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STICHWORT

Christian Strub:
Authentizität

Die Begriffsverwendung

Dem amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaftler Lionel Trilling (1905-1975) gebührt das Verdienst, in seiner Studie „Sincerity and Authenticity“ (1972) gezeigt zu haben, dass man erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts von einem ‘Authentizitätsdiskurs’ sprechen sollte; vorher soll diese Redeweise fehl am Platz sein. Dieser ‘Authentizitätsdiskurs’ ist insofern normativ, als er Personen nahelegt, sie führten genau dann ein zufriedenstellendes, erfülltes und geglücktes Leben, wenn sie sich möglichst oft ‘authentisch’ verhielten. ‘Authentizität’ (im Folgenden: A) soll also eine bestimmte positive Qualität des Verhältnisses einer Person zu sich selbst bezeichnen.

Hinsichtlich der Begriffsverwendung des deutschen Wortes ‘authentisch’, ‘Authentizität’ (und seiner Pendants in anderen europäischen Sprachen) deckt die ausschließliche Behandlung eines solchen A-Diskurses nur ein schmales Segment ab: Die Begriffsgeschichte von ‘authentisch’ zeigt noch eine ganze Bandbreite anderer Verwendungsweisen als die Bezeichnung eines personalen Selbstverhältnisses: Es gibt authentische Dokumente, authentische Kunstwerke, authentische Interpretationen, authentische Bühnendarstellungen, authentische Texte, authentische Musikaufführungen. Betrachtet man die ganze Bandbreite dieser Verwendungsweisen, so scheint A ein „Plastikwort“ (Pörksen) zu sein, das irgend eine Art von Echtheit, Unverfälschtheit, Ursprünglichkeit, Unverstelltheit, Unmittelbarkeit, Ungeschminktheit, Unverkrampftheit bezeichnen soll; was dies aber sein soll, scheint bei den Autoren, die sich mit A beschäftigen, derart zu variieren, dass man mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, es bei der begriffsgeschichtlichen Bestandsaufnahme zu belassen und ansonsten das Wort besser nicht zu benutzen. Von solchen Bestandsaufnahmen gibt es mittlerweile einige ( vor allem 2005 (a) und 2002; 2005 (b)); sie sind zwar informativ, erzeugen aber doch ein Gefühl der Hilflosigkeit nach der Lektüre, denn sie vermindern die Unübersichtlichkeit nicht. Man kann auch die Gegenstrategie einschlagen und versuchen, ein allgemeines (dann sehr abstrakt zu formulierendes) ‘A-Problem’ zu beschreiben, unter dem alle diese Verwendungsweisen in einen Zusammenhang zu bringen sind (vgl. Strub in 1997, 7-17). Und schließlich kann man den Wittgensteinschen Begriff der „Famlienähnlichkeit“ als heuristisches Instrument benutzen, um einen loseren Zusammenhang zwischen den Verwendungsweisen von ‘authentisch’ herzustellen (so am ehesten 1996).

Aufrichtigkeit versus Authentizität

Trilling zeigt uns einen Weg, mit der Schwierigkeit fertig zu werden, dass die Bedeutung von ‘authentisch’, selbst wenn man sie nur im Kontext personaler Selbstverständigung untersucht, doch sehr unscharf ist: ‘echt’, ‘redlich’, ‘unverstellt’ sind Eigenschaften, von denen man kaum glauben mag, dass sie hinsichtlich des personalen Selbstverhältnisses einen historischen Index haben. Dieser zeigt sich erst, wenn man Metabegriffe gleichsam wie Lackmuspapier an diese Eigenschaften hält; erst dann ist die (behauptete) Redlichkeit eines Achill, eines Sokrates, eines Giordano Bruno, eines Luther, wenn man denn von ihr sprechen will, als etwas kategorial anderes zu erkennen als die (behauptete) Redlichkeit eines Lenz, eines Van Gogh, eines Marlon Brando, eines Camus oder eines John Coltrane (um möglichst plakative Beispiele zu wählen). Trilling bedient sich der beiden Begriffe ‘Aufrichtigkeit (sincerity)’ und ‘Authentizität (authenticity)’ als solcher Metabegriffe und vertritt die These, dass etwa in der Mitte des europäischen 18. Jahrhunderts das persönliche Ideal der Aufrichtigkeit durch das der A abgelöst wird. Macht man sich Trillings These zu eigen, dann kann man den Aufrichtigkeits-Begriff als Konturierungsinstrument für den Bedeutungsgehalt von A benutzen – denn er soll ja das Gegenteil von dem beschreiben, was im A-Diskurs normativ gefordert ist.

