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ESSAY

Demmerling, Christoph: Echte und unechte Gefühle.

Was sind Gefühle?

Gefühle werden ähnlich wie Gedanken, Wahrnehmungen oder Empfindungen häufig als geistige Zustände oder Prozesse aufgefasst. Gefühle sind jedoch keine ‚rein’ geistigen Gebilde, sondern sie sind – anders und in einem stärkeren Ausmaß als Gedanken oder Überzeugungen – mit bestimmten körperlichen (physiologischen) Prozessen verbunden, die nicht im engeren Sinne mentaler Art sind. Außerdem stellen Gefühle qualitative Zustände oder Prozesse dar, die aus der Perspektive dessen, der sie hat, auf eine bestimmte Weise erfahren werden. Gefühle sind nicht nur von Gedanken, sondern auch von bloßen Empfindungen wie einer Hitzewallung oder einem Schmerz im Knie zu unterscheiden. Die meisten Gefühle haben einen Gehalt und lassen sich anders als bloße Empfindungen – im Übrigen wie Gedanken oder Überzeugungen – als intentionale Zustände charakterisieren. Gefühle sind auf Objekte oder Sachverhalte bezogen, d.h. sie weisen einen Weltbezug auf.

Gefühle bilden zwar keine natürliche Art, so dass sich mit Hilfe einer allgemeinen Definition notwendige und hinreichende Bedingungen angeben ließen, die ein Gefühl erfüllen müsste, um als Gefühl gelten zu können. Ich gehe vielmehr davon aus, dass es eine Reihe von Gefühlen wie z.B. Angst, Scham oder Neid gibt, die sich bestimmte Merkmale teilen, dass es aber auch Gefühle gibt – man denke an Dankbarkeit –, bei denen dies nicht der Fall ist. Statt nach einer allgemeinen Definition zu suchen, ist es sinnvoller davon auszugehen, dass Verwandtschaften von Gefühlen nicht aufgrund gemeinsam geteilter Merkmale, sondern aufgrund von Familienähnlichkeit bestehen. Im Kernbereich lassen sich allerdings trotzdem gewisse Aspekte auszeichnen.

Ein Beispiel verdeutlicht dies. Maria ist ziemlich aufgeregt vor ihrem Examen. Sie hat Angst durchzufallen, irgendetwas nicht zu wissen, eine schlechte Note zu erhalten. Das ist der Weltbezug der Angst. Marias Angst nun lässt sich aus mehreren Perspektiven betrachten. Wir können sie von außen beschreiben und das bleiche Gesicht erwähnen, den leicht zitternden Körper. Ein Mediziner könnte sie an bestimmte Geräte anschließen. Er könnte den Blutdruck und den Puls messen und etwas über die neuronalen Prozesse sagen, die sich in ihrem Nervensystem und Gehirn abspielen. Das ist die Außenperspektive auf Marias Angst, die Perspektive der dritten Person. Hier werden die mit der Angst verbundenen körperlichen Prozesse erfasst, und das für die Angst typische Ausdrucksverhalten wird registriert. Für Maria selbst aber ist die Angst zunächst einmal keine Frage der Pulsfrequenz oder neuronaler Prozesse. Es fühlt sich für sie auf eine bestimmte Weise an, diese Angst zu haben. Um diesen Aspekt zu charakterisieren, bieten sich ein Begriff wie derjenige des phänomenalen Erlebens und die Rede von der Subjektivität der Gefühle an.

Das Beispiel zeigt, dass Gefühle in physiologischen und neuronalen Prozessen wurzeln, aber eine davon zu unterscheidende Empfindungsqualität besitzen, eine phänomenale Qualität, die an die Perspektive der ersten Person gebunden ist und sich nicht auf physiologische Komponenten reduzieren lässt.

Mit dem intentionalen Gehalt, dem mit Gefühlen verbundenen physiologischen Geschehen und dem phänomenalen Erleben sind drei Aspekte von Gefühlen genannt, die im Zusammenhang mit einer Antwort auf die Frage, was ein Gefühl ist, von besonderer Wichtigkeit sind. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass in einer ganzen Reihe von Fällen weitere Aspekte – ich nenne lediglich die Handlungsmotivation – zu berücksichtigen sind.


