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ESSAY

Hoerster, Norbert: Zur Legitimität der Sterbehilfe

aus: Heft 2/2009, S. 7-13

 

Zwei Bedeutungen von „Sterbehilfe“

Das Wort „Sterbehilfe“ kann auf zwei unterschiedliche Weisen verstanden werden: erstens als Hilfe beim Sterben und zweitens als Hilfe zum Sterben. Die Sterbehilfe als Hilfe beim Sterben wirft keine moralphilosophischen oder ethischen Probleme auf. Niemand bestreitet, dass diese Hilfe uneingeschränkt erlaubt, ja dass sie in einem hohen Maß erwünscht ist. Ganz anders verhält es sich bei der Hilfe zum Sterben. Die Frage, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen und in welcher Form man einem anderen Menschen zum Sterben Hilfe leisten darf, ist nicht nur moralphilosophisch äußerst umstritten. Sie steht in unserer Gesellschaft seit langem auch rechtsethisch auf dem Prüfstand: Die Philosophen ebenso wie die Normalbürger sind sich uneins darüber, ob und inwieweit die Rechtsordnung die Hilfe zum Sterben legitimerweise mit Mitteln des Strafrechts verbieten darf. Es ist diese rechtsethische Frage, die im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen wird.

Die moralische Frage

Ob man, moralisch gesprochen, einem anderen Hilfe zum Sterben leisten darf oder gar soll, hängt weitgehend von der moralphilosophischen Grundposition ab, die man vertritt. Wer als religiöser Mensch etwa der Auffassung ist, dass der Mensch in allen Fragen dem Willen Gottes zu gehorchen hat und dass Gott Handlungen wie Sterbehilfe oder Suizid verboten hat, der wird offenbar zu einem anderen Ergebnis gelangen als jemand, der seine Moralphilosophie auf eine rein säkulare Basis gründet.

Diese Feststellung schließt allerdings die Möglichkeit nicht aus, jedenfalls bestimmte Formen einer religiösen Einstellung zur Sterbehilfe als nicht überzeugend zu erweisen. Dies gilt zum Beispiel für die von Vertretern der christlichen Kirchen häufig vorgetragene These, allein schon deshalb, weil Gott dem Menschen das Leben gegeben habe, dürfe auch nur Gott dieses Leben dem Menschen wieder nehmen. So heißt es etwa in einer Entschließung der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands: „Kein Arzt, Sterbebegleiter oder Angehöriger darf sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen …. Denn das Leben ist eine Gabe Gottes. Der Mensch darf über diese Gabe nicht nach eigenem Gutdünken verfügen“ (1). Und im Katechismus der Katholischen Kirche liest man: „Eine Handlung oder eine Unterlassung, die von sich aus oder der Absicht nach den Tod herbeiführt, um dem Schmerz ein Ende zu machen, ist ein Mord, ein schweres Vergehen gegen die Menschenwürde und gegen die Achtung, die man dem lebendigen Gott, dem Schöpfer, schuldet“. Ein solches Vergehen sei „stets zu verbieten und auszuschließen“ (2).

Man muss sich fragen: Hat derselbe Gott nach christlicher Lehre das Leben nicht auch den Tieren gegeben? Wieso dürfen wir zwar den Tieren, selbst wenn sie noch ein schönes Leben vor sich haben, ohne weiteres dieses Leben nehmen, nicht aber Menschen, deren Zukunft grauenvoll ist und die selbst sterben wollen? Außerdem: Wenn Gott unter keinen Umständen will, dass wir uns selbst oder andere Menschen töten, warum hat er uns dann so geschaffen, dass wir uns so relativ einfach töten können?

Doch vermutlich ist jeder Versuch, in einer so umstrittenen Frage wie der Frage der Sterbehilfe zu einem moralischen Konsens in der Gesellschaft zu gelangen, utopisch. Und zweifellos ist die oben genannte, rechtsethische Fragestellung für unsere Lebenspraxis auch die ungleich wichtigere. Denn selbst dann, wenn es gute Gründe gibt, die Sterbehilfe unter bestimmten Bedingungen rechtlich zuzulassen, wird ja niemand gezwungen, von dieser rechtlichen Möglichkeit auch gegen seine moralische Einstellung Gebrauch zu machen. Die Tatsache, dass unsere Rechtsordnung etwa Homosexualität oder Prostitution zulässt, zwingt ja auch niemanden dazu, entgegen seiner moralischen Einstellung an diesen Praktiken teilzunehmen.

