knüpft auf vielfache Weise an das schon Bestehende an: an die schon bestehenden Lehren seiner Vorgänger, an die Sprichwörter, an die schon existierenden Verfassungen und an die schon vorliegenden Sitten. Aber Aristoteles intendiert keineswegs eine unkritische Übernahme des Bestehenden. Es geht ihm eher um so etwas wie die Beweislastverteilungsregel Joachim Ritters: Begründen muss, wer verändern, nicht wer bewahren will. Auszugehen ist zunächst einmal von einer Vermutung für die Vernünftigkeit des Bestehenden. Ob sie sich bewahrheitet, steht dahin.

- Einheitsdenken versus Vielheitsdenken

Platon will nur das Eine: die Einheit der Stadt, die Einheit der Idee. Die Einheit ist ihm das höchste Gut, weil die Idee das Eine ist und alle Vielheit auf die Seite des Schlechten gerät. Aufgrund seiner Einheitsliebe denkt Platon die Stadt wie einen einzigen großen Körper, wie eine einzige Großfamilie. Was Platon für die beste Stadt fordert: Kommunismus und Menschenzüchtung, die Auflösung der Familien und die Hochzeitslotterie – alles das sind Resultate seines Einheitsdenkens.

Aristoteles stellt dem Streben nach strenger Einheit den programmatischen Satz entgegen: „eine Vielheit (ist) ihrer Natur nach die Stadt“ (Pol. II, 2). Die Stadt setzt sich nach Aristoteles zusammen aus Menschen verschiedener Art. Diese Verschiedenheit soll politisch nicht aufgelöst werden. Die strenge Einheit der Familie kann kein Vorbild der politischen Bindungen sein. Im Haus herrscht der Hausherr über Unmündige und Unfreie. In der Stadt begegnen sich freie und mündige Bürger. Im Haus wird paternalistisch geherrscht. In der Stadt regieren sich die Bürger selbst. Haus und Stadt sind so geschieden wie Paternalismus und Selbstregierung oder wie Paternalismus und Republik.
Die aristotelische Unterscheidung von Haus und Stadt, von Oikos und Polis ist bedeutsam geworden für Locke und für Kant. In unserem Jahrhundert sind vor allem Hannah Arendt und Dolf Sternberger der aristotelischen Kritik an Platons Einheitsstaat gefolgt. Sternberger und Arendt haben die Pluralität zu einer fundamentalen Kategorie des Politischen gemacht. Politik hat mit der Vielzahl der Meinungen und Lebensformen zu tun, und weil keine von diesen als die einzig wahre gelten kann, besteht Politik im Miteinander-Reden, im Miteinander-Beraten und im Miteinander-Entscheiden der Bürgerschaft. Der Politiker ist kein Hausherr und kein Landesvater. Ökonomie und Politik muss man voneinander trennen. Nach Hannah Arendt gehören Arbeiten und Herstellen zur Notdurft des Lebens, zur Schaffung des Lebensnotwendigen. Im Reich dieser Notwendigkeit kann der Mensch nur begegnen als homo faber oder als Konsument, jedenfalls reduziert auf das Exemplar der Gattung oder den Funktionär der Technik. Hier herrscht immer nur Vermittlung und kein Zweck, und für Hannah Arendt lag das Reich der Freiheit jenseits der Sphäre der Lebensnotwendigkeit, jenseits von Oikos und Ökonomie.

- Expertokratie versus Bürgerpolitik.

Platons Begriff von Politik ist expertokratisch. Die Idiopragie (dass jeder das Seine tut; dass jeder das tut, was er am besten tun kann) führt zu einer fundamentalen Spezialisierung. Das entscheidende politische Wissen ist exklusiv; es steht nur wenigen offen. Im idealen Staat bilden sich die Stände der Nur-Ernährer, der Nur-Wächter, der Nur-Philosophen als spezialisierte Stände heraus. Jeder versteht sich auf seine Techne, auf seine Kunst. Politik ist die Kunst eines Sachverständigen, eines Experten, der weiß, was ein Laie nicht wissen kann. Wo ein solches sachverständiges Wissen von der Politik angesetzt wird, da ist die Forderung unausweichlich, dass die Experten regieren sollen.
Idiopraxie und Techne führen bei Platon zur Herrschaft der Experten.

