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BERICHT

Matthias Kaufmann:
Toleranz, Integration und Gruppenrechte

Probleme mit Toleranz und Integration

Der Begriff der Toleranz genießt in der niederländischen Öffentlichkeit derzeit keinen guten Ruf. Nachdem man für Jahrhunderte die Toleranz geradezu als Kennzeichen der eigenen politischen und kulturellen Tradition ansah, zu Recht nicht ohne Stolz darauf verwies, dass bereits einige der großen philosophischen Werke des 17. Jahrhunderts wohl nur in Amsterdam erscheinen konnten, regt sich zunehmend Widerstand gegen eine „Kultur der Toleranz“. Man identifiziert sie, so Theo de Wit, mit einer verfehlten, weil inkonsistenten Einwanderungspolitik, die Scharen von Jugendlichen ohne nennenswerte Kenntnisse des Holländischen, ohne Schulausbildung und ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt hinterlasse, verbunden mit einer Indifferenz gegenüber den kulturellen und religiösen Differenzen zwischen ethnischen Gruppen, religiösen, postreligiösen und antireligiösen Verbindlichkeiten, die gemeinsam das Flickwerk der holländischen Gesellschaft ausmachen.

Man mag hier zu der Ansicht verleitet werden, es komme darauf an, das rechte Verständnis für die angemessene Differenzierung des Begriffs „Toleranz“ und für die Grenzen der Toleranz in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Zumindest die sozialen Gegensätze wie auch die sprachliche und schulische Eingliederung ließen sich durch angemessene Integrationsmaßnahmen unter Kontrolle bringen. Mit dem Verschwinden der Ausgrenzung und mit der Eingliederung in die niederländische Gesellschaft werde auch die soziale Spannung zurückgehen.

Interessanterweise finden sich indessen gerade in Frankreich mit seiner starken republikanischen Tradition seit längerem Tendenzen zur „Überwindung des Konzeptes der Integration“, welches zu einem Mythos geworden sei. Laut Michel Wieviorka krankt es daran „Ziel, Projekt und Verpflichtung zugleich“ sein zu müssen. „Mit dem Begriff ‚Integration’ assoziiert man eine kulturell einheitliche und zugleich pluralistische Gesellschaft. Man geht davon aus, dass diese beiden Eigenschaften, obwohl sie Gegensätze sind, sich harmonisch vereinbaren lassen.“ Der grundlegende Gedanke republikanischer Gleichheit für alle wird zur Ausschlussfalle, da sich einige Immigranten gerade dadurch diskriminiert fühlen, dass man sie nicht in ihrer kulturellen Besonderheit berücksichtigt und achtet, und der alte, derartige Differenzen überdeckende Gegensatz von Arbeiterschaft und Arbeitgebern nach dem Ende des Industriezeitalters an Bedeutung verliert. „Der logische Fehler im französischen republikanischen Integrationskonzept“ liegt nach dieser Auffassung darin, dass „eine Zwangsnivellierung der Kulturtraditionen zugunsten einer konstruierten ethnischen nationalen Kultur“ mitunter in der nun einmal nicht kulturell homogenen sozialen Wirklichkeit zu einer de facto-Diskriminierung bestimmter Gruppen werde. Im religiösen Kontext sei davon gegenwärtig der Islam betroffen. Entgegen der verbreiteten Tendenz, insbesondere die Jugendlichen der zweiten Immigrantengeneration in die Rolle der „gefährlichen Klasse“ zu drängen, konstatiert man zumindest auch ein Versagen der traditionellen Institutionen bei der Umstellung auf die veränderte soziale Situation. Trotz ihrer französischen Staatsbürgerschaft erleben sich viele dieser Jugendlichen durch den Umgang mit ihnen nicht als Franzosen, und die „Schule ist offensichtlich nicht in der Lage, den Immigrantenkindern dabei zu helfen, den Gegensatz zwischen Schule und den in der Familie bzw. im Wohnviertel alltäglich erlebten Erfahrungen psychisch zu verarbeiten.“

Während man also in den Niederlanden, gewissermaßen aus Sicht der Alteingesessenen, an der „Kultur der Toleranz“ die Permissivität und Indifferenz kritisiert, die für sozialen Sprengstoff sorge und Phänomene wie den Erfolg eines Pim Fortuyn erst ermögliche, geben die französischen Beiträge zu bedenken, dass eine auf angeblich gleicher individueller Toleranz basierende, forcierte Integration aus der Perspektive verschiedener Immigrantengruppen gerade als Nichtachtung gegenüber ihrer kulturellen Besonderheit erfahren wird. Die beobachtbare ethnische und religiöse Intoleranz innerhalb derartiger Gruppen lässt sich nach mancher Ansicht auch auf diese Erfahrung vermeintlicher oder tatsächlicher Nichtachtung zurückführen. Es gibt demnach auf beiden Seiten einige Parameter zu berücksichtigen, um weder einer rücksichtslosen Form des Universalismus noch einer gleichgültigen Variante des kulturellen Relativismus anheim zu fallen.

Formen der Toleranz, Weisen der Integration

Mit der in der politischen Wirklichkeit mitunter aggressiv vorgetragenen Forderung: „Die sollen sich integrieren!“ kann von der Ermahnung zur Achtung der Gesetze des Aufnahmelandes durch vorübergehend anwesende Arbeitskräfte, Flüchtlinge oder Einwanderer bis zum Ansinnen völliger kultureller Assimilation sehr Unterschiedliches gemeint sein. Die Achtung vor dem Gesetz halten wir für im Wesentlichen unverzichtbar. Bereits bei der Herausbildung der modernen Staaten wurde dies derart ernst genommen, dass nach John Locke die Toleranz, für die er so nachhaltig stritt, nicht für Katholiken und Atheisten galt, weil deren Loyalität gegenüber dem Staatsoberhaupt nicht gesichert sei. An dieser Stelle gibt es keine ernsthaften Kompromissmöglichkeiten. Wer glaubt, aus religiösen oder aus moralischen Gründen gegen das Gesetz verstoßen zu müssen, hat auch die rechtliche Strafe auf sich zu nehmen. Natürlich kann sie oder er dies mit der Absicht tun, durch zivilen Ungehorsam die rechtliche Lage der Immigranten oder einer bestimmten Gruppe durch eine Gesetzesänderung zu verbessern.