Adam Smith schreibt in seiner Theory of Moral Sentiments (erstmals 1759), ein zivilisiertes Volk, das gewohnt sei, seinen natürlichen Gemütsbewegungen freien Lauf zu lassen, werde „dadurch freimütig, offen und aufrichtig “. Habe die Äußerung der Gemütsbewegungen diese Qualitäten, dann scheinen entsprechende Personen „häufig keine andere Genugtuung zu erstreben, als die, den Zuschauer von der Berechtigung ihrer Aufregung zu überzeugen, und seine Sympathie und Billigung zu gewinnen“ (V.ii.11). Heinrich von Kleist schreibt knapp 50 Jahre später (wohl autobiographisch) von Personen, „die sich, weil sie sich der Sprache nicht mächtig fühlen, sonst in der Regel zurückgezogen halten, plötzlich mit einer zuckenden Bewegung, aufflammen, die Sprache an sich reißen und etwas Unverständliches zur Welt bringen. Ja, sie scheinen, wenn sie nun die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen haben, durch ein verlegnes Gebärdenspiel anzudeuten, dass sie selbst nicht mehr recht wissen, was sie haben sagen wollen“. Sein Kommentar: „Es ist wahrscheinlich, dass diese Leute etwas recht Treffendes, und sehr deutlich, gedacht haben.“ Sie bezeugen eine gesellschaftliche Scham: „[M]an würde sich schon schämen, von jemandem, dass er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger seine Seele.“ („Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ [1805/6], ed. Sembdner, München 7. Aufl. 1983, 2. Bd., S. 323) Solche Leute sind nicht aufrichtig, aber sie sind authentisch. Was ist der Unterschied? Beide drücken ihr Inneres ‘irgendwie’ adäquat aus – und doch sind die Ergebnisse dieser Ausdrucksbemühungen denkbar verschieden: Auf der einen Seite der offene (und öffnende) Ausdruck, der andere Personen für sich einnimmt, auf der anderen Seite das unverständliche Herausplatzen mit nachfolgender Scham auf beiden Seiten.

Trilling selbst macht am Beispiel des Shakespeareschen Polonius deutlich, was er mit Aufrichtigkeit meint. Im “Hamlet” heißt es: “This above all: to thine own self be true // And it doth follow, as the night the day, // Thou canst not then be false to any man.” (Hamlet Z. 78-80) Dass es im Fall der Aufrichtigkeit um die „Übereinstimmung von mitgeteiltem und wirklichem Fühlen“ (1972, 12), also zwischen Sein und Schein, die Treue zu sich selbst usw. geht, ist nicht differenzbildend zur A. „Wer wünschte nicht, wahr zu seinem eigenen Selbst zu sein? Wahr, das heißt loyal, nie schwankend in Beständigkeit. Wahr, das heißt redlich: im Umgang mit dem Selbst darf es keine Ausflüchte geben.“ (ebd., 14) Der differenzbildende Punkt ist im Verhältnis zur Öffentlichkeit zu suchen. Anlässlich der Charakterisierung der modernen Künstlerexistenz des 20. Jahrhunderts schreibt Trilling den entscheidenden Satz, in dem er eine Differenz ums Ganze zwischen Aufrichtigkeit und A festlegt: „Diese Absicht [sc. nicht zu irgend einem Menschen falsch sein zu können] steht [im Fall der A] nicht mehr in derselben Weise im Vordergrund. Das heißt nicht, dass man sich heute moralisch nichts darauf zugute hielte, Falschheit gegenüber anderen zu vermeiden, sondern nur, daß dies nicht der bestimmende Zweck ist, wenn man dem eigenen Selbst treu sein möchte. [...] Das moralische Ziel, das man [im Fall der Aufrichtigkeit] im Auge hat, schließt ein öffentliches Ziel mit ein, mit all dem Respekt und Ansehen, die die Folge der korrekten Erfüllung einer öffentlichen Rolle sind.“ (ebd., 18)