Aristoteles dagegen hat ein bürgerpolitisches Modell von Politik. Den Vergleich des Politikers mit dem Fachmann hat Aristoteles zurückgewiesen. Kapitel 11 des 3. Buches seiner Politik enthält die berühmte „Summierungstheorie“: Die Summierung der vielen Urteile der Bürger ist demnach „besser oder doch nicht schlechter“ als das Urteil der Fachleute. Wer eine Kunst nicht selber ausüben kann, ist gleichwohl kompetent genug, ihre Produkte beurteilen zu können. (Das ist, wenn man so sagen darf, das Reich-Ranicki-Phänomen.) Nach Aristoteles beurteilt ein Haus nicht der Architekt, sondern der Bewohner. Ein Mahl beurteilt nicht der Koch, sondern der Gast.
Politik ist bei Aristoteles das, was im Prinzip jeder kann; Bürgerpolitik besteht in der Teilhabe an Volks- und Gerichtsversammlung, in Herrschaft auf Zeit, im Ausgleich zwischen arm und reich.

Bei Platon ist Politik, was nur wenige können. Politisches Wissen ist Fachwissen, und in dieser Auffassung von politischem Wissen liegt einer der Schlüssel von Platons Gegnerschaft gegen die Demokratie. Es ist die Empörung darüber, dass ansonsten immer das Urteil der Fachleute gesucht wird – bei Krankheit das Urteil der Ärzte, beim Hausbau das der Architekten –, dass aber in der Volksversammlung, wie Sokrates im Protagoras entrüstet vorbringt: „jeder aufstehen und seinen Rat erteilen (darf): Zimmermann, Schmied, Schuster, Krämer, Schiffsherr, Reiche, Arme, Vornehme, Geringe“ (319 d). In der Demokratie darf jeder mitreden, ob er etwas von der Sache versteht oder nicht. Das ist für Platon eines der Ärgernisse der Demokratie.

Expertokratie versus Bürgerpolitik – dahinter verbergen sich bei Platon und Aristoteles grundlegend verschiedene Auffassungen von politischer Redekunst und von Rhetorik überhaupt. Platon, obwohl er selber zweifelsohne ein Meister der Rhetorik ist, reiht diese zusammen mit der Sophistik bei den bloßen Schmeichelkünsten ein. Rhetorik ist bei Platon eine bloße Geschicklichkeit, die ohne Wissen um Ursachen und Gründe nur auf das Angenehme und auf die Wirkung zielt. Bei Aristoteles ist die Rhetorik von ganz anderer Bedeutung als bei Platon. Aristoteles hat die Rhetorik rehabilitiert. Schon ihre Großeinteilung – beratende Rede, Gerichtsrede, Festrede – verrät die Nachbarschaft zu den Institutionen der attischen Demokratie, zu Volksversammlung und Gerichtsversammlung. Das Zu- und Abraten, das Anklagen und Verteidigen, das Loben und Tadeln – alles weist auf die Polis, ihren Nutzen, ihre Gerechtigkeit, ihr Kalon.

- Politik mit Metaphysik und Politik ohne

Es gehört zu den fundamentalen Unterschieden der politischen Philosophie des Platon und des Aristoteles, dass Platon seine Politik unmittelbar auf Metaphysik gegründet hat, Aristoteles jedoch nicht. Von einer Metaphysik der Politik lässt sich nur bei Platon sprechen. Auch ein Begriff wie „Politische Theorie“ ist nur bei Platon möglich, nicht bei Aristoteles. Die Politeia führt die Philosophen, die herrschen sollen, bis zur Idee des Guten; das Höhlengleichnis, das den Aufstieg zur Idee des Guten darstellt, ist der Höhepunkt des Werkes; die Nomoi sind Theologie; sie beginnen mit dem Wort Theos, und sie enden mit schärfsten Asebie-Gesetzen gegen „Atheisten, Deisten und Magiker“.

Bei Aristoteles beginnen sowohl die Nikomachische Ethik als auch die Politik ohne Theologie und ohne Metaphysik. Sie beginnen bei der Natur des Menschen, beim anthropinon agathon, beim „menschlich Guten“, bei dem, was der Mensch durch sein eigenes Handeln bewirken und erreichen kann. Die Metaphysik gilt Aristoteles als Bereich des Ewigen und Unveränderbaren, das in keiner direkten Beziehung zur menschlichen Praxis steht. Für die Praxis, für Ethik und Politik, braucht man nach Aristoteles nicht Metaphysik, sondern Erfahrung und Klugheit, man braucht nicht Metaphysik, sondern praktische Philosophie.