Das Problem der emotionalen Synthesis

Diese kurze Skizze darf nicht als Variante einer so genannten Komponententheorie der Gefühle aufgefasst werden. Komponententheorien stehen vor dem Problem, keine gute Antwort auf die Frage geben zu können, wie die verschiedenen Bestandteile zusammenhängen, welche ein Gefühl konstituieren. Sie zerlegen in der Analyse, was in der Lebenserfahrung als Einheit gegeben ist. Das Problem, welches Komponententheorien nicht lösen können, bezeichne ich als das Problem der emotionalen Synthesis. Wer – um einmal den Zorn als Beispiel anzuführen – gleichzeitig das Urteil fällt, dass ihm von dritter Seite ein Unrecht widerfahren ist (Weltbezug), eine bestimmte Art von Erregungsprozess (Physiologie und Neurologie) durchläuft und phänomenale Qualitäten einer bestimmten Art verspürt (Phänomenologie), dem ist nicht notwendigerweise ein Zorngefühl zuzuschreiben. Um berechtigterweise von einem Zorngefühl sprechen zu können, müssen die unterschiedlichen Bestandteile nicht einfach nur gleichzeitig auftreten, sondern in einer voneinander abhängigen Weise miteinander verwoben sein. Gefühle sind immer ganze Gestalten, deren einzelne Aspekte gleichursprünglich gegeben sind.

Die überzeugendsten Antworten auf das Problem der emotionalen Synthesis sind diejenigen, welche die Genese von Gefühlen beim einzelnen Individuum in die Betrachtung einbeziehen, und insbesondere auf die soziale Strukturierung des emotionalen Erlebens im Verlauf einer Biographie aufmerksam machen. Vereinfacht ausgedrückt lernen menschliche Lebewesen in der sozialen Interaktion, Aspekte einer Situation auf ihre körperlichen Zustände, aber auch ihr phänomenales Erleben zu beziehen, und werden durch Interpretationen zweiter oder dritter Personen mit einem Muster zur Deutung des eigenen Zustandes ausgestattet. Man kann davon ausgehen, dass kleine Kinder – und je nach biologischer Ausstattung in einem gewissen Rahmen auch Tiere – über eine Reihe von genetischen Dispositionen verfügen, angeborene Gefühle durch ein bestimmtes motorisches, gestisches und mimisches Verhalten auszudrücken. In der empirischen Forschung – zu denken ist vor allem an Untersuchungen von Paul Ekman – hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass es sich bei diesen ‚Affekten’ um Ekel, Überraschung, Neugier/Interesse, Freude, Traurigkeit, Ärger und Furcht handelt. Außerdem besteht in der einschlägigen Forschungsliteratur eine gewisse Übereinstimmung darüber, dass der mimische, in Bewegungen der Gesichtsmuskulatur verankerte Ausdruck von Gefühlen besondere Relevanz besitzt. Weiterhin scheint die – bereits hinter Darwins Untersuchungen zum Ausdruck von Gefühlen stehende – Annahme sinnvoll zu sein, von einer (anfänglichen) Übereinstimmung zwischen Ausdruck und Gefühl auszugehen und den Schluss von einer bestimmten Art von Gesichtsausdruck auf einen bestimmten Affekt als gerechtfertigt anzusehen. Der Gefühlsausdruck ist nicht nur Anzeichen eines Gefühls, sondern in einem bestimmten Sinne auch dessen Produzent. Grob beschrieben dürfte man sich den Prozess der frühesten Affektartikulation wie folgt vorstellen: Aufgrund einer bestimmten Art von Situation wird beim Kind ein neuronales und sensorisches Erregungsmuster in Gang gesetzt, welches zu unwillkürlichen Bewegungen der Gesichtsmuskulatur führt, die im phänomenalen Erleben des Kindes als Gefühl verspürt werden. Diese noch rohen, vom Kind einfach nur erlebten Empfindungen werden in der Interaktion mit Betreuungspersonen zu Gefühlen moduliert. Es könnten solche in der Interaktion erworbenen Muster sein, welche für die Einheit des Gefühls sorgen. Die Elemente eines Gefühls, die sich in der Analyse voneinander getrennt betrachten lassen, sind in der Erfahrung gleichursprünglich als Einheit gegeben und werden als ganze Gestalt aufgefasst.
Wenden wir uns nach dieser kurzen Antwort auf die Frage, was Gefühle sind, dem Problem der Echtheit bzw. Unechtheit von Gefühlen zu.