 

 Die rechtsethische Frage

Als Ausgangspunkt für die rechtsethische Fragestellung muss gelten: Wer unter der Voraussetzung bestehender individueller Freiheitsrechte in einem demokratischen Staatswesen für ein bestimmtes strafrechtliches Verbot eintritt, trägt hierfür die Argumentationslast: Er muss Gründe für das Verbot nennen können, die prinzipiell jedermann – unabhängig von seiner religiösen oder weltanschaulichen Einstellung – nachvollziehbar sind. Es reicht deshalb nicht aus, wenn etwa Robert Spaemann einfach behauptet, „Sinn des Leidens“ sei es, „die Flucht des Leidenden zu Gott zu bewirken, indem ihm alle anderen Befriedigungsmöglichkeiten genommen worden sind“ (3). Denn es ist nicht das Recht unseres Staates, auch jenen Leidenden die Flucht in den Tod zu verwehren, denen jener Gott, zu dem sie stattdessen fliehen sollen, gar nicht erkennbar ist.

Und auch der immer wieder anzutreffende Hinweis auf eine sogenannte Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens kann ein Verbot der Sterbehilfe nicht begründen. Denn zum einen müsste gezeigt werden, auf welche Weise sich diese angebliche Unverfügbarkeit denn überhaupt erkennen lässt. Und zum anderen erlaubt so gut wie jede Rechtsordnung durchaus die Tötung eines anderen Menschen – etwa im Fall von Notwehr. Wenn aber nicht einmal die gewaltsame Tötung eines anderen Menschen in jedem Fall unter das Unverfügbarkeitsgebot des menschlichen Lebens fällt, wieso fällt dann ohne weiteres die Selbsttötung oder die erbetene Sterbehilfe unter dieses Gebot?

Offensichtlich kann ein strafrechtliches Verbot der Sterbehilfe in einem die Freiheit des Individuums wahrenden Staatswesen nur unter der Voraussetzung legitim sein, dass durch die Sterbehilfe entweder die Selbstbestimmung oder ein anderes gewichtiges Interesse des Individuums verletzt wird. Dies traf etwa auf die sogenannten Euthanasieaktionen der Nationalsozialisten zu, bei denen behinderte Menschen ohne ihre Zustimmung mit der Begründung getötet wurden, ihr Leben könne vom Standpunkt der Volksgemeinschaft aus nicht mehr als „lebenswert“ betrachtet werden. Die „Euthanasie“ der Nationalsozialisten war insofern keineswegs eine von den Betroffenen selbst erbetene oder in ihrem Interesse liegende „Hilfe“ zum Sterben, sondern Mord. Als nicht mehr lebenswert kann mein Leben der Rechtsordnung nur dann gelten, wenn es 1. für mich selbst keinen Wert mehr besitzt und wenn 2. ich selbst zu diesem Ergebnis gekommen bin.

Aus alledem kann man jedoch nicht den folgenden Schluss ziehen: Eine Sterbehilfe muss immer dann erlaubt sein, wenn der Betroffene selbst um diese Sterbehilfe bittet. Oder mit anderen Worten: Jene „Tötung auf Verlangen“, die das in Deutschland gegenwärtig geltende Recht ausdrücklich unter Strafe stellt, muss uneingeschränkt zugelassen werden. Denn dieser Schluss lässt folgenden wichtigen Aspekt einer Tötung auf Verlangen unberücksichtigt: Nicht jeder Eingriff in die persönlichen Rechte, um den eine Person ausdrücklich bittet, liegt schon allein deshalb auch in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse. Dies trifft zum Beispiel höchstwahrscheinlich auf eine neunzehnjährige Frau zu, die nur aus Liebeskummer sterben will. Ihre Annahme nämlich, dass ihr weiteres Leben für sie keinen Wert mehr haben werde, ist nach allem, was uns die Psychologie ebenso wie der gesunde Menschenverstand lehrt, voreilig und unzutreffend.

Wenn man bedenkt, dass das Leben nicht ein Gut wie jedes andere (etwa das Eigentum) ist, sondern dass zum einen sein Besitz die Voraussetzung aller anderen persönlichen Güter ist und dass zum anderen sein Verlust absolut irreversibel ist, dann spricht dies dafür, nach einer rechtlichen Regelung der Tötung auf Verlangen zu suchen, die nicht ausschließlich der momentanen Selbstbestimmung des Individuums, sondern außerdem auch seinen wohlverstandenen, langfristigen Interessen Rechnung trägt. Eine solche Regelung muss zum Ziel haben, eine erbetene Sterbehilfe, die gleichwohl interessenwidrig ist, im wirklichen Leben weitmöglichst auszuschließen.