Das „theoretische Leben“ ist bei Aristoteles – daran besteht kein Zweifel – die höchste Lebensform, und es ist die höchste Form von Glück. Im kontemplativen Leben versucht der Mensch das Göttliche nachzuahmen, so wie das Kreisen der Sterne oder die Fortpflanzung der Lebewesen eine Nachahmung des Göttlichen ist (Gen. an II, 1, 731 b 31 – 732 a 1). Die Philosophen des Aristoteles, welche die vita contemplativa leben, sind keine Philosophenkönige. Auch sollen die Bürger des Aristoteles keine Philosophen sein. Das theoretische Leben ist überpolitisch, um nicht zu sagen a-politisch. Die Sophia, die Weisheit der Theorie, trägt zum Glück des Menschen, der nicht Philosoph ist, nichts bei (NE VI, 13).

Der Gott des Aristoteles hat mit dem Gott der platonischen Philosophie nur noch wenig gemein. Er ist eher ein kosmologisches Prinzip der Bewegung als ein Gott der Epimeleia. Er ist ein Gott ohne Allmacht, ohne Güte, ohne providentia, ein rein auf sich selber bezogener – sit venia verbo – „deistischer“ Gott. Welche Begründungsfunktion sollte er für die Praxis des Menschen haben, auf die er selbst gar nicht bezogen ist?

- Einheit von Theorie und Praxis versus eigenständige praktische Philosophie.

Bei Platon fallen Theorie und Praxis unmittelbar in eins. Das theoretische Leben der Philosophen ist zugleich das praktische und politische Leben. Was für die Schule gilt, gilt ebenso für die ideale Stadt. Bei Aristoteles dagegen werden theoretisches und politisches Leben, vita activa und vita contemplativa, getrennt. Was für die Schule gilt, das theoretische Leben, gilt nicht für die Stadt. Vielmehr bilden Politik und Ethik einen eigenen Bereich der Praxis und der praktischen Philosophie.

Bei Aristoteles ist die Theorie von der Praxis durch mindestens drei Unterschiede getrennt. Da ist erstens ein unterschiedliches Ziel. Ziel der praktischen Philosophie ist Handeln, Ziel der Theorie Erkenntnis (NE I, 1). Politik und Ethik werden nicht betrieben, bloß um etwas über sie zu wissen; man will sich vielmehr im Handeln und für das Handeln orientieren. Sinn von Ethik und Politik ist, dass man besser handeln kann.
Da ist zweitens ein Unterschied in der Genauigkeit des Wissens. Die Theorie handelt vom Ewigen und Unveränderlichen, von dem strenges Wissen möglich ist. Die praktische Philosophie hat es mit dem Bereich des Veränderbaren zu tun, in dem es nur Regeln, relative Allgemeinheiten, Präzedentien und Ähnliches gibt. Hier gilt das „meist so, aber auch anders“ (NE I, 1, 1094 b 21). Theoretische Exaktheit gibt es nicht. Diese darf man im Praktischen nach Aristoteles nicht erwarten, was nicht ein Mangel des Praktischen ist, sondern eben seine Eigenart (NE I, 1, 1094 b 14).
Und da ist drittens der Unterschied zwischen erfahrungstranszendentem theoretischem Wissen und erfahrungsgeleiteter Klugheit. Die Klugheit, die bei Aristoteles das praktische Wissen ausmacht, setzt Erfahrung und eine hermeneutische Vermittlung von Regel und Einzelfall voraus. Sie ist keine logische Subsumtion, sondern ein Wissen, das Takt und Fingerspitzengefühl verlangt. Klugheit ist keine Gerissenheit, keine Verschlagenheit. Sie ist ein sittliches Wissen, worum es in einer Lebensführung geht, und wie man, wenn man weiß, was man will, die einzelnen Handlungen auf das Ganze eines Lebensentwurfes beziehen kann.