Hingegen gibt es gegenüber Migrantengruppen wie gegenüber anderen, bereits ansässigen Minderheiten gute Gründe, deren Wunsch nach Wahrung der eigenen Kultur und die Sorge vor kulturellem Identitätsverlust ernst zu nehmen, nicht darauf zu drängen, dass nach ein bis zwei Generationen der Unterschied allein in der Herkunft der Namen, etwa Sarkozy oder Piccoli in Frankreich, Abramczik oder Özdemir in Deutschland liegt. Solche Rücksichtnahme auf konkret festzustellende, wenngleich vielleicht nicht wünschenswerte Befindlichkeiten liegt durchaus im Interesse des Gemeinwohls: Verunsicherte junge Menschen, besonders solche mit wie auch immer entstandenen kulturellen Inferioritätsgefühlen, sind seit jeher leicht zu von Verblendung begleiteten, übersteigerten Gegenreaktionen zu verleiten, die sogar mit der Lust an der Selbstaufopferung verbunden sein können. Derartiges reicht von den diversen Befreiungskriegen bis zur aktiven Sympathie für den islamistischen Terrorismus bei vereinzelten türkischen oder nordafrikanischen Jugendlichen. Bei allen Unterschieden besteht eine Gemeinsamkeit darin, dass in bestimmten sozialen Konstellationen bei einem erheblichen Teil der Jugend eine auch durch Furcht und Repression nicht mehr oder nur noch unzulänglich kontrollierbare Gewaltbereitschaft vorzufinden ist.

Lange vor den im Herbst 2005 in Frankreich aufgetretenen fanalartigen Erscheinungen machte sich eine Erscheinung breit, die man als „reaktiven Kulturalismus“ bezeichnet hat: Das Sperren gegen die Integration durch Betonung kultureller Besonderheiten. Fasst man mit Bernhard Peters soziale Integration als „gelungene Lösung für drei Arten von Problemen ..., die im Lebensprozess menschlicher Gemeinschaften berücksichtigt werden müssen“, so kann man unser Problem etwas genauer fassen. Neben der „instrumentellen“ Dimension der funktionalen Koordination äußerer Handlungen in einer objektiven Welt hebt Peters vor allem die „evaluativ-expressive“ Dimension der Wertung von Bedürfnissen und Lebensplänen und der „Bildung von individuellen und kollektiven Identitäten“ sowie die „moralische“ Dimension des Ausgleichs konfligierender Ansprüche und der angemessenen Berücksichtigung des Wohles und der Integrität aller Betroffenen hervor.

Vermeintliche oder tatsächliche Zurücksetzung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit, sei es „nur“ durch das Gefühl, gegenüber gleichaltrigen Angehörigen der Mehrheitskultur geringere Achtung zu genießen, ruft bei Jugendlichen in Migrantengruppen und anderen Minoritäten nicht selten eine Identitätssuche durch übertriebene Gruppenidentifikation anstelle einer Identifikation mit der politischen Gemeinschaft hervor. Dies führt zu einer vereinseitigten, oft sehr plakativ dargestellten Freund-Feind-Haltung, welche sowohl einen gesamtgesellschaftlichen Interessenausgleich, als auch die faire Berücksichtigung aller Betroffenen verhindert und somit gelingende Integration unmöglich macht. Dabei spielt es eher eine Nebenrolle, ob die Identifikation nationalistischen oder ethnischen oder religiösen Mustern folgt, entscheidend ist ihre stabilisierende Funktion. Bei einigen Minderheiten ist ein starker Nationalismus verbreitet, in anderen Fällen bietet eine Religion die Möglichkeit zur Identifikation und zur wechselseitigen Stabilisierung in fremder, als feindlich empfundener Umgebung. Rigider Republikanismus, der die faktisch vorhandenen sozialen Heterogenitäten und daraus resultierenden Spannungen übergeht, wäre demnach gerade für das republikanische Gemeinwohl kontraproduktiv, wenn die Spannungen nicht angesprochen und auf politischem Wege gelöst werden können. Zu fragen bleibt, welche Art von gruppenspezifischer Berücksichtigung solch zentrifugales Verhalten in Grenzen halten kann.

In den letzten Jahrzehnten ging man, zunächst von kommunitarischer Seite, dazu über, mögliche Weisen gruppenspezifischer Berücksichtigung durch einen erweiterten, emphatischen Toleranzbegriff zu formulieren, oder auch, ob nun mit oder ohne Rückgriff auf das in diesem Kontext unvermeidliche Goethewort („Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt Beleidigen“ J.W.v. Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 875), indem man der Toleranz die Anerkennung entgegenstellte. Allemal führte die anschließende Diskussion zu einer Differenzierung des Toleranzbegriffs, die naturgemäß einige Parallelen zur Unterscheidung von Formen der Integration aufweist. Als ein Differenzierungskriterium dient die Frage, inwieweit eine bloße Duldung vorliegt und inwiefern man von der Anerkennung der betroffenen Menschen und ihrer Auffassungen sprechen kann.