Vieles spricht dafür, dieses Ziel durch ein Gesetz zu erreichen, das die Zulässigkeit der Sterbehilfe etwa an die folgenden Bedingungen knüpft:

1. Der um Sterbehilfe Bittende ist einem schweren, unheilbaren Leiden ausgesetzt.

2. Der Betreffende ist über seinen Zustand umfassend aufgeklärt, und seine Bitte beruht auf freier und reiflicher Überlegung.

3. Die Sterbehilfe wird von einem Arzt vorgenommen, der das Vorliegen der ersten beiden Bedingungen überprüft hat.

Es ist schwer verständlich, warum unser derzeitig geltendes Recht einerseits selbst die Sterbehilfe unter diesen Bedingungen als „Tötung auf Verlangen“ für strafbar erklärt, warum es andererseits jedoch die Anstiftung sowie die Beihilfe zur Selbsttötung – selbst zu einer offenkundig gar nicht im Interesse der betroffenen Person liegenden Selbsttötung wie im Falle des Liebeskummers – straffrei lässt.

Ein besonderes Problem werfen jene Fälle auf, in denen die schwer und unheilbar leidende Person gar nicht in der Lage ist, ausdrücklich um Sterbehilfe zu bitten oder ihren Wunsch nach Sterbehilfe unter der unter 2 genannten Bedingung zu bilden. In diesen Fällen kann eine Sterbehilfe nur dann als zulässig in Betracht kommen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Betreffende jedenfalls ausdrücklich um Sterbehilfe bitten würde, wenn er dazu in der Lage wäre bzw. wenn die genannte Bedingung erfüllt wäre. Dies ist normalerweise etwa dann der Fall, wenn der Betreffende bereits zu einem früheren Zeitpunkt, als die genannte Bedingung erfüllt war, für einen künftigen Fall wie den vorliegenden ausdrücklich um Sterbehilfe gebeten hat. In diesem Fall lässt sich nämlich von der ausdrücklichen früheren Bitte auf eine mutmaßlich gegenwärtige Bitte schliessen.

Doch auch dann, wenn es an einer solchen ausdrücklichen früheren Bitte fehlt, kann eine Sterbehilfe wohl kaum in sämtlichen Fällen als unzulässig betrachtet werden. Man denke an Menschen, die wegen ihres jungen Alters oder wegen ihres infantilen geistigen Zustandes bislang niemals wirklich in der Lage waren, um Sterbehilfe zu bitten. Es ist schwer nachvollziehbar, warum es einem mitfühlenden Arzt unter Strafe verboten sein soll, etwa einem Neugeborenen, dessen Leben mit Sicherheit nur aus einigen Monaten voller Schmerzen bestehen wird, mit Einwilligung der Eltern dieses Leben zu beenden.

Einwände gegen eine freie Sterbehilfe

Von Gegnern einer rechtlichen Freigabe der Sterbehilfe selbst unter den genannten Bedingungen werden regelmäßig eine Reihe von Einwänden vorgebracht. Die wichtigsten dieser Einwände sind die folgenden:

1.) Die Zulassung der Sterbehilfe ist der erste Schritt zu einer Neuauflage der Nazi-Euthanasie. – Diese Behauptung ist aus den folgenden Gründen abwegig. Eine Sterbehilfe unter den genannten Bedingungen war im „Dritten Reich“ keineswegs der „erste Schritt“ zu den später begangenen Euthanasie-Verbrechen. Der „erste Schritt“ zu diesen Verbrechen war vielmehr die Außerkraftsetzung der Menschenrechte in einem totalitären Staat. In einer intakten Demokratie wie in den Niederlanden oder in Deutschland sind Euthanasieaktionen wie die der Nationalsozialisten nicht zu befürchten.

