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Schmitz, Hermann: Die Neue Phänomenologie.

aus: Heft 5/2009, S. 20-29

 

Andreas Brenner: Herr Schmitz, was ist das Neue an der „Neuen Phänomenologie“ gegenüber der „älteren“, derjenigen Husserls?

Hermann Schmitz: Die „Neue Phänomenologie“ möchte den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich machen. Dies geschieht durch den Abbau geschichtlich geprägter Verkünstelungen. Damit kann sie sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung näher herantasten – unwillkürliche Lebenserfahrung meint das, was den Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Die ältere Phänomenologie bleibt dahinter zurück, weil sie weitgehend in den Bahnen der Tradition verläuft. Ausnahmen finden sich zwar bei Heidegger und auch bei Sartre, aber nur ansatzweise. Es wird zwar eine Tür aufgestoßen, aber man muss hindurchgehen!
Die Husserlsche Phänomenologie leidet erstens an der metaphysischen Tradition, nicht nur in der Gestalt der Transzendentalphilosophie, sondern auch schon in der Vorstellung von einem mit lauter intentionalen Akten bevölkerten Bewusstsein. Zweitens war Husserl zu sehr Mathematiker, er rechnet nur mit numerisch Mannigfaltigem: alles ist einzeln und Stück für Stück wird irgendwie zusammengesetzt. Es gibt aber ganz andere Typen von Mannigfaltigkeit, und das ist sehr wichtig, wenn man sich an die Lebenserfahrung herantasten will.

Der Begriff der Lebenswelt ist aber bei Husserl von großer Bedeutung.

Dieser Begriff ist bei Husserl zu einfach konzipiert. Husserl stellt sich vor, man müsse nur die auf Galilei zurückgehende Idealisierung abstreifen und könne dann als natürliche Welt beschreiben, was übrig bleibt. Er übersieht, dass man immer nur von einer Abstraktionsbasis aus sprechen kann. Die Lebenserfahrung ist immer schon durch die Art des begrifflichen Zugangs, durch die Subsumtion, geprägt. Die Vorstellung bei Husserl, man könne einfach die Sache selbst zur Kenntnis nehmen, ist doch viel zu einfach gedacht. Es fragt sich dann doch, unter welchem Licht, unter welchem Gesichtspunkt man die Sachen selbst zu Gesicht bekommt. Erst dann kann man sich an die Lebenswelt oder die Lebenserfahrung heranarbeiten. Im Grunde genommen bleibt die Husserlsche Lebenswelt eine Welt voller Objekte, die gewissermaßen begrifflich unbeleckt auf der Erde herum laufen. Der Faktor der Subjektivität kommt bei Husserl nur als positionale Subjektivität vor. Ein Subjekt hat eine gewisse Stellung unter den Objekten, es konstituiert sie zum Beispiel. Aber Fragen wie: Wer bin ich? Was hat das zu bedeuten, dass das Ding in dieser besonderen Position ich bin? kommen bei Husserl nicht vor.

Was ist demgegenüber das Neue an Ihrem Ansatz?

Es ist, wie ich es nenne, die „phänomenologische Revision“. Sie ist unbefangener als die „phänomenologische Reduktion“ von Husserl. Husserl wollte sich damit auf einen ausgezeichneten, aber engen Bereich zurückziehen und von da aus gewissermaßen die Welt von oben in den Griff nehmen. Die „phänomenologische Revision“ bezieht sich dagegen zum einen auf eine Relativierung des Phänomenbegriffs.

Was ist ein Phänomen?

Ein Phänomen ist ein Sachverhalt für jemanden zu einer bestimmten Zeit, bei dem der Betreffende nicht im Ernst bestreiten kann, dass es sich um eine Tatsache handelt. Letzten Endes ist es eine für jemanden jeweils unhintergehbare Hypothese. Das ist aber doppelt relativiert: Ist das auch für die anderen tatsächlich unhintergehbar? Ist das für mich immer so? Man kann nie etwas endgültig mit apodiktischer Gewissheit aussagen. Man kann aber auch nicht einfach auf die Sachen zugehen. Man sieht die Sachen immer im Licht von etwas, etwa von Begriffen, oder als Fall von etwas. Dazu braucht man Sachverhalte und nicht einfach – wie bei Husserl – Sachen. Sachen sind immer vieldeutig, da kann man nur darauf zeigen und nicht ohne weiteres sagen, was es ist.

 

 


Die Methode, sich in einem eingeschränkten und vorläufigen Sinn an einen Fall heranzutasten, das ist der Versuch, beliebige Annahmen umzudenken und sehen, was übrig bleibt und was man gelten lassen muss. Das ist die phänomenologische Grundgegebenheit. Zunächst aber ist alles offen.

Sie haben als einen, der Husserl im positiven Sinne weitergedacht hat, Sartre genannt. Sartre ist bekannt für sein politisches und gesellschaftliches Engagement. Kann auch die „Neue Phänomenologie“ engagiert sein oder ist sie „nur“ eine Theorie?