Die neoklassische politische Philosophie

Diese Unterschiede zwischen Platon und Aristoteles finden sich in der neoklassischen politischen Philosophie wieder: Neben Neo-Platoniker finden sich Neo-Aristoteliker. und in aller Regel sind diese durch unterschiedliche Stellungnahmen zur Modernität geprägt. Die Neo-Aristoteliker sind in aller Regel modernitätsfreundlich, die Neo-Platoniker nicht. Neben Neo-Platonikern wie Eric Voegelin und Leo Strauss finden sich jene, die mehr zu Aristoteles neigen: Arendt, Sternberger, Ritter, bei den Kommunitaristen von heute MacIntyre oder Martha Nussbaum. Die beiden Strömungen neo-klassischen Denkens stehen unterschiedlich zur Neuzeit und zur Modernität. Das ist zunächst verwunderlich. Denn die alteuropäische Gesellschaft, deren „Normalphilosophie“ der Aristotelismus war, ist durch die bürgerliche Gesellschaft abgelöst worden. Manche Voraussetzung der Aristotelischen Politik passt modernen Zeiten nicht mehr, wie überhaupt der ganze moderne Individualismus den Philosophen der Antike noch unbekannt war.

Neo-Aristoteliker

Aber trotz dieser Veränderungen ist das Denken des Aristoteles erstaunlich aktuell geblieben. Gadamer spricht in Wahrheit und Methode von der „hermeneutischen Aktualität des Aristoteles“. Sternberger deutet den Verfassungsstaat mithilfe der Aristotelischen Politie. Als die SPD ihr hundertjähriges Jubiläum feierte, verblüffte Sternberger die Festversammlung mit einem Vortrag über die aristotelische „Staatsfreundschaft“. Er empfahl die aristotelische Freundschaftslehre, die man vielleicht besser mit dem Begriff „Bürgerfreundschaft“ umschreibt. Hannah Arendt erneuert mithilfe von Aristoteles die Unterscheidung von Praxis und Poesis und gibt damit Jürgen Habermas das Stichwort für die Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, strategischem und kommunikativem Handeln.

Bei aller Kritik, die auch Neo-Aristoteliker an neuzeitlichen Entwicklungen üben, sind sie in der Regel Modernitätskonservative. Hier sind vor allem Joachim Ritter und seine Schüler (wie Marquard oder Lübbe) zu nennen, die Aristoteles mit Hegel verbinden. Es geht ihnen nicht darum, die Moderne zu verabschieden, man will diese vielmehr stützen durch das, was dieser fehlt und was ihr durch eine Erneuerung antiker Einsichten wieder verschafft werden kann.

In der politischen Philosophie Amerikas macht seit einigen Jahren eine Reihe von politischen Philosophen von sich reden, die man wegen ihrer gemeinschaftsorientierten Philosophie die communitarians“genannt hat. Dazu gehören neben anderen Benjamin Barber, Robert N. Bellah, Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre, Martha Nussbaum, Michael Sandel, Charles Taylor und Michael Walzer. Diese Kommunitaristen greifen auf Rousseau und Tocqueville, auf Hegel und auf Aristoteles zurück, und insbesondere bei Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum wird für eine Rückkehr zu Aristoteles plädiert. Darüber hinaus sind im Kommunitarismus als ganzem aristotelisierende Tendenzen zu bemerken: eine Abkehr vom Individualismus, eine Frontstellung gegen Verfahrensethiken wie die Diskurs- und Kommunikationsethik von Apel und Habermas, eine Kritik am Universalismus, eine Hinwendung statt dessen zu den lokalen Gemeinschaften und zum Gemeinsinn der Bürger, eine Hinwendung zu einer Ethik des guten Lebens, die der Orientierung an formaler Gerechtigkeit übergeordnet wird.

Höffes Aristoteles-Deutung


Ob Kommunitaristen sich heute mit Recht auf Aristoteles berufen, ist inzwischen allerdings auch Gegenstand des Streits. Der Philosoph Otfried Höffe hat den Kommunitaristen das Recht abgesprochen, Aristoteles als einen ihrer Ahnherren zu betrachten. Aristoteles ist nach der Deutung von Otfried Höffe gerade das, was die Kommunitaristen verwerfen: ein „Universalist“. Die kommunitaristische Hervorhebung der Lebensformen und der partikularen Gemeinschaften sei eine Verwechslung der Lernbedingungen der Gerechtigkeit mit deren (immer gültigem) Gehalt. Nicht die Moral selbst sei „partikular, sondern nur ihre Aneignung“. Die politische Philosophie des Aristoteles erhebe „Geltungsansprüche für jede Polis“ und die Lehren des Aristoteles gälten für „jeden Menschen jedweder Kultur und Epoche“, so etwa die Lehre von der Eudaimonie, von der Gerechtigkeit, von der spezifischen Leistung des Menschen (seiner Vernunft) und von den Tugenden wie der Tapferkeit. Der Kommunitarismus hingegen habe Schwierigkeiten mit dem „gemeinsamen Moralerbe der Menschheit“.