2.) Unter den Bedingungen einer effektiven Palliativmedizin besteht gar kein Bedarf für
eine Zulassung der Sterbehilfe. Nur weil die Leiden von Menschen in ihrer letzten Lebensphase in unserer Gesellschaft oft nicht ausreichend behandelt werden, äußern Patienten überhaupt den Wunsch nach Sterbehilfe. – Zu dieser Behauptung ist zweierlei zu sagen. Erstens ist es für einen schwer leidenden Menschen ohne Nutzen, dass ihm zwar unter idealen, nicht aber unter realen Bedingungen palliativmedizinisch geholfen werden kann. Und zweitens ist die Behauptung, dass jedem oder nahezu jedem schwer leidenden Menschen medizinisch geholfen werden kann, einfach falsch: Allein im Fall von Krebsleiden im Endstadium versagt bei einem erheblichen Prozentsatz der Patienten auch die beste Palliativmedizin. Die von Sterbehilfegegnern häufig erhobene Forderung „Betreuung statt Sterbehilfe“ ist deshalb ebenso verfehlt, wie es eine generelle Forderung „Physiotherapie statt Bandscheibenoperation“ wäre. In beiden Fällen sollte das eine wie das andere genau jenen Patienten, denen es in ihrer jeweiligen Lage helfen kann, optimal zur Verfügung stehen.

3.) Selbst wenn eine rechtliche Freigabe der Sterbehilfe nicht zu einem Dammbruch des Lebensschutzes im Sinne der Nazi-Euthanasie führt, so würde sie doch in ihrer praktischen Anwendung dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. – Diese Behauptung ist ebenso unbestimmt wie unbewiesen. Dass es in der Alltagspraxis vorsätzliche wie auch fahrlässige Falschanwendungen einer gesetzlichen Freigabe der Sterbehilfe geben würde, lässt sich gewiss nicht ausschließen. Es ist jedoch zu fragen: Sind solche Falschanwendungen als sehr wahrscheinlich anzusehen? Und wenn ja, wie häufig sind sie zu erwarten? Ist die zu erwartende Häufigkeit des Missbrauchs wirklich so groß, dass die andererseits mit Sicherheit zu erwartenden Vorteile einer Freigabe im Sinn der Leidensbeendigung mehr als aufgewogen würden? Schließlich erlaubt unsere Rechtsordnung ja auch das Töten im Fall von Notwehr, obschon es auch hier Missbrauchsfälle geben kann und tatsächlich auch gibt. Und außerdem: Könnte es nicht sogar zutreffen, dass es bei dem gegenwärtigen Verbot der Sterbehilfe in Wahrheit kaum weniger Fälle ethisch illegitimer, jedoch im Dunkeln bleibender Tötungen im Umkreis der Sterbehilfe gibt als unter Bedingungen einer an feste Voraussetzungen geknüpften, ethisch begründeten rechtlichen Freigabe?

Aktive, indirekte und passive Sterbehilfe

Die Problematik um eine rechtliche Freigabe der Sterbehilfe kompliziert sich dadurch, dass man juristisch wie medizinisch drei Formen von Sterbehilfe zu unterscheiden pflegt: die aktive, die indirekte und die passive Sterbehilfe. In diesen drei Formen der Sterbehilfe wird der Tod des Betreffenden auf unterschiedliche Art bewirkt: In der aktiven Form wird er gezielt herbeigeführt durch ein Handeln; in der indirekten Form wird er in Kauf genommen als Nebenwirkung einer gezielten Schmerzbekämpfung; in der passiven Form wird er bewirkt (sei es gezielt oder in Kauf genommen) durch den Verzicht auf eine mögliche, lebensverlängernde Behandlung.

Die passive Form der Sterbehilfe wird vom derzeit geltenden deutschen Strafrecht nicht ausdrücklich verboten und inzwischen allgemein als zulässig betrachtet. Tatsächlich folgt diese Zulässigkeit bereits aus dem in der Medizin- wie Rechtsethik allgemein anerkannten Prinzip der Patientenhoheit. Dieses Prinzip besagt zwar nicht, dass ein Arzt all das tun muss oder zumindest tun darf, worum der Patient ihn bittet, wohl aber, dass der Arzt all das nicht tun darf, wozu der Patient ihn nicht ausdrücklich oder stillschweigend ermächtigt. So darf ein Arzt einem Patienten etwa keine lebensrettende Bluttransfusion geben, falls der Patient diese aus religiösen Gründen ablehnt. Erst recht aber darf ein Arzt danach einen schwer und unheilbar leidenden Patienten dann nicht (weiter) behandeln, wenn der Patient diese Behandlung, weil er sterben will, ablehnt.