Unechtheit von Gefühlen

Gefühle werden häufig bereits als solche als authentisch angesehen, da sie auf besondere Weise mit den Personen, die sie hegen, verknüpft zu sein scheinen. Aber nicht alle Gefühle sind echte Gefühle, weshalb die Unterstellung, Gefühle seien bereits als solche authentisch, zutiefst fragwürdig ist. Ich möchte vier Fälle voneinander unterscheiden, die im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Echtheit von Gefühlen zu betrachten sind:

- gespielte, inszenierte, vorgetäuschte und geheuchelte Gefühle (1)

- Gefühle als Ergebnisse von Täuschung, Verdeckung und Verdrängung (2)

- kulturell bzw. technisch erzeugte oder manipulierte Gefühle (3) und schließlich

- unangemessene, unpassende Gefühle (4).

(1) Gefühle, die nicht wirklich verspürt, sondern nur vorgetäuscht, gespielt oder geheuchelt werden, gelten gemeinhin nicht als echte Gefühle. Der Heiratsschwindler heuchelt Zuneigung und Liebe, ohne sie zu verspüren. Ähnliches gilt für Schauspieler auf der Bühne. Auch sie simulieren Gefühle, die sie nicht haben. Man muss kein Heiratsschwindler oder Schauspieler sein, um in Situationen zu geraten, in denen man Gefühle heuchelt oder sie spielt. Im Alltag werden Gefühle häufig aufgrund sozialer Konventionen vorgetäuscht: Man ‚trauert’ über den Tod eines ungeliebten Verwandten, weil man sein Gesicht wahren möchte oder glaubt, bestimmten Konventionen entsprechen zu müssen. Streng betrachtet handelt es sich in diesen Fällen nicht um unechte Gefühle, sondern lediglich um den unechten Ausdruck eines Gefühls. Die Differenz zwischen einem echten Gefühl und einem geheuchelten oder gespielten Gefühl lässt sich scheinbar leicht fassen: Im Unterschied zu einem gespielten Gefühl ist ein Gefühl dann echt, wenn es tatsächlich erlebt wird. Reicht es aus, ein Gefühl zu verspüren, um es als echt zu klassifizieren? Dass ein Gefühl tatsächlich erlebt wird, ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Echtheit eines Gefühls. Das zeigt sich, wenn wir Gefühle als Produkte von Selbsttäuschungen, Verdeckungen und Verdrängungen in den Blick nehmen. Auch derartige Gefühle sind in einem bestimmten Sinne unecht, obwohl sie erlebt bzw. verspürt werden. Ein Beispiel vergegenwärtigt dies.

(2) Stephan, verheirateter Lehrer, Vater von drei Kindern, empört sich im Gespräch mit einem Kollegen über Michael. Er und Michael hatten gemeinsam Anglistik studiert, bevor Michael sich von der Vorstellung Lehrer zu werden verabschiedet hatte und in die Finanzdienstleistungsbranche wechselte. Gestern haben sich Stephan und Michael zufällig in der Stadt getroffen. Michael mit einem funkelnagelneuen Sportwagen in bester Ausstattung. Schon wieder mit einer neuen Freundin, bestimmt fünfzehn Jahre jünger als er. Michael prahlt damit, dass er inzwischen mit zehn bis zwölf Stunden Arbeit in der Woche sein Geld mache, da mittlerweile andere für ihn arbeiten würden und die Leute, sobald sie Ausdrücke wie „Steuersparmodell“ oder „Altersvorsorge“ hörten, jede Art von Finanzdienstleistung in Anspruch nähmen, und die werfe hohe Provisionen ab. Stephan empört sich dem Kollegen gegenüber über Michaels ‚unehrliche’ Arbeit, seine Frauengeschichten und seinen insgesamt leichtfüßigen Lebensstil. Er hält dessen Lebensform auf der ganzen Linie für moralisch verwerflich. Darauf, dass er – eingespannt in den Lehrer- und Familienalltag und durch eine Immobilienfinanzierung dazu gezwungen, auf bescheidenem Fuß zu leben – einfach nur neidisch sein könnte, kommt Stephan nicht.