Höffes Kritik ist zu verstehen als eine Reaktion auf Überspitzungen des Neo-Aristo-telismus, wie sie etwa für den Denkstil Mac-Intyres kennzeichnend sind. MacIntyre bringt Aristoteles in einen schroffen Gegensatz zur Aufklärung, eine Frontstellung, die man mit Höffe als eine Überzeichnung verwerfen kann. Aristoteles war kein Traditionalist, der Traditionen und Üblichkeiten schon durch ihr bloßes Bestehen für gerechtfertigt gehalten hätte. Das sittliche Handeln ist bei Aristoteles immer schon reflektiert, und es ist Sache der eigenen bewussten Entscheidung, der Prohairesis.

Auf der anderen Seite verdankt sich Höffes scharfe Kritik einer nicht weniger radikalen Leseweise des Aristoteles. Sie hat ihre Hindergründe in einer Verschmelzung von aristotelischer und kantischer Ethik. Diese gelten Höffe nicht wie sonst üblich als eine Alternative, sondern als miteinander verwandte Formen von Ethik. Das ist erstaunlich, denkt man an den Apriorismus hier und die Erfahrungsorientierung dort, und das ist erstaunlich, sieht man die unterschiedlichen Lehren vom Glück oder die je andere Auffassung der empirischen Motive des sittlichen Handelns. Können denn eine antike Glücksethik und eine neuzeitliche Autonomie- und Pflichtethik miteinander verträglich sein?

Aristoteles verteidigt nicht, was zeitgemäß naheläge, den Universalismus des Alexanderschen Weltreiches. Seine politische Philosophie bleibt nicht zufällig, sondern bewusst bei der Polis als der letzten politischen Einheit stehen. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Griechen und Barbaren, wie sie Alexander durch seine Politik der Homonoia betrieb, wird von Aristoteles verworfen. Bei ihm bleibt die alte Entgegensetzung von Asien und Griechenland, von Despotie und Freiheit erhalten (Pol. VII, 7). Aristoteles’ Beharren auf der Polis als der besten Größe der politischen Gemeinschaft hat mit grundsätzlichen Überlegungen über das Maß politischer Einheiten zu tun. Eine Stadt muss nach Aristoteles so groß sein, dass Autarkie möglich wird. Sie darf aber nicht so groß werden, dass die Bürger einander nicht mehr kennen würden und sich „blindlings“ in die Ämter wählen müssten (Pol. VII, 4).

Ähnlich steht es bei Aristoteles um den Begriff des Menschen. Auch diesem fehlt bei Aristoteles noch die universalistische Weite. Bei Aristoteles ist der „Mensch“ immer konkret, das heißt, er ist Mann – Frau, Herr – Sklave, Kind – Elternteil, Grieche –Barbar.
Die Abstraktion zu dem einen unterschiedslos bloß Mensch seienden Menschen wird nicht vollzogen, so wie es dementsprechend bei Aristoteles auch keine Menschenrechte gibt. Hier ist insbesondere die Rechtfertigung der Sklaverei „von Natur aus“ von Bedeutung. Sie wird ja versucht in Gegnerschaft gegen die damals auch schon vertretenen Theorien von der Gleichheit der Menschen von Natur.
Höffe gelangt zur Einschätzung der Ethik des Aristoteles als eine dem Prinzipienuniversalismus analoge Ethik“, weil er die Ethik des Aristoteles theoretisiert, sie nicht so sehr vom Ethos und der lebensweltlich schon gelebten Klugheit als vielmehr von der „emanzipierenden“ Reflexion auf diese liest, wobei diese Reflexion noch bis zu einer Metareflexion vom Wissen des Wissens gesteigert wird. Für Höffe wird die Verbindung der universalen Prinzipien mit der Praxis zu einem bloßen Anwendungsproblem. Aber Aristoteles kennt kein starres Schema von schon feststehender Allgemeinheit und nur noch subsumtionslogisch einzuordnendem oder deduktiv abzuleitendem Einzelfall.