Umstritten ist allerdings die Frage, ob der Arzt unter diesem Gesichtspunkt auch berechtigt oder gar verpflichtet ist, eine im Einvernehmen mit dem Patienten begonnene Behandlung, um dessen aktuellen Sterbewunsch zu erfüllen, sogar durch ein dazu erforderliches Handeln abbrechen darf. Denn haben wir es hier nicht unvermeidlich mit jener aktiven Form der Sterbehilfe zu tun, wie sie das geltende Recht ausdrücklich verbietet? Diese Frage ist zu verneinen; denn eine ärztliche Behandlung muss, um gerechtfertigt zu sein, während ihrer gesamten Dauer von der Einwilligung des Patienten getragen sein. Das bedeutet, dass eine begonnene Behandlung, deren Beendigung der Patient fordert, auch dann nicht weitergeführt werden darf, wenn dieses Ziel im Einzelfall nicht durch ein bloßes Unterlassen, sondern nur durch ein Handeln (wie die Abschaltung eines laufenden Gerätes) realisiert werden kann.

Die indirekte Form der Sterbehilfe kommt in der Praxis vor allem in der Weise vor, dass bei einem Patienten, dessen Tod in absehbarer Zeit zu erwarten ist, durch die Überdosis eines Schmerzmittels der Todeseintritt beschleunigt wird. Nach fast einhelliger Auffassung unserer Juristen wird diese Form der Sterbehilfe inzwischen – nach einem langen Umdenkungsprozess in den vergangenen Jahrzehnten – als zulässig angesehen.

Bei konsequenter Betrachtung kann dieser Sichtweise jedoch nicht gefolgt werden. Denn erstens handelt es sich auch bei der indirekten Sterbehilfe eindeutig um eine aktive Sterbehilfe, nämlich im Unterschied zur direkten aktiven lediglich um eine indirekte aktive Sterbehilfe. Und es unterliegt keinem Zweifel, dass nach geltendem Recht prinzipiell auch derjenige eine strafbare Tötung begeht, der diese Tötung nicht zum eigentlichen Ziel seines Handelns macht, sondern lediglich als vorausgesehene Nebenwirkung seines Handelns in Kauf nimmt. Dies trifft etwa auf jemanden zu, der gezielt ein Haus durch Brandstiftung zerstört, obwohl er weiß, dass sich in dem Haus eine bewegungsunfähige Person aufhält, die sterben wird. Und zweitens macht es prinzipiell auch keinen Unterschied, ob das Opfer einer Tötung in Bälde ohnehin sterben würde oder nicht. Auch derjenige, der einen Menschen erschießt, der am nächsten Tag an einer Vergiftung sterben würde, macht sich wegen Totschlags strafbar.

Ja, auch bei anderen Taten als der Tötung ist es, was ihre Strafbarkeit angeht, nach geltendem Recht prinzipiell irrelevant, ob der Täter das rechtswidrige Ergebnis bei seiner Tat als eigentliches Ziel verfolgt hat oder ob er dieses Ergebnis, nachdem er es vorausgesehen hatte, lediglich als unvermeidbare Nebenwirkung seiner Tat in Kauf genommen hat. So gesehen, stellt sich die in unserer Gesellschaft derzeit herrschende, zum Strafgesetz in Widerspruch stehende Praxis der Zulassung der indirekten Sterbehilfe in Wahrheit als ein fragwürdiger Kompromiss dar: Um einer grundsätzlichen Neubewertung der gesamten Sterbehilfeproblematik aus dem Weg zu gehen, behandelt man die anscheinend weniger gravierenden Fälle aktiver Sterbehilfe unter Umgehung der gesetzlichen Regelung einfach als rechtsmäßig und erklärt gleichzeitig die geltende gesetzliche Regelung als über jeden Zweifel erhaben.


Im Text zitierte Literatur:

(1) Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands: „Entschließung“, in: Monatsgruß für die Gemeinden des Evangelisch-Lutherischen Dekanats Würzburg, November 1988, S. 10

(2) Katechismus der Katholischen Kirche, München, 2003, Nr. 2277.

(3) Spaemann, Robert: Einsprüche, Einsiedeln 1977, S. 128.

UNSER AUTOR:

Norbert Hoerster war von 1974 bis 1998 C4-Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Mainz. Von ihm ist zum Thema erschienen: Sterbehilfe im säkularen Staat (193 S., € 10.—, 2. Auflage 2002, stw 1377, Suhrkamp, Frankfurt).