Er verdrängt den eigenen Neid, verwechselt ihn mit moralischer Empörung über eine ungerechte Welt, in der – Stephans Perspektive – ein Schlawiner wie Michael das große Geld macht. Stephan käme nie darauf, neidisch zu sein. Seine kulturelle Umgebung macht es ihm leicht. Während Empörung allgemein akzeptiert wird, gilt Neid als schlechtes Gefühl, im Christentum als Todsünde. Aufgrund von kulturell und sozial etablierten Emotionsnormen ist Stephan geneigt, das eigene Gefühl des Neides als Empörung zu identifizieren. Die in einem bestimmten Sinne fälschlich zugeschriebenen Gefühle lassen sich als „unecht“ ansehen. Dies gilt für den Fall, in dem man sich ein anderes Gefühl als das zuschreibt, welches man hat (Empörung statt Neid zum Beispiel). Es gilt aber auch für den Fall, in dem man sich ein Gefühl zuschreibt, welches man gar nicht hat. Man kann fälschlicherweise glauben, jemanden zu lieben oder gegenüber jemandem dankbar zu sein.

Die Täuschung über ein Gefühl kann vielfältige Gründe haben. Wunschdenken, die Erwartungen anderer Menschen, Normen der Bewertung von Gefühlen, führen dazu, dass wir uns häufig andere Gefühle zuschreiben, als die, die wir haben. Anders als beim Spiel oder im Zusammenhang mit der Heuchelei ist die Täuschung über ein Gefühl nichts, was absichtlich geschieht. Der Gefühlsverdeckung und -verdrängung liegen komplexe Mechanismen der Selbsttäuschung zugrunde, denen ich hier nicht ausführlich nachgehen kann.

(3) Dass Gefühle bereits als solche authentisch sind, ist ein Vorurteil, welches sich aus guten Gründen bestreiten lässt. Häufig sind es kulturelle Diskurse, die Gefühle nahe legen und für bestimmte Situationen Gefühlsmuster und Pathosformulare bereitstellen. Inwieweit Gefühle kulturell erzeugt und manipuliert werden können, zeigt regelmäßig die Wirkung von Literatur und Film. Hier werden die Muster des emotionalen Erlebens geprägt. Sind im skizzierten Sinne kulturell erzeugte oder nahegelegte Gefühle echte Gefühle?

Auch wenn kaum jemand die Beantwortung dieser Frage mit „ja“ bezweifeln würde, gilt es einen Augenblick innezuhalten. Wie ist die Frage nach der Echtheit eines Gefühls zu beantworten, wenn dieses Gefühl nicht durch kulturelle Wahrnehmungsmuster, sondern durch psychopharmakologische Modulation erzeugt wurde? Stellen wir uns ein fingiertes Medikament namens Familiaris vor, welches Zuneigung und Wohlwollen gegenüber Personen, die einen häufig umgeben, auslöst. Sind die mit Hilfe dieses Medikaments erzeugten Gefühle echte Gefühle oder sind sie es nicht? Die Intuitionen bezüglich meiner Beispiele werden auseinander gehen. Wer für das Scheitern seiner Liebesbeziehung das Pathosformular Vom Winde verweht verwendet, hat gute Chancen, als authentisch durchzugehen, während die Gefühle des Familiaris-Nutzers wahrscheinlich als unecht angesehen werden würden.

Gerade bezogen auf technisch erzeugte Gefühle wird häufig die Ansicht vertreten, dass es sich um künstliche, daher nicht um echte Gefühle handelt. Aber warum soll ein künstlich erzeugtes Gefühl kein echtes Gefühl sein? Auf den ersten Blick jedenfalls ist nicht zu sehen, wodurch sich ein kulturell erzeugtes (durch mediale Vorbilder, durch Tradition und Üblichkeit, durch Erwartungen anderer Personen) Gefühl von einem pharmakologisch modulierten hinsichtlich seiner Echtheit unterscheidet.