Es geht im Fall des authentischen Selbstverhältnisses um nicht weniger als um das Konzept eines asozialen Ich – asozial insofern, als das Glücken oder Missglücken des Selbstverhältnisses einer Person nicht daran festgemacht werden kann, wie sich diese Person zu anderen Personen verhält . Dass das Verhalten einer authentischen Person zu anderen Personen gescheitert scheint, ist nur ein Fall, an dem besonders gut klar gemacht werden kann, worauf es nicht ankommt: Im Kleistschen Beispiel kann man von der missglückten Kommunikation gerade nicht darauf schließen, dass das Selbstverhältnis der unverständlich sprechenden Person gestört ist. Deshalb ist das authentische Ich auch niemals eines, das sich von der Gesellschaft zurückzieht – das kann nur ein aufrichtiges Ich (vgl. 2006 (b), 4: Ortlosigkeit).

Es gibt keinen scharfen historischen Schnitt, nach dem der Aufrichtigkeitsdiskurs durch den A-Diskurs abgelöst worden wäre. Man kann vielmehr von einer sehr langen Inkubationszeit sprechen, an deren Ende die Vorherrschaft des A-Diskurses steht. Das endgültige Ende des Aufrichtigkeitsdiskurses ist dadurch markiert, dass nicht mehr an die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen gesellschaftlich Allgemeinem und personal Individuellem geglaubt wird; Hegel ist der letzte große philosophische Protagonist, der diese Vermittlung noch gedacht hat. Damit ist A eigentlich eine Frustrationskompensationskategorie – eine Kategorie, die die Überforderung des Individuums durch die moderne Gesellschaft dadurch aufzufangen versucht, dass sie versichert, das wahre Selbst sei genau kein soziales mehr. „Die große Karriere des A-Begriffs [...] scheint darin begründet zu sein, dass der Einzelne in seiner Rolle als allgemeiner Mensch, als besonderes Mitglied von Gemeinschaften, Organisationen und als unvergleichliches, singuläres Individuum keinen Ort mehr findet, von dem aus er in der ‚obdachlosen’ Moderne diese unterschiedlichen Zumutungen zu synthetisieren vermöchte. So gesehen ist der A-Begriff Ausdruck und zugleich Symptom dieser Krise, also ein Krisenbegriff, der die Krise erfasst, selbst stets in der Krise ist und zugleich als ’Zauberwort’ die Krise zumindest partiell unsichtbar macht.“ (2006 (a), 10f., vgl. 2005 (a), 47)

Verschwiegenheit und Opazität des authentischen Selbst

Das authentische Selbst hat keinen Ort in der Gesellschaft; als solchermaßen ortloses ist es durch zwei Charakteristika gekennzeichnet:
a. Es ist verschwiegen. Es gibt keine Redesituation, in der eine Person sich rückhaltlos offenbaren könnte – und zwar nicht deshalb, weil sie es wegen irgendwelcher Machtverhältnisse nicht dürfte (wie noch im Fall der Aufrichtigkeit), sondern weil Sprache als öffentliches Kommunikationsmedium prinzipiell dazu ungeeignet ist, eine Person sich so ausdrücken zu lassen, wie sie ‘wirklich ist’. Schillers Distichon ‘Sprache’: ‘Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr’ (1797; ed. Fricke / Göpfert, München: Hanser 1962, Bd. 2, S. 81) ist prägnantester Ausdruck dieses prinzipiellen Versagens von Sprache als kommunikativen Mediums. Ein nicht ungewichtiger Teil der Literatur nach 1750 (Sturm und Drang) müht sich damit ab, die Inadäquatheit jeder sprachlichen Darstellung für das Innen einer Person zu zeigen (und dies sprachlich: d. h. im Medium Sprache Strategien seiner Auslöschung zu formulieren). Das Konzept der Aufrichtigkeit hingegen setzt immer voraus, dass ein Sprecher im Medium der Sprache rückhaltlos sagen kann, was er im Sinn hat; und genau deshalb auch rhetorisch verschleiern, lügen usw. kann; eine aufrichtige Person hat kein Problem mit dem Medium Sprache insgesamt, sondern höchstens mit seinem rechten Gebrauch.