Michael Walzer bestimmt Toleranz als das Akzeptieren der Differenz, wobei er es für weniger wichtig erachtet, aus welcher Gemütslage dieses Akzeptieren erfolge, ob es sich nun um „eine resignierte Duldung der Differenz um des Friedens willen“, also aus Schwäche, oder aber um eine enthusiastische Bejahung der Differenz“ handle. Ihm geht es entscheidend um die sehr unterschiedlichen politischen Strukturen, innerhalb deren Toleranz zum Tragen kommen kann, ob es sich um multinationale Imperien, Konföderationen, Nationalstaaten oder Einwanderungsgesellschaften handelt. Natürlich ist die Lage von Minderheiten, die ja relativ häufig Toleranz in Anspruch nehmen müssen, in einem Nationalstaat mit relativ homogener Bevölkerung anders als in einem „klassischen“ Einwanderungsland, in dem seit jeher unterschiedliche Gruppen zusammenfinden müssen. Bei Walzer lässt sich eine erweiterte Wortverwendung erkennen, die etwa auch reines Erdulden aus Schwäche einerseits, aktive Förderung andererseits als sinnvollen Gebrauch des Wortes „Toleranz“ akzeptiert.

Zu einer Toleranz im engeren Sinn des Wortes, wie sie etwa von Rainer Forst definiert wird, gehört neben der unbestreitbar vorhandenen „Akzeptanz-Komponenente“ stets auch eine „Ablehnungskomponente“, die lediglich von der Akzeptanzseite überwogen wird, solange die „Grenzen der Toleranz“ noch nicht erreicht sind. Ferner legt Forst Wert darauf, dass Toleranz freiwillig ausgeübt werde, von daher allemal vom bloßen Erdulden verschieden sei. Um auf der anderen Seite der Skala bei der Form von Akzeptanz, die man als Wertschätzung bezeichnet, noch von Toleranz reden zu können, müsse sich die Wertschätzung auf Aspekte der tolerierten Haltung, bei gleichzeitiger Ablehnung anderer Aspekte beziehen. Eine weniger aufgeladene Version der Akzeptanz bezieht sich auf den Respekt gegenüber der Autonomie der tolerierten Personen. „Wechselseitige Toleranz impliziert diesem Verständnis nach den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen.“

Zwei weitere Konzeptionen von Toleranz, die für unseren Kontext eine Rolle spielen, werden auch von Forst genannt: Nach der Erlaubnis-Auffassung gewähren ein Fürst oder eine in ihrer Dominanz ungefährdete Mehrheit einer Minderheit Toleranz, sei dies aus prinzipiellen oder pragmatischen Gründen, d.h. aus moralischer Überzeugung oder um der Friedenssicherung willen. Bei der Koexistenz-Form ist mehr oder minder gleichstarken Gruppierungen klar, dass sie einander wechselseitig hinzunehmen haben. Dies kann mit der Konfliktvermeidung aus Kostengründen beginnen, um dann zu partieller oder auch weitgehender Kooperation fortzuschreiten. Gegenüber dem ursprünglichen Konfliktgrund findet eine zunehmende Neutralisierung statt, wie Carl Schmitt es ausgedrückt hat.

Indifferenz, „Differenzblindheit“ und Akzeptanz

Der anhand der Niederlande und der Situation in Frankreich beschriebene Konflikt, der sich mit eher geringfügigen Modifikationen in vielen europäischen Ländern findet, insbesondere auch in Deutschland, lässt sich demnach dadurch beschreiben, dass von Seiten der „autochthonen“, schon länger ansässigen Bevölkerung gegenüber Migranten, auch der zweiten und dritten Generation, mehr oder minder selbstverständlich eine Erlaubnis-Version der Toleranz unterstellt wird, für welche die Mehrheit in Form der völligen Assimilation belohnt zu werden beansprucht, während auf der anderen Seite die Forderung nach Akzeptanz erhoben wird, nicht selten in der emphatischen Wertschätzungs-Variante.

Eine Fehleinschätzung auf Seiten der Politik besteht darin, dass man – in den von Walzer getroffenen Differenzierungen formuliert – das eigene Land als homogenen Nationalstaat zu bewahren trachtet, während es unübersehbar bereits ein gutes Stück zum Einwanderungsland gegangen ist, selbst wenn Unterschiede zu multikulturellen Staaten wie Kanada nicht zu übersehen sind. Die Begriffsanalyse schafft somit nicht das Problem aus der Welt, vermag jedoch die Gründe zu ermitteln, warum beim Gebrauch derselben Wörter von unterschiedlichen Personen sehr Verschiedenes gemeint sein kann und kann so zu einer gemeinsamen Überlegung beitragen.

Die unparteiliche Berücksichtigung aller auch als Zwecke an sich selbst (ein zumindest in Europa, aber letztlich weltweit allgemein anerkannter Grundsatz der Moralität), impliziert eine Toleranz im Sinne des Respekts vor der Autonomie der anderen Person, also eine Form der Akzeptanz. Grundsätzlich ist niemand befugt, sich gegenüber anderen Menschen in die Rolle dessen zu begeben, der anderen Menschen die persönliche Sphäre der Entscheidungsfreiheit per Erlaubnis oder Verbot erweitert oder einengt, weil er zur Mehrheit und die andere Person zur Minderheit gehört. Zwar ist es umgekehrt leider keineswegs immer der Fall, dass Immigranten und andere Minoritäten gewillt sind, die Reziprozität des Respekts einzuhalten. In dramatischer Weise wurde dies u. a. durch den Mord an dem islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh in Amsterdam belegt. Doch werden sich die Eingriffsmöglichkeiten des Rechtsstaats gegenüber Gruppen, die aggressives Gebaren gegenüber der Mehrheitskultur an den Tag legen, auf das Sanktionieren rechtswidrigen Verhaltens und gegebenenfalls den Entzug finanzieller Zuwendungen für kulturelle Aktivitäten zu beschränken haben. Will man indessen deutlich machen, dass derartige Aggressionen und Akzeptanzverweigerungen keine Wertschätzung genießen, so liegt es im allgemeinen Interesse, die Wertschätzung gegenüber anderen, sozial bereichernden Elementen minoritärer Kulturen durch entsprechende Förderung zum Ausdruck bringen.