(4) Können Gefühle überhaupt unpassend oder unangemessen sein? Die Angst vor der Besteigung des Matterhorns über die Nordwand ist angemessen, die Angst vor einer Stubenfliege ist es nicht. Die Kategorie der Angemessenheit erfordert auf Gefühle bezogen eine komplexe Erläuterung, die ich hier nicht liefern kann. Ich kann dazu lediglich eine These formulieren: Gefühle können dann als angemessen gelten, wenn sie sich als stabile und intersubjektiv geteilte Dispositionen in Anbetracht bestimmter Fälle so und so zu reagieren, etabliert haben. Dementsprechend wäre das Gefühl der Angst in einer Situation dann als angemessen anzusehen, wenn hierfür geeignete Personen dazu disponiert sind, auf eine vergleichbare Situation mit Angst zu reagieren und wenn die entsprechende Reaktion (gut) begründet werden kann. Es ist unschwer zu sehen, dass zur Erläuterung der Rede von der Angemessenheit eines Gefühls auf Rationalitätskriterien zurückgegriffen werden muss, auf Grundlage derer über die Frage, ob und wann ein Gefühl angemessen ist, geurteilt werden kann. Ein Gefühl, welches unbegründet ist und rational undurchdringbar bleibt (denken wir noch einmal an die Angst vor einer Stubenfliege), ist aber zweifellos ein echtes Gefühl, zumal es in der Regel ja verspürt wird. Ob ein Gefühl zur Welt passt oder nicht, ist eine Frage, die zunächst einmal nichts damit zu tun hat, ob es echt oder unecht ist.

Aber passend oder unpassend können Gefühle auch noch in einem anderen Sinne sein. Man kann nicht nur danach fragen, ob ein Gefühl zur Welt bzw. zu einer bestimmten Situation passt. Man kann auch fragen, ob ein bestimmtes Gefühl zu einer Person passt. Ein friedliebender und anderen Personen gegenüber wohlwollender Mensch, der plötzlich aufgrund eines nichtigen Ereignisses Hass und Aggression gegenüber anderen verspürt, wird diese Gefühle als unpassend erfahren, da sich für ihn kein stimmiges Bild seiner selbst ergibt. Auch aus einer Beobachterperspektive heraus würde man in einem derartigen Fall sagen, dass das Gefühl nicht zu der Person passt.

Erste Person und dritte Person

Auch wenn die Perspektive der ersten Person kein in jeglicher Hinsicht verlässliches Kriterium zur Unterscheidung von echten und unechten Gefühlen bietet, lassen sich im Rückgriff auf diese Perspektive Erfahrungen des Unterschieds zwischen einem echten und einem unechten Gefühl beschreiben. Zu denken ist an Situationen, in denen man ein Gefühl, das man sich zuschreibt, nicht als stimmig erlebt und eine andere Deutung der jeweils eigenen Befindlichkeit als passender ansieht. Als „nicht-authentisch“ sind alle Gefühle und Handlungen anzusehen, die zu den eigentlichen Lebenszielen im Widerspruch stehen, als authentisch diejenigen, die mit den eigenen Zielen übereinstimmen.
Dieser Begriff von Authentizität ist zunächst auf das Selbstverhältnis bezogen. Das schließt aber nicht aus, dass die Gefühle von jemandem auch aus der Außenperspektive, von anderen Personen, als mehr oder weniger authentisch wahrgenommen werden können. Ebenso wie man selbst den Eindruck haben kann, dass bestimmte Gefühle besser oder schlechter zu einem passen, so können auch andere diesen Eindruck gewinnen. Auch sie können unsere Befindlichkeit und das mit dieser einhergehende Verhalten unter dem Gesichtpunkt der Stimmigkeit und Kohärenz beurteilen.

In der Diskussion über Neuroperfektionierung ist dies von besonderem Interesse. Aus der Perspektive erster Personen, die psychopharmakologisch bedingt ein Gefühl verspüren, spricht nichts dafür, an der Echtheit der betreffenden Gefühle zu zweifeln. Eine allgemeine Antwort auf die Frage, ob durch Medikamente erzeugte Gefühle unecht sind, lässt sich im Rückgriff auf das Kriterium der Stimmigkeit nicht formulieren. Zieht man Erfahrungsberichte zu Rate, wird das Bild nicht eben klarer. Peter Kramer berichtet in seinem Buch Listening to Prozac von Patientinnen wie Tess und Julia, die das Medikament als einen Helfer bei der Selbstwerdung erfahren, während Patienten wie Philip die durch das Medikament bedingten Veränderungen als Identitätsverlust und unter dem Gesichtspunkt der Selbstentfremdung wahrnehmen.