Aber sicher, die „Neue Phänomenologie“ beschäftigt sich ausführlich mit der abendländischen Tradition „als Last und Aufgabe“, wie ich es formuliert habe. Dazu gehören hauptsächlich diese Verkünstelungen, die ich in abstracto angedeutet habe, die aber sehr wohl näher präzisiert werden können. Es sind letzten Endes Verkünstelungen, die aus der antiken Philosophie, aus der christlichen Theologie des späten Altertums und des Mittelalters und aus den modernen Naturwissenschaften stammen. Diese sind ihrerseits mehr als man denkt von der Scholastik abhängig. Es kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Die Entdeckung der Subjektivität, die zugleich ein Missverständnis in dem Sinne ist, dass das ironistische Zeitalter herauskommt, in dem wir leben.

Hat es in ihrer Biographie so etwas wie ein Erweckungserlebnis gegeben, das sie in diese Richtung geführt hat?

Ich kann Ihnen mit einer Anekdote antworten. Ein Verleger aus Hamburg, Dr. Kovacs, schrieb mir, er würde gerne meine Biographie veröffentlichen. Ich habe ihm zurückgeschrieben, ich sei der Sohn einer ostpreußischen Mutter und würde die ostpreußische Kultur der Zurückhaltung pflegen. Ich werde Ihnen also mein Herz nicht ausschütten.

Meine Konzeption der Philosophie ist im Jahr 1959 entstanden. Ich saß in der Bibliothek der Psychiatrischen Klinik in Kiel und las dort in einer psychiatrischen Zeitschrift, der französische Psychiater Eugène Minkowski habe den Begriff „moi ici maintenant“ eingeführt. Das war alles. Ich habe dieses „ich hier jetzt“ angereichert durch das Merkmal der absoluten Identität (nicht Identität mit etwas, sondern nur als das Gegenteil von Verschiedenheit) und das der Subjektivität. Das hat sich zum Konzept der primitiven Gegenwart verdichtet und daraus entstand dann weiter das Konzept der leiblichen Dynamik und vieles andere. Erst viel später kam der Begriff der Situation hinzu. Wichtig war weiter der Begriff des Sachverhaltes von Paul Lorenzen, daraus entstanden die „subjektiven Tatsachen“. Diese sind ganz wichtig, um meine Vorstellungen von Subjektivität zu präzisieren. Später war eine wichtige Veränderung die Einführung des Unterschiedes zwischen bloßer Identität und Einzelheit. Das sind die wesentlichen Etappen meiner philosophischen Entwicklung.

Der Begriff der Leiblichkeit, den Sie genannt haben, hat eine große Bedeutung in der Rezeption der Neuen Phänomenologie. Was hat man unter Leib bzw. Leiblichkeit zu verstehen?

Es gibt in der Tat neuerdings viele Philosophen, die sich mit dem Leib beschäftigen. Der bekannteste ist Merleau-Ponty, der übrigens nicht Leib sagt, sondern corps, was eigentlich mit Körper zu übersetzen wäre. Denn dieser corps von Merleau-Ponty hat Lungen, Nägel und Muskeln. Es ist der physische Körper, der aber aufgerüstet ist durch ein gewisses Lebendigsein gegenüber dem bloßen naturwissenschaftlichen Abstraktionsprodukt eines menschlichen Körpers – wobei nicht ganz klar ist, was das eigentlich ist. Der Unterschied meines Ansatzes zu dem von Merleau-Ponty ist der, dass bei mir der Leib ein Gegenstand eigener Art ist, etwas anderes als der Menschenkörper. Der Menschenkörper ist ein Ding mit steter Dauer und festem Umriss und nach Lagen und Abständen überall bestimmt durch relative Orte. Der spürbare Leib ist dagegen alles das, was man in den Grenzen des eigenen Körpers von sich selbst als zu sich selbst gehörig spürt und zwar ohne sich der Sinne zu bedienen. Das ist diese Vorstellung von Spüren, die in meinem Ansatz wichtig ist. Dazu gehören erstens alle leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Wollust, Ekel oder Müdigkeit, zweitens alles spontane Ergriffensein von Gefühlen und drittens das spürbare Eingreifen und das Laufen, soweit es am eigenen Leibe spürbar ist.

Das ist sowohl seiner Räumlichkeit als auch seiner Dynamik nach etwas von einer ganz anderen Art, als es der Körper ist. Man könnte sich vorstellen, dass der Leib aus dem Körper herausfährt. Manche Leute behaupten sogar, sie hätten sich schon von oben gesehen. Aber dafür will ich nicht einstehen: das ist vielleicht phantastisch, vielleicht aber auch nicht – es interessiert mich nicht weiter. Aber ich halte es prinzipiell für widerspruchsfrei möglich.

Für Sie ist es problematisch, ja dramatisch, wenn wir