Bislang wurden primär politische Klugheitsgesichtspunkte zugunsten besonderer Rücksichtnahme gegenüber Minderheiten ins Feld geführt. Es gibt jedoch möglicherweise einen eigenständigen ethischen Aspekt. Gegen die als bloße Assimilation an die Mehrheitskultur gedeutete Integration wurde von einigen der Gedanke einer Toleranz im emphatischen, über die bloße Duldung weit hinausgehenden Sinne der Anerkennung einer Minderheit als Trägerin einer eigenen, schützenswerten Kultur hervorgehoben. Dabei wird insbesondere diskutiert, ob Minderheitenrechte stets die Rechte der zur Minderheit gehörenden Individuen sind, oder ob es auch der Rechte bedarf, welche der Gruppe als Ganzes zukommen und die möglicherweise sogar die liberalen Individualrechte außer Kraft setzen können, um den Bestand der Kultur zu sichern. Durch erzwungenen Verzicht auf einzelne Rechte soll den Individuen die Identität und eine erfüllte Existenz gewahrt werden. Es ist kein Zufall, dass eine relativ frühe Stellungnahme dieser Art von einem der exponierten Vertreter des Kommunitarismus, nämlich von Charles Taylor stammt. Taylor betont „den dialogischen Charakter menschlicher Existenz“ und die daraus resultierende „Wichtigkeit der Anerkennung“, insbesondere der Anerkennung der unverwechselbaren Identität. Diese „unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe anzuerkennen“ verlange nun eine „Politik der Differenz“.

Gewiss könne auch der auf strikte Nicht-Diskriminierung bedachte, „differenz-blinde“ Liberalismus Maßnahmen wie positive Diskriminierung begründen, welche vorangegangene Nachteile ausgleichen sollten. „Aber bestimmte Maßnahmen, die heute unter Berufung auf die Differenz gefordert werden, lassen sich mit dieser Argumentation nicht rechtfertigen – solche Maßnahmen nämlich, die nicht auf Wiederherstellung eines ‚differenz-blinden‘ Spielraums zielen, sondern darauf, die Besonderheit zu wahren und zu pflegen, nicht nur für eine gewisse Zeit, sondern für immer. Was aber wäre, wo es um Identität geht, legitimer als danach zu streben, dass sie niemals verloren geht?“. Schließlich diskriminiere gerade der „differenz-blinde“ universalistische Liberalismus die Angehörigen von minoritären Kulturen schon dadurch, dass sie gezwungen würden, sich den ihnen fremden Formen und Kriterien der Hegemonialkultur anzupassen und zu unterwerfen. Dies wäre wiederum eine mögliche Wurzel der bereits angesprochenen Unterlegenheitsgefühle. Festhalten kann man an dieser Stelle, dass gewissermaßen von zwei Seiten ein Mangel an Differenzierung beklagt wird, den man einmal an der angeblichen Indifferenz der Toleranz, die alles akzeptiert, das andre Mal am angeblich differenzblinden, daher letztlich intoleranten Liberalismus festmacht.

Zwar sieht sich Taylor in der Tradition des egalitären Liberalismus. Ähnlich wie Walzer steht aber auch er einem rein prozedural orientierten, von jeder inhaltlichen Festlegung absehenden, auf strikter Nicht-Unterscheidung der Betroffenen beharrenden „Rechte-Liberalismus“ kritisch gegenüber. Er stellt diesem eine Version des Liberalismus entgegen, die eine „öffentlich akzeptierte Definition des Guten“ einfordert und sich dezidiert um die Umsetzung dieser Vorstellung bemüht. Ein Beispiel sei die Politik der survivance in Quebec, die dafür sorgen wolle, dass es auch in Zukunft noch Frankophone in Kanada gibt. In dieser Version des Liberalismus können laut Taylor dann zwar nicht elementare Grundrechte, wohl aber „Vor- und Sonderrechte“ aus „sehr triftigen“ politischen Gründen beschnitten werden. „Eine Gesellschaft mit ausgeprägten kollektiven Zielsetzungen kann dieser Anschauung zufolge sehr wohl liberal sein, vorausgesetzt, sie ist imstande, Vielfalt zu respektieren, vor allem im Umgang mit denen, die ihren kollektiven Zielen nicht folgen mögen, und vorausgesetzt, sie kann die Grundrechte angemessen garantieren“. Ferner impliziert diese Politik der Differenz laut Taylor die Anerkennung der möglichen Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen, da jeder Mensch das Recht haben müsse, seine traditionelle Kultur als wertvoll anzusehen. Man hat demgegenüber festgehalten, Kulturen könnten ja wohl nicht in der Art von Menschen deshalb schutzwürdig sein, weil es sie gebe, man habe moralische Kriterien an diese Kulturen anzulegen.

Nun fordert auch Taylor nicht die Akzeptanz aller „Hervorbringungen“ einer jeden Kultur, wohl aber die Bereitschaft, sich unvoreingenommen auf sie einzulassen. Allerdings sind es in der politischen Wirklichkeit gerade bestimmte „Hervorbringungen“, derentwegen kulturelle Minoritäten in Konflikte geraten. Will man die von beiden Seiten geforderte Differenzierung vornehmen und auf der einen Seite die Toleranz da verweigern, wo sie zu Gewalttaten missbraucht wird und auf der anderen Seite möglicherweise Vielfalt fördern, um etwa unverschuldete Benachteiligungen auszugleichen, so benötigt man für eine unvoreingenommene Prüfung ein Kriterium. Hierfür bleibt letztlich die auf Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit basierende universalistische Moralität die einzige Kandidatin, zumal sie zugleich als ethische Grundlage der Menschenrechte fungiert. Auf dieser Basis erscheinen etwa körperliche Verstümmelungen auch dann inakzeptabel, wenn sie kulturell vorgegeben sind und vielleicht sogar mit Einwilligung der geschädigten Person vollzogen werden. Eine derartige Verletzung des unverzichtbaren Rechts auf körperliche Unversehrtheit ist nicht durch das Gebot der Toleranz und auch nicht durch das Recht auf Differenz abgedeckt.