Aus der Perspektive dritter Personen (damit meine ich die Außenperspektive eines unbeteiligten Beobachters) und mehr noch zweiter Personen (damit meine ich die Perspektive von jemandem, der in engagierter Form mit den Betroffenen interagiert), werden durch Medikamente erzeugte Gefühle häufiger als ‚unecht’ qualifiziert, sofern sie demjenigen, der diese Gefühle hat, nicht ‚wirklich’ zugehörig zu sein und nicht zu ihm und seiner Situation zu passen scheinen. Dass macht deutlich, inwieweit im Zusammenhang mit der Frage, ob ein Gefühl ‚passt’ und stimmig ist, die Erwartungen, welche andere an die Gefühle von Personen haben, eine Rolle spielen. So könnte man die Unbeschwertheit und soziale Unbekümmertheit einer Person, die bis dahin als gedrückt und scheu bekannt war, als aufgesetzt wahrnehmen und deren Freude als künstlich oder unecht einstufen.

Neuro-Perfektionierung

Von der Echtheit bzw. Unechtheit von Gefühlen lässt sich – wie wir gesehen haben – in ganz unterschiedlichem Sinn reden. Klar jedenfalls sollte geworden sein, dass ein echtes Gefühl nicht notwendig im Gegensatz zu einem künstlichen Gefühl zu sehen ist. In der Perspektive des Erlebens können künstlich erzeugte Gefühle durchaus echt sein. Und auch Gefühle, die man gemeinhin für echt hält, können durchaus Produkte subtiler Manipulation und einer Person auf undurchschaubare Weise nicht zugehörig sein.

Warum künstlich erzeugte Gefühle weniger wert sein sollen als solche, die auf natürliche Weise entstehen, ist auf den ersten Blick nicht zu sehen. Unklar ist auch, warum ein technisch erzeugtes Gefühl (zum Beispiel mit Hilfe von Psychopharmaka) schlechter sein soll als ein kulturell manipuliertes (bedingt etwa durch das Anschauen bestimmter Fernsehserien).

Der Nutzen von Psychopharmaka wie beispielsweise Antidepressiva besteht zunächst einmal darin, dass es den betroffenen Personen besser geht. Die Medikamente sorgen für eine gute Stimmung. Mit Antidepressiva lässt sich diese Wirkung direkt erzielen, andere neuropharmakologische ‚Verbesserer’ ziehen den Effekt einer gehobenen Stimmung indirekt nach sich. Die Verbesserung von Gedächtnisleistungen, intellektuelle Fitness, anhaltende Phasen der Wachheit, Steigerungen der Leistungsfähigkeit, alles dieses sind Kompetenzen, die Menschen gerne haben. Der Besitz solcher Fähigkeiten sorgt für ein positives Selbstverhältnis und ihre Kultivierung kann als Befreiung von Einschränkungen erlebt werden. Gleiches wie für Psychopharmaka gilt im Übrigen auch für viele Drogen. Selbst wer sich nur flüchtig mit der nicht nur in der Kulturgeschichte des Abendlandes weit verbreiteten Auseinandersetzung mit den künstlichen Paradiesen beschäftigt, kann viele Zeugnisse des Lobs der Droge finden. Bewusstseinserweiterung, Kreativitätsförderung, Entgrenzung – dies sind nur einige der Stichworte, welche den Radius des Nachdenkens über göttliche Gifte markieren.

Dem Nutzen von neuropharmakologischen ‚Verbesserern’ oder auch von Drogen stehen etwaige Nebenwirkungen sowie das Suchtpotential mancher Substanzen entgegen. Enhancementverfahren können überdies einen maßgeblichen Beitrag zur Selbsttäuschung und Selbstbetrug leisten und auch auf diese Weise dazu führen, dass sich eine Person von sich entfernt. Man kann wie ja auch unter bestimmten Drogen zu der Überzeugung gelangen, dass man anders und besser ist als man ist. Welche Aspekte hier stärker zu gewichten sind, lässt sich am Ende wohl nur im Rahmen einer am Einzelfall orientierten Kosten-Nutzen-Bilanz ermitteln. Sind das Gründe die Verwendung neuropharmakologischer Substanzen abzulehnen?