Einer universalistischen Deutung der aristotelischen Ethik widerspricht schließlich die aristotelische Lehre von Gerechtigkeit und Freundschaft. Wie die Kommunitaristen der Gerechtigkeit eine Ethik des guten Lebens überordnen, so ist bei Aristoteles die Freundschaft ranghöher als die Gerechtigkeit (NE VIII, 1), weil sie das der „Eintracht“ vergleichbare eigentliche Band zwischen den Bürgern ist und weil Freunde das gerechte Handeln überbieten. „Sind die Bürger einander freund, so ist kein Rechtsschutz nötig, sind sie aber gerecht, so brauchen sie außerdem noch die Freundschaft …“ (NE VIII, 1).

Aristoteles und der Kommunitarismus – das Thema verlangt eine Befreiung von der falschen Antithese Traditionalismus und Antiaufklärung hier, Aufklärung und Universalismus dort. Es hat einer jahrhundertelangen Entwicklung bedurft, bis in der Neuzeit der Universalismus der Moral und der Menschenrechte zutage getreten ist. Noch für die Stoa oder das Christentum waren die Gleichheit der Menschen von Natur oder die Gleichheit der Seelen vor Gott mit den Unterschieden der Klassen und den Privilegien einzelner Stände in dieser Welt durchaus vereinbar gewesen. Im Grunde haben erst die großen Revolutionen wie die Französische und die Amerikanische dem Universalismus auch in der politischen Realität Geltung verschafft.
Heute steht das politische Denken vor der Aufgabe, die falsche Alternative von Universalismus und Ethik des guten Lebens zu überwinden. Den Universalismus alleine zu preisen, hieße, die Dominanz des Allgemeinen über die schönen Differenzen zu rechtfertigen, aus denen die Lebensformen der Einzelnen und der Völker bestehen. Nur von den verschiedenen Lebensformen und vom guten Leben zu sprechen, ginge an der auch universalen Dimension von Recht und Moral vorbei. Man kann von einem Vater nicht verlangen, alle Kinder dieser Welt so wie die eigenen zu lieben. Aber man kann ebensowenig fordern, dass Recht und Moral nur gelten sollen für Freunde, Verwandte und Bürger, mit denen man in einer Gemeinschaft lebt. In der Moderne lebt man im Zwiespalt und, wenn man Glück hat, im Kompromiss, den man zwischen universeller Moral und konkreter Sittlichkeit zu schließen hat.

Neo-Platoniker

Neo-Platoniker stehen der Moderne kritisch, ja feindlich gegenüber. Eric Voegelin verwirft die Neuzeit als gnostische Selbstüberhebung des Menschen. Leo Strauss wirft der Neuzeit vor, das Naturrecht durch Historismus und Positivismus vernichtet zu haben. Der Neo-Platonismus kann in der Gefahr schweben, ein radikaler Antimodernismus zu werden. Nachdem schon Platon die Wissenden von den bloß Meinenden unterscheidet und er nur einer Elite die richtige politische Erkenntnis zutraut, besteht auch bei den Neo-Platonikern die Gefahr eines Elitismus, besonders deutlich bei Leo Strauss. Strauss knüpft an die platonische Unterscheidung von esoterischem und exoterischem Wissen an, ja man hat den Eindruck, dass er sich sogar des Instruments der „edlen Lüge“ bedienen will. Wenn die Menge das Richtige schon nicht verstehen kann, muss sie durch gutgemeinte Lügen zum Richtigen geführt werden. (Anlässlich des Irak-Krieges und der Lüge von den Massenvernichtungswaffen wurde darüber diskutiert, ob man die Straussianer in der US-Administration für diese Täuschung der Öffentlichkeit verantwortlich machen kann.)

Es ist nicht nur der anti-demokratische Zug der platonischen Philosophie, der ihre Aktualisierung erschwert. Es ist auch ihre metaphysische und theologische Verankerung. Vor allem in den Nomoi hat Platon eine auf Theologie gegründete Ordnung entworfen. Sie lässt für Abweichungen von der Orthodoxie keinen Raum. Trotz ihrer Gründung auf Gesetze ist auch die Ordnung der Nomoi eine, die auf Einheit und nicht auf Pluralismus zielt.

Platons Grundfragen sind Fragen der politischen Philosophie geblieben. Was ist die beste Stadt? Was ist die gerechte Ordnung? Solche Fragen sind der Stoff, aus dem die Utopien geboren werden und aus dem sich der Wille zur Verbesserung der Verhältnisse speist. Man sagt heute gerne, das Zeitalter der Utopien sei zu Ende. Aber warum sollte es zu Ende sein? Die Menschheit lässt sich das Träumen nicht verbieten, auch nicht in der Politik. Und alle Versuche, den Platonismus „umzukehren“, wie sie Nietzsche oder die Postmoderne unternahmen, haben sich nicht von Platon lösen können. Wer ihn „umkehrt“, verbleibt mit umgekehrten Vorzeichen noch im Banne seiner Metaphysik.