Deutlich schwieriger wird die Beurteilung durch Traditionen geprägter zwischenmenschlicher Beziehungen. Probleme entstehen nicht zuletzt daraus, dass Migranten die Kritik an bestimmten, ihnen aus Tradition selbstverständlichen Verhaltensweisen als Kritik an ihrem gesamten, durch die Ursprungskultur geprägten Lebensentwurf und damit als Behinderung der autonomen Entwicklung deuten. Das Resultat ist dann der bereits angesprochene reaktive Kulturalismus.

Als Kriterium, ob der an die Mehrheit gerichtete Vorwurf der Diskriminierung von Minderheitenkulturen berechtigt ist, dient neben der Frage nach der Konformität der fraglichen Bräuche mit den allgemein anerkannten Menschenrechten die Behandlung ähnlich gelagerter Fälle bei Mitgliedern der Mehrheitskultur. Dabei erscheint es, auch im Interesse des sozialen Friedens, ratsam, den Minoritäten einen etwas größeren Spielraum in diesen Dingen einzuräumen (vgl. Schächten von Tieren). Dies gilt schon, um aus Gründen der Fairness den Nachteil auszugleichen, dem Migranten in einer fremden Umgebung, generell Minderheiten zunächst unterliegen, aber auch, um bei den Angehörigen von Minderheiten die erwähnten Gefühle des Missachtetwerdens zu vermeiden – selbst wenn diese Gefühle oftmals durch gezielte Verdächtigungen suggeriert und dann als Waffe gegen die Majorität gewendet werden. Dieses Entgegenkommen hat seine Grenzen bei Grundrechtsverletzungen von Beteiligten und bei eklatanter Benachteiligung anderer Gruppen und lässt sich ansonsten eher als politisch wünschenswerte Haltung von Seiten der Offiziellen und der Mehrheitsbevölkerung denn als Rechtsanspruch der Minderheiten verstehen.

Ein sattsam bekanntes Beispiel: Seit Jahren schwelt in verschiedenen europäischen Staaten der Streit um das tatsächliche oder vermeintliche Recht islamischer Frauen und Mädchen, in bestimmten Teilen der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen. Nicht selten wird dies zum Prüfstein christlicher oder auch europäischer Toleranz erklärt. Umstritten ist insbesondere, inwieweit der Staat berechtigt sein kann, in öffentlichen Räumen, speziell innerhalb der Schule, das Tragen des Kopftuchs durch Schülerinnen oder Lehrerinnen zu untersagen. Während der französische Staat ein Gesetz verabschiedete, welches den Schülerinnen das Zeigen jeglicher religiöser Symbole verbot, beschlossen nach einem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts diverse deutsche Länderparlamente Regelungen, die speziell muslimischen Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs untersagen. Mitunter wird explizit versucht, christliche, aber auch jüdische Symbole von diesem Verbot auszunehmen, etwa die Ordenstracht unterrichtender Nonnen, ein Versuch, den das Bundesverwaltungsgericht für Baden-Württemberg für unzulässig erklärt hat.

Die Gründe für und gegen das sogenannte Kopftuchverbot sind vielfach benannt und überschaubar: Auf der einen Seite führt man die Religionsfreiheit, den Respekt vor der Achtung religiöser Gebote durch Menschen eines Minderheitenglaubens, die Suche muslimischer Frauen nach eigener Identität und die weltanschauliche Neutralität des liberalen Staates selbst gegenüber ungewöhnlichen und extremen religiösen Positionen an, solange diese weder andere Menschen noch die öffentliche Ordnung gefährden. Genau letzteres wird jedoch von denen, die ein Verbot durchsetzen wollen, als wesentliches Argument angeführt: Es handle sich, da es kein vom Koran zwingend vorgeschriebenes und kein von allen muslimischen Frauen anerkanntes Gebot zum Kopftuchtragen gebe, gerade um eine radikale und bewusste Wendung gegen die demokratische politische Ordnung im Namen radikaler Religiosität. Ferner sei das Kopftuch ein Symbol der Geschlechterhierarchie und der sexistischen Unterdrückung, die mit den Grundsätzen des liberalen Staates unvereinbar sei.

Demgegenüber lässt sich, wiederum in Anwendung der Grundsätze liberalen Rechtsdenkens einwenden, kaum allen muslimischen Kopftuchträgerinnen oder auch ihren Ehemännern, Vätern, Brüdern könne man radikale und demokratiefeindliche Gesinnung unterstellen. Ferner hat, wer ein bestimmtes Kleidungsstück trägt, erstens zunächst die Vermutung für sich, dass sie dies freiwillig tut, zweitens gilt, da bestimmte Formen der religiösen Gesinnung offenbar (zu Recht) als gesellschaftsbedrohend angesehen werden, auch hier erst einmal die Unschuldsvermutung, will sagen, dass nicht Staatszerstörung sondern Traditionsbewusstsein und vielleicht die Identitätssuche den persönlichen Hintergrund für das Tragen eines Kleidungsstückes darstellt. Solange wir nicht wissen, ob sexistischer Zwang oder eine Suche nach Halt in den als eigen angesehenen – auch religiösen – Traditionen das Motiv für dieses Verhalten ist, sollten wir einerseits diesen Halt nicht verwehren und andererseits weniger das (mögliche) Symbol der Unterdrückung als die Unterdrückung selbst zur Zielscheibe unserer Angriffe machen. Zu diesem Zweck kann es gerade hilfreich sein, wenn wir die muslimischen Frauen und Mädchen von eventuellen Streitigkeiten um derartige Äußerlichkeiten entlasten und ihnen die Möglichkeit geben, sich auf grundlegendere Probleme zu konzentrieren.