Echtheit ist im Selbstverhältnis und für das Selbstverständnis zweifelsohne bedeutsam. Bedeutsam ist Echtheit ebenfalls im Verhältnis zu anderen Personen. Auch wenn sich im Einzelfall Echtheit auf der Grundlage verschiedener Kriterien nur schwierig eruieren lässt und es kaum möglich ist, für psychische Zustände Zeugnisse der Echtheit auszustellen, so führen doch die Gefühle, mit denen wir natürlicherweise auf unsere Umwelt reagieren, zumeist zu einem stimmigen Gesamtbild unserer Person. Diese Art der Stimmigkeit stellt im Rahmen des Verhältnisses zu sich einen Wert dar. Das gilt auch für das Verhältnis zu anderen Menschen. Es stellt einen Wert dar, wenn die eigene Person als stimmig erlebt wird, ihre Reaktionen als passend erfahren werden. Plötzliche Veränderungen dieser Lagen ziehen Dissonanzen und Irritationen nach sich. Sie führen zu Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion. Unabhängig von der Frage, ob Echtheit als solche etwas wert ist, ist sie von Vorteil im Rahmen der Selbstsorge und im Zusammenhang mit intersubjektiven Verhältnissen. Sofern Echtheit Stimmigkeit garantiert und Stimmigkeit als Wert angesehen wird, kommt der Echtheit ein Wert zu.

Der Wert der Echtheit spricht jedoch nicht unbedingt gegen den Einsatz von Psychopharmaka, wobei Fälle, welche der Behandlung einer Krankheit dienen, von solchen zu unterscheiden sind, die der Verbesserung einer gesunden Person dienen. Aber generell gilt: Die Verwendung pharmakologischer Mittel sitzt mit anderen Techniken und Praktiken der Selbstveränderung (beispielsweise mit Therapien oder anderen Formen der ‚Psycho-Arbeit’) in einem Boot und zieht – was die Seite des Konsumenten betrifft – keinen besonderen ethischen Diskussionsbedarf nach sich.

Ob jemand mit den Mitteln des Glücks aus der Apotheke ein gelungenes Leben führen kann oder ob nicht am Ende das Glück auf Rezept zu einer „Chemie der Verzweiflung“ (Alain Ehrenberg) führt, steht dahin. Wie auch immer man darüber urteilt: der Rückgriff auf die Echtheit eines Gemützustandes jedenfalls bringt weder den Befürwortern, noch auch den Gegnern pharmakologischer Modulationen des menschlichen Geistes etwas ein.

Im Falle von neuropharmakologischen Verbesserern, die nicht Gefühle verändern, sondern Leistungen verbessern, ist es anders als die Rhetorik glauben machen möchte, die in solchen Zusammenhängen häufig verwendet wird. Nicht die Echtheit einer Leistung, die bei der Bewertung derartiger Fälle im Vordergrund steht, vielmehr ist es die Kategorie des Betrugs, mit der sich in diesem Kontext ethische Fragen verbinden. Der Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin) zum Beispiel wird in der Regel eingesetzt, um die so genannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) von Kindern in den Griff zu bekommen. Das Medikament hilft dabei, sich zu konzentrieren und ganz bei einer Sache zu sein. Derselbe Stoff kann eingesetzt werden, um die Konzentration von Menschen ohne ADHS-Diagnose zu verbessern, damit sie eine bessere und höhere Arbeitsleistung erbringen. Methylphenidat wird inzwischen von einer Reihe von amerikanischen Studenten als Studien- und Lernhilfe verwendet. Ob die Leistungen, die mit Hilfe von Methylphenidat erbracht werden, echte Leistungen sind, ist keine sinnvolle Frage. Es handelt sich um Leistungen, die erbracht worden sind und die ohne die betreffenden Substanzen wahrscheinlich nicht hätten erbracht werden können. Man muss sich fragen, inwieweit die Verwendung von Aufputschmitteln zum Beispiel in Prüfungen in ähnlicher Weise wie der Gebrauch von Mitteln zur Steigerung sportlicher Leistungen den moral- und auch rechtsrelevanten Tatbestand des Betrugs erfüllt. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten und erfordert eine genaue Auseinandersetzung mit den Einzelfällen. Wie auch immer man sie beantwortet, eines ist unschwer zu sehen: neue moralphilosophische Begriffe sind für die Diskussion dieser Probleme nicht erforderlich. Und auch für die Diskussion der Frage, ob wir in einer Welt leben wollen, in der technische Selbstverbesserungen Bestandteile des Alltags sind, ist eine Frage, die sich mit den Mitteln der traditionellen Moralphilosophie beantworten lässt.

UNSER AUTOR:

Christoph Demmerling ist Professor für Philosophie an der Universität Marburg.

Von der Redaktion überarbeiteter und gekürzter Text eines Vortrags am 10. Oktober 2008 anlässlich einer Tagung zur Neuroethik in Saarbrücken.