Während des Zweiten Weltkrieges hat Popper den Versuch unternommen, ein für allemal mit Platon aufzuräumen und hat ihn als Vorläufer des Totalitarismus zu brandmarken versucht. Aber was immer Popper gegen Platon vorbringt, geht an Platon vorbei. Platons Staat ist kein „Klassenstaat“ und kein „Kastensystem“, dient nicht der Ausbeutung und soll auch nicht mit Gewalt errichtet werden. Er kennt weder Terror noch Massenparteien und Ideologien: Popper hat auf Kosten Platons Propaganda gemacht.

Nach Popper besteht die Grundfrage der Politik darin, ob Personen oder Verfahren herrschen sollen. Platons Fehler sei es gewesen zu fragen: „Wer soll regieren?“. Dabei müsse die Frage lauten: „Wie könnten wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten und inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?“ („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 6. Auflage, S. 170). So Die berechtigt die Frage ist als Alternative ist sie falsch gestellt. Die Demokratie braucht beides: Personen und Verfahren.

Wozu neo-klassische Philosophie?

Die liberale Gesellschaft mit ihren Vertragstheorien, mit ihrem Pochen auf den Rechten des Einzelnen, mit ihrer Atomisierung des Individuen, mit ihrem Utilitarismus und Eudaimonismus erzeugt aus sich selbst den Bedarf nach einem Korrektiv. Dies liefern ihr Philosophien, die den Liberalismus nicht aufheben, sondern korrigieren und ergänzen.
Sie verweisen ihn auf das, was er aus eigener Kraft nicht hat: Gemeinschaftsdenken, Solidarität, Maßstäbe einer nicht bloß utilitaristischen Gerechtigkeit, Vorzüge des praktischen Lebens vor instrumenteller Vernunft. Auf dem einen Bein der liberalen Freiheiten allein kann man nicht stehen. Eine gelingende Moderne braucht beides: die moderne Freiheit und die Erinnerung an das antike Erbe unserer Kultur.
Das politische Denken der Neuzeit hat sich von Platon und Aristoteles zugleich entfernt. Dadurch rückten beide Philosophen noch einmal näher zusammen. Die Alten standen nun gegen die Modernen, so als ob es nur eine Antike und nur ein politisches Denken der Antike gegeben hätte. Die neuzeitliche Emanzipation der Politik von der Moral, wie sie Machiavelli vollzieht, ist beiden Klassikern fremd. Dass das Hauptinteresse das Überleben und das angenehme Leben sein soll, wie es Hobbes behauptet, lehnen sie beide im Namen des guten Lebens ab. Statt beim Individuum, wie Hobbes, Locke oder Rousseau, setzen sie bei der Gemeinschaft an. Anders als Hobbes, Locke, Rousseau, Kant oder Fichte ist ihnen die Gemeinschaft kein Vertrag. Die querelle des anciens et des modernes erweckt den Eindruck, dass Platon und Aristoteles auf engste zusammengehören, vereint gegen Tendenzen der neuzeitlichen Philosophie stehen.

Die Bedürfnisse der Epochen haben die Unterschiede verwischt, die zwischen den Philosophien des Platon und des Aristoteles bestehen. Heute ist es vielleicht eher als früher möglich zu erkennen, dass die politische Philosophie der Klassik zwei Wurzeln hat und dass das politische Denken der Gegenwart zwei große Vorbilder besitzt.

UNSER AUTOR:

Henning Ottmann ist Professor für Politische Philosophie an der Universität München.
Der Autor behandelt das Thema ausführlicher in: Ottmann, H., Platon, Aristoteles und die neoklassische Philosophie der Gegenwart. 47 S., kt., 2005, € 18.—, Nomos, Baden-Baden.

Von ihm ist weiter zum Thema erschienen:
Geschichte des politischen Denkens.
Band 1: Die Griechen.
Teilband 1: Von Homer bis Sokrates. XVI, 276 S., kt. € 19.90
Teilband 2: Von Platon bis zum Hellenismus. XII, 322 S., kt., € 19.90, J.B. Metzler, Stuttgart.