Die philosophisch prägnanteste Beschreibung des authentischen als verschwiegenen Ichs liefert Heidegger in Sein und Zeit (1927): Charakterisiert er die gewöhnliche öffentliche Rede als ‘Gerede’ des ‘Man’ im § 35 (‘Man versteht nicht so sehr das beredete Seiende, sondern man hört schon nur auf das Geredete als solches. Dieses wird verstanden, das Worüber nur ungefähr, obenhin; man meint dasselbe, weil man das Gesagte gemeinsam in derselben Durchschnittlichkeit versteht’), so ist die eigentliche Existenz des Daseins durch das Hören auf den Ruf des Gewissens gekennzeichnet – der aber verschwiegen ist: ‘Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts. [...] Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens. So verliert es nicht nur nichts an Vernehmlichkeit, sondern zwingt das an- und aufgerufene Dasein in die Verschwiegenheit seiner selbst.’ (§ 56)

b. Das authentische Selbst ist sich selbst opak. Es kann sich bestimmter Techniken bedienen, um zu versuchen, das offenzulegen, was es so empfinden, handeln und sprechen lässt, wie es de facto empfindet, handelt und spricht. Dieses Etwas ist das Unbewusste (vgl. 1972, 133-135). Diese Techniken können aber niemals garantieren, dass es sich selbst findet – das Misstrauen gegenüber sich selbst bleibt dem authentischen Ich eingeschrieben wie dem aufrichtigen das Vertrauen, dass es in die Gesellschaft, in der es lebt, im Prinzip passt. Dies ist der Grund dafür, dass man zwar aufrichtig sein wollen kann, ohne dass allein die Kundgebung dieses Willens peinlich wäre; aber man kann eben nicht authentisch sein wollen, ohne direkt bei anderen Personen Verlegenheit und Scham zu provozieren (‘Ich bin jetzt authentisch’ als performativer Widerspruch: 2006 (a), 8f.; vgl. 1989 (b), 24-26). Das authentische Selbst muss sich in einer paradoxen Weise auf etwas verlassen, von dem es nicht weiß, was es ist und dem es ausgeliefert ist. Es drückt sich gerade da wirklich aus, wo ihm sein Ausdruck entgeht, wo es seinen Ausdruck nicht beherrscht. Deshalb erhält das konstitutive Misstrauen gegenüber sich selbst auch ein Doppel in den anderen Personen (den Smithschen „Zuschauern“): Mittlerweile existiert eine ganze Misstrauensindustrie, die nichts anderes perfektioniert als die Techniken des Aufspürens des ‘wahren’ Selbst hinter der Person, wie sie sich gibt.

Stil im postauthentischen Zeitalter

Die Attraktivität des Konzepts vom authentischen Selbst liegt in einem gewissen Heroismus. Wie im Fall des Kantschen Erhabenen starrt das Ich auf die Gesellschaft, die für es zu groß ist – um sich dann auf sein wahres Selbst zu besinnen, das jenseits aller sozialer Verhältnisse zu suchen ist – und ausschließlich dort. Diese Attraktivität dieses Konzepts vom authentischen Selbst verschwindet ungefähr in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts; damit ist es wirklich ein genuin modernes Konzept. Wodurch das Ende der Moderne konstituiert ist, ist hier nicht zu beschreiben; zu skizzieren ist vielmehr, was nach dem Ende von Aufrichtigkeit und A eigentlich noch bleibt (vgl. 2006 (c), 232f., 236f.). Es scheint in der Postmoderne nicht mehr darum zu gehen, einen Ort jenseits einer kontingenten Ich auszumachen, der durch oder jenseits der Prozesse ihrer Vermittlung als Telos (Aufrichtigkeit) oder sich den Vermittlungsversuchen prinzipiell entziehend (A) anzutreffen wäre; es scheint nun vielmehr darum zu gehen, die Individualität der Vermittlungsprozesse selbst (des Vermittelten als Vermitteltes): ihre jeweiligen Besonderheiten und Idiosynkrasien ‘konkret auszuleben’ (perform): das Individuelle des Vermittelten, das Eigentliche des Künstlichen, den ‘Stil’ des (‘je schon’) Stilisierten zu vollziehen. Mittels des Konzepts vom individuellen Stil wird versucht, dem A-Problem in seiner modernen Form zu entgehen. Zunächst setzt die Figur des Stils auf die unmittelbare Erfahrung des Ausdrucksmediums, dessen Verweis auf das Ausgedrückte für diese Erfahrung irrelevant ist. Alle Sorgfalt wird auf die Inszenierung gelegt; die gesteigerte Inszenierung führt zur Fetischisierung des Inszenierungsmediums selbst.