Welche Gruppenrechte für wen?

Von verschiedener Seite, am prägnantesten vielleicht von Will Kymlicka und Charles Taylor, wurde angeregt, Minderheiten gewisse Gruppenrechte einzuräumen. Dies ließe sich möglicherweise für das Ziel einer Liberalisierung illiberaler Minderheiten einsetzen, um die genannten Abwehreffekte dadurch zu vermeiden, dass sich die jeweiligen Gruppen willkommen fühlen.

Wie steht es, um die Frage allgemeiner zu halten, um kollektive Rechte bzw. das Recht einer Gruppe auf das Verfolgen eines „kollektiven Ziels“? Seyla Benhabib und Jürgen Habermas hatten aus der Sicht der Diskursethik gegenüber Taylor darauf hingewiesen, dass der traditionelle Liberalismus keineswegs „blind“ sei gegenüber unterschiedlichen sozialen Lebensbedingungen und kulturellen Differenzen. Es ist zudem gerade ein Kennzeichen für Rawls‘ demokratische Gleichheit gegenüber der bloßen Chancengleichheit, dass sie einen Ausgleich sozialer und natürlicher Benachteiligungen vorsieht. Ein solcher Ausgleich kann, wenn er den Namen verdienen soll, nicht auf eine einmalige Maßnahme beschränkt sein, welche ansonsten die ungerechten Rahmenbedingungen unverändert lässt. Habermas verweist zusätzlich auf die sehr verschiedene Struktur der diversen „Kämpfe um Anerkennung“ und auf die verschiedene Wirkung, die sie auf die beteiligten Kulturen haben. In der Tat wird es schwierig, die verschiedenen Bewegungen und Interessengruppen, vom Feminismus über vernachlässigte oder unterdrückte Minderheiten, über den Kampf für die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bis zum Nationalismus und zum Kampf gegen den Eurozentrismus unter eine Rubrik zu subsumieren, ohne sich seinerseits dem Vorwurf der „Indifferenz“ oder „Differenzblindheit“ auszusetzen. Insbesondere erschiene es fragwürdig, aus diesen Kämpfen um Anerkennung generell einen Anspruch auf kollektive Rechte abzuleiten.

Bereits auf der pragmatischen Ebene ist oft unklar, wer etwa als Vertreterin einer bestimmten Gruppe diese Rechte aushandeln und ihre Einhaltung überwachen soll, von den Fairnessproblemen gegenüber anderen Minderheiten und der Majorität ganz zu schweigen.

Richtig an der Forderung nach dem Schutz minoritärer Kulturen ist, dass der Erhalt einer Vielfalt von Minderheitenkulturen, ob nun von Migranten oder von „Alteingesessenen“, in einer modernen multikulturellen Gesellschaft als erstrebenswert angesehen und durch verschiedene Maßnahmen unterstützt werden kann. Mehr und mehr setzt sich die Überzeugung durch, dass die Identität und der Wert einer modernen Gesellschaft nicht in der Exklusion, sondern in Vielfalt und Variantenreichtum liegt. Die Annahme eines schützenswerten nationalen Wesens kann inzwischen getrost als Mystifizierung angesehen werden. Es besteht heute ein weitgehender Konsens, dass Nationen kulturelle Kunstprodukte, soziale Konstruktionen, imaginierte Größen sind, keine naturwüchsigen Gebilde, keine objektiven, historisch und kulturell invarianten Größen. Nation und Nationalstaat sind nicht vom Schicksal vorgegeben. Ethno- und Kulturnationalismen, die ein „gesundes Nationalbewusstsein“ aufgrund einer homogenen Kultur propagieren, besitzen in einer segmentierten Kultur, deren Segmentierung auch, aber keineswegs nur durch Migration verursacht wurde, eher zentrifugale als integrierende Wirkung. Insofern schaffen und erhalten wir die Gemeinsamkeit einer modernen politischen Einheit gerade dadurch, dass wir in ihr die Vielfalt erhalten und fördern.

Wie wir davon ausgehen, dass zur Bewahrung unserer kulturellen Identität der Erhalt von Baudenkmälern gehört, so sollte uns auch daran gelegen sein, den Erhalt besonderer Sprachen wie des Sorbischen in der Lausitz und des Saterländischen bei Friesoythe, aber auch das Brauchtum der Alteingesessenen und der Zugewanderten, ob dies nun Heimatvertriebene oder Griechen, Sizilianer oder Türken sind, zu fördern. Über finanzielle Sonderzuwendungen an Gemeinschaften, die sich ihre Besonderheit in der genannten Weise bewahren wollen, hinaus werden in besonderen Fällen für Minderheiten begrenzte Autonomieregelungen eingeräumt, in Westeuropa etwa für Südtirol, Katalonien oder das Baskenland. In Mazedonien etablierte man im Herbst 2001 gewisse Minderheitenrechte für die albanische Bevölkerung, in der Hoffnung, dadurch den Bestand der Republik als Ganzes zu bewahren. Selbstverständlich gelten innerhalb dieser autonomen Regionen dieselben individuellen Rechte wie anderswo.

An der Stelle, wo Taylor einer Minderheit ihr kollektives Ziel des Kulturerhalts – das zusätzliche Problem kultureller Identitätszuschreibung sei hier ausgeblendet – nicht nur ermöglichen, sondern im Zweifelsfall auch gegen die erklärten Wünsche und Rechte der Individuen sichern will, verlässt er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen den liberalen Konsens, sei es nur durch die von ihm selbst nicht erwünschten Konsequenzen seiner Auffassung. Gewiss sind in der politischen Praxis Maßnahmen, welche die Minderheit stärken und solche, die ihre Mitglieder in der individuellen Entfaltung behindern, nicht immer leicht zu trennen. Doch sind wir verpflichtet, uns um derartige Differenzierungen zu bemühen, wenn wir es mit dem individuellen Selbstbestimmungsrecht ernst meinen. Differenzierungen kollektiver Rechte bzw. von Gruppenrechten beziehen sich erstens auf die Struktur der in Frage kommenden Rechte, zweitens auf die Arten von Gruppen, die dadurch begünstigt werden.

Thomas Pogge unterscheidet verschiedene Gruppenrechte: 

- „Kollektivrechte, nämlich positive Rechte, die eine Gruppe als Gruppe hat und, sofern es sich um aktive Rechte handelt, auch kollektiv als Gruppe ausübt.“ So könnten etwa die Ausländer innerhalb einer deutschen Stadt oder eines Bundeslandes das Recht haben, einen fünf-, zehn, oder auch zwanzigköpfigen Ausländerbeirat zum Stadtrat oder Landtag zu bestimmen.

- „Gruppenspezifische Individualrechte, nämlich positive Individualrechte, die nur den Mitgliedern einer Gruppe zukommen.“ Dies wäre etwa das Recht aller erwachsenen ortsansässigen Ausländer, sich an der Wahl des Ausländerbeirats zu beteiligen.

- „Gruppenstatistische Rechte, nämlich positive Rechte, die den Status einer Gruppe schützen sollen.“ Damit sind oft gewisse Quotierungen gemeint, etwa der Anspruch der dänischen Minderheit, nicht von der Fünf-Prozent-Hürde in Schleswig-Holstein betroffen zu sein; in Deutschland wurde vor einigen Jahren eine Frauenquote heftig diskutiert.

Im Kontext von Toleranz und Integration sind gruppenstatistische Rechte wie etwa Quotierungen dann denkbar, wenn sich eine umgrenzte Gruppe ausmachen lässt, die man dadurch besser in die Gesamtgesellschaft zu integrieren hofft, dass man ihr etwa in begrenztem Maße den Weg zu Positionen in Hochschulen erleichtert, um bislang faktisch vorhandene Nachteile auszugleichen. Sie lässt sich kaum halten, wenn dadurch vergleichbare Gruppierungen ins Hintertreffen geraten. In dem Fall, dass eine Mehrzahl derartiger Gruppierungen vorhanden ist, wäre es wiederum schwierig, ein jeweils angemessenes nationales Kontingent festzulegen. Dass Hochschulen eines Landes selbstverständlich für Menschen aus anderen Ländern und aus anderen Kulturen offen sein sollten bleibt davon unberührt.

Als spezifisches Recht, das Migranten und nur Migranten zukommt, vergleichbar dem Recht, bei gleicher Qualifikation bevorzugt eingestellt zu werden, das Schwerbehinderten zugestanden wird, käme neben dem Anspruch auf eine spezifische Art Sprachunterricht am ehesten ein Recht auf doppelte Staatsbürgerschaft in Frage, welches in Deutschland trotz eines Versuchs Ende der neunziger Jahre bekanntlich nicht zustande kam. Solch ein Recht könnte Migranten die Integration erleichtern, da sie nicht mehr vor die schwierige und manchmal quälende entweder-oder-Entscheidung über ihre Zugehörigkeit gestellt werden. Als Indiz dafür, dass dies andererseits kein Wundermittel ist, lässt sich anführen, dass der Mörder Theo van Goghs eben eine solche doppelte Staatsangehörigkeit besaß. Vielleicht kein unmittelbares Anspruchs-Recht, wohl aber ein höchst legitimer Wunsch der Nicht-EU-Bürger in Deutschland ist es, den Dschungel der gesetzlichen Regelung des Aufenthalts, der beispielsweise in Deutschland durch Aufenthaltserlaubnis (§ 15 Ausländergesetz), Aufenthaltsberechtigung (§ 27), Aufenthaltsbewilligung (§§ 28ff.) und Aufenthaltsbefugnis (§§ 30ff) mit jeweils zahlreichen Sonderbestimmungen geregelt wird, etwas zu ordnen.

Die für ethnische, teilweise auch für religiöse Minderheiten in Frage kommenden Kollektivrechte wurden bereits erwähnt: Innerhalb einer Republik, also einer res publica, einem politischen Gemeinwesen mit einer in wesentlichen Teilen gemeinsamen Öffentlichkeit, können bestimmte Fördermaßnahmen legitim und zweckmäßig sein, die der Identitätsfindung und Stabilisierung der Gruppenmitglieder dienlich sind, die ihnen die Furcht vor der Unterdrückung durch die Mehrheit nehmen und das Gefühl der Akzeptanz ermöglichen, solange sie die Autonomie der Angehörigen der Minderheit einerseits und das Gemeinwohl durch Überbewertung der besonderen Gruppenzugehörigkeit andererseits nicht beeinträchtigen. Der Gedanke eines Gemeinwohls, das sich auf den Nationalstaat bezieht, wird insofern nicht ganz unwichtig, weil trotz aller berechtigten Bemühungen, gegenüber dem Staat die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure zu stärken, diese faktisch vorhandenen Staaten zumindest in den westlichen Demokratien noch immer Ebenen sind, auf denen so etwas wie eine gemeinsame Beratung und ein gewisser Interessenausgleich stattfindet. Gerade wenn man zugesteht, dass Nationen nichts Essentielles oder Naturwüchsiges, sondern historisch gewachsene menschliche Schöpfungen sind, wird die Tatsache, dass Staaten einen institutionalisierten Apparat zur sozialen Sicherung und Umsetzung kollektiver Vorhaben zur Verfügung stellen, umso wichtiger, zumal die anderen „Nationen“, in deren Namen Minderheiten auftreten und sich evtl. gegen den Staat stellen, vor mindestens dem selben Problem stehen. Um die Möglichkeit des Verfolgens gemeinsamer Ziele zu bewahren und sie nicht dem naturgemäß irgendwann konfligierenden Gruppeninteresse zu opfern, scheint es ratsam, mit dem Zugeständnis von Kollektivrechten eher vorsichtig umzugehen.