Inwiefern kann ein solcher Exzess des Stils der Tragödie der modernen A entgehen? Stil wäre das Besondere einer Person, das dadurch entsteht, dass sie das Ideal, das zu erreichen ihr Bedürfnis war, verfehlt und im Moment der Abweichung, d.h. des Zurückfallens auf sich ihr je Idiosynkratisches erzeugt. Dieses Zurückfallen ist unvermeidlich, weil die Vorbilder des Authentischen als Unvermittelten zwar weiter bestehen, aber unerreichbar, weil phantasmatisch sind. Die postauthentische Person sieht ein, dass dem so ist.

Plessners Anthropologie

Es Eine kühne Synthese von Aufrichtigkeits- und A-Diskurs bietet Helmuth Plessners Anthropologie, wie sie zum ersten Mal in Grenzen der Gemeinschaft’ (1924) dargestellt wird. In der Hochzeit des A-Diskurses – und noch vor seiner philosophisch letztgültigen Gestalt in Heideggers ‘Sein und Zeit’ (1927) – entstanden, versucht Plessner, den beiden Grundannahmen von Aufrichtigkeits- und A-Diskurs ihr Recht zu verschaffen, indem er sie in eine paradoxe Spannung zueinander setzt: Er versucht die Möglichkeit eines Diskurses zu skizzieren, der das Verhältnis von Aufrichtigkeit und A nicht als historische Abfolge begreift, sondern als anthropologisches Konstituens des Menschen. Laut Plessner bestimmen zwei grundlegende Formen von „Drang“ den Menschen: der „Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit.“ (1924, 63) Einerseits drängt es die menschliche „Seele“ ‚aufrichtig’ zum vollständigen körperlich-sprachlichen Ausdruck, andererseits weiß die Seele als „ewige Potentialität“ ‚authentisch’ um ihre eigene prinzipielle Unbestimmbarkeit in welchem Ausdruck auch immer; insofern ist sie „zweideutig“. „Darum aber fordert sie [die Seele] ebenso sehr das Urteil heraus und bedarf des Gesehenwerdens vom eigenen wie vom fremden Bewußtsein, da ihr keine andere Möglichkeit der Erlösung aus der Zweideutigkeit gegeben ist. Der doppeldeutige Charakter des Psychischen drängt zur Fixierung hin und zugleich von der Fixierung fort. Wir wollen uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und ungekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins.“ (63) Die Seele fühlt selbst, daß diese Vereindeutigungen ihr niemals adäquat sein können: „Darum erträgt die Seele, die seelenhafte Individualität, keine endgültige Beurteilung, sondern wehrt sich gegen jede Festlegung und Formulierung ihres individuellen Wesens.“ (63)
Die anthropologische Lehre, die Plessner daraus zieht, ist nicht die (authentische) von der Inadäquatheit und damit Verachtenswürdigkeit jedes Ausdrucks oder gar schon Ausdrucksversuchs, sondern das Plädoyer für Maske (vgl. 1972, 113f.), Zeremoniell, Diplomatie und Takt. In ihnen allen ist als Ausdrucksformen intrinsisch schon die Abdankung jedweder Absolutheitsansprüche auf vollständigen Ausdruck ausgedrückt; mittels ihrer kann man mit anderen Personen so umgehen, dass man ihnen den Reichtum seiner eigenen Persönlichkeit zeigt, ohne sich preiszugeben – und dasselbe anderen Personen ermöglichen. So gelesen wäre Plessners Konzept gar nicht weit entfernt von dem unter (4.) benannten postauthentischen Plädoyer für den Stil als Ausweg aus der modernen A-Krise.

UNSER AUTOR:

Christian Strub ist apl. Prof. am Philosophischen Institut der Universität Hildesheim und Studienreferendar in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Metaphorologie, Normentheorie, Editionen.


Literatur zum Thema:

(2006 a) Knaller, Susanne / Müller, Harro (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. 332 S., kt, € 39.90, 2006, München: Fink. Vor allem zum ästhetischen A.-Begriff seit 1750, Schwergewicht 20. Jahrhundert.

(2006 b) Benthien, Claudia / Martus, Steffen (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Vii, 373 S., € 112.—, 2006, Tübingen: Niemeyer 2006. Wichtig zur Bestimmung des Beginns des A-Diskurses.

(2006 c) Strub, Christian / Verwoert, Jan: Neue Gewissheiten der Postmoderne. Verschiebungen des Authentizitätskonzepts, in: Dialektik H.2, 2006, 219-237. Genealogische Standortbestimmung der Postmoderne mittels des A-Begriffs.

(2005 a) Knaller, Susanne / Müller, Harro: Art. ‘Authentisch / Authentizität’, in: Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart /Weimar: Metzler 2005, Bd. 7, 40-65. Bisher fundiertester Überblick zum A-Konzept.

(2005 b) Wentz, Daniela: Authentizität als Darstellungsproblem in der Politik: eine Untersuchung der Legitimation politischer Inszenierung. 104 S., kt., € 22.—, 2005, Stuttgart: Ibidem 2005. Auf den S. 11-29 ein Überblick zum A.-Problem für den ersten Einstieg.

(2002) Schlich, Jutta: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. IX, 186 S., € 25.—, 2002, Tübingen: Niemeyer 2002. Breitgestreuter Überblick über den A-Diskurs seit Beginn der Moderne.

(2001) Kramer, Christine: Lebensgeschichte, Authentizität und Zeit. Zur Hermeneutik der Person. 239 S., kt., € 45.20, 2001, Bern: Lang 2001. Diskussion der Ansätze von Rorty, Nussbaum, Taylor, Rousseau und Blumenberg.

(1999) Noetzel, Thomas: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung. 187 S., Ln., 1999, € 49.80. Berlin: Akademie. Auf den S. 17-41 nach Disziplinen geordnet ein brauchbarer Überblick über die Diskussionslage.

(1998) Ferrara, Alessandro: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, 200 S., € 31.95, 1998, London / New York: Routledge. Bisher letzter großangelegter Versuch, das authentische Zeitalter durch Transformation zu retten.

(1997) Berg, Jan / Hügel, Hans-Otto / Kurzenberger, Harro (Hg.): Authentizität als Darstellung. 1997, Hildesheim: Universität Hildesheim. Sammelband mit Schwerpunkt auf Theater- und Filmwissenschaft

(1996) Lethen, Helmut: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme / Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften, Hamburg 1996, 205-231. Meines Erachtens die bislang eleganteste Behandlung des A-Diskurses in seiner ganzen Breite.

(1991) Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, 144 S., kt., € 8.50, 1995, Frankfurt a. M., Suhrkamp. Paralleler Titel: The Ethics of Authenticity. Kritik des modernen ‘Subjektivismus’ und ein moralischer Versuch, ihm zu entkommen.

(1989 a) Taylor, Charles : Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 912 S., kt., € 20.—, stw 1233, 1989, Frankfurt a. M.: Suhrkamp

(1989 b) Engler, Wolfgang: Die Konstruktion von Aufrichtigkeit. Zur Geschichte einer verschollenen diskursiven Formation. Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1989. Leider ungenügend rezipierte Studie zum Beginn des A-Diskurses.

(1983). Foucault, Michel: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia Berkeley-Vorlesungen, 192 S., kt., € 13.50, 1996 (französisches Original 1983), Berlin: Merve. Zur antiken Diskussion der Aufrichtigkeit.

(1972) Trilling, Lionel: Das Ende der Aufrichtigkeit, 164 S., kt., € 19.90, 1980, München: Hanser Orig.: Sincerity and Authenticity (1972) ;unumgänglich für jede Diskussion des Konzepts.

(1924) Plessner, Helmuth; Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, 145 S., kt., € 8.50, 2002 stw Frankfurt a. M.: Suhrkamp.