Dies betrifft auch Will Kymlickas Argumentation für Minderheitenrechte in Form kultureller Rechte mittels einer Auffassung der Kultur als primäres Gut im Sinne von Rawls. Kymlicka begründet die Notwendigkeit von Rechten, welche bestimmten, in Kanada meist indigenen Minderheiten als Gruppe zugestanden, anderen, wie den Homosexuellen, aber auch verschiedenen Migrantengruppen hingegen vorenthalten werden sollen und sich durchaus gegen einzelne Mitglieder derselben wenden können, mit dem Schutz jener besonderen, „sozietalen“ oder „Gesellschaftskulturen“. Die Teilhabe an ihnen erschließe „ein Repertoire sinnhafter Lebensmuster, die den gesamten Bereich menschlicher Tätigkeiten abdecken, Soziales, Erziehung, Religion, Freizeit, Wirtschaft.“.

Fraglich bleibt, ob es derartige Kulturen gibt. Nach Daniel Weinstock vermögen Kymlickas Unterscheidungskriterien genau das, was sie leisten sollen, nicht zu erreichen, weil sie auf dem Übertreiben vorhandener Unterschiede und dem Ausblenden von Zwischenstufen basieren. Insbesondere lassen sich die unterschiedlichen Weisen der Behandlung von nationalen und anderen Minoritäten schwer legitimieren, zumal die von Kymlicka auch geforderte Entwicklung zur autonomen Persönlichkeit möglicherweise bei einigen kanadischen Einwanderergruppen eher gefördert wird als bei manchen indigenen Kulturen. Generell lässt sich die soziale Welt kaum in säuberlich getrennte Kulturen aufteilen. Mehr noch, falls es innerhalb einer Gesellschaft gelingen sollte, derartige Trennungen ins Werk zu setzen, so wäre dies eher ein Zeichen pathologischer Entwicklung.

So wichtig es daher ist, durch begrenzte Fördermaßnahmen die Akzeptanz der Minderheiten zu belegen und zu verbessern, so vorsichtig sollte man damit sein, diesen Minderheiten als Gruppe besondere Rechte über ihre Mitglieder einzuräumen, die am Ende gar mit deren individuellen Grundrechten konfligieren könnten. Es lässt sich die Faustregel formulieren, dass rechtliche Regelungen, die bestimmten Gruppen einen Sonderstatus einräumen, im Interesse der Gleichheit der Staatsbürgerinnen eher die Ausnahme, wenn nicht sogar der letzte Ausweg zur Vermeidung gewaltsamer Konflikte sein sollten. Dies scheint auch der Kern der Kritik, die Seyla Benhabib gegen das von Ayelet Shachar vorgetragene Konzept einer joint governance anbringt. Nach dem Konzept der joint governance, welches der Realität simultaner Zugehörigkeit der Angehörigen von Minderheiten zu unterschiedlichen Gruppen Rechnung trägt, würden einige Entscheidungsbefugnisse, insbesondere des Familienrechts, vom Staat auf die Repräsentanten der jeweiligen Minderheit übertragen.
Normalerweise sollten alle Gruppen innerhalb eines Staates dazu ermutigt werden, sich um Einflussnahme auf die politische Willensbildung, auch mittels nicht-staatlicher, jedenfalls nicht durch die Regierung gelenkter Organisationen zu bemühen. Der aus dem hier Diskutierten resultierende Weg, Migranten zu integrieren, würde also erst einmal den mit öffentlichen Mitteln geförderten Institutionen der Zivilgesellschaft vertrauen, bei Bedarf jedoch rechtliche Regelungen zur Förderung der Minderheiten zu akzeptieren.
Andererseits kann man gegenüber Gruppen, in welchen die Mitglieder einer Minderheit organisiert sind, unter Umständen die Bedeutung der Reziprozität von Akzeptanz deutlicher machen als bei einer unüberschaubaren Masse von Einzelpersonen. Im Rechtsstaat muss zudem allen Gruppenangehörigen die Möglichkeit offen bleiben, derartige Zugehörigkeiten aufzukündigen. Will man ein, sei es (noch) nationales, sei es europäisches politisches Gemeinsamkeitsgefühl fördern, so muss man allen Beteiligten die Chance bieten, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, ihnen andererseits aber auch die Bereitschaft abnötigen, dies gemäß den demokratischen Verfahren zu tun. Mehr noch, man muss von allen Angehörigen der Minderheit wie der Mehrheit die Bereitschaft fordern, die Mitglieder anderer Minderheiten und der Mehrheitskultur nicht nur notgedrungen zu dulden, sondern zu respektieren, wenn ihnen schon eine emphatische Begrüßung der verschiedenen Besonderheiten nicht möglich erscheint. Diese Forderung könnte man als die Rückseite der Akzeptanz bezeichnen.

UNSER AUTOR:

Matthias Kaufmann ist Professor für Philosophie an der Universität Halle.
Von ihm ist zum Thema erschienen: "Toleranz ohne Indifferenz - Integration und die Rückseite der Akzeptanz. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 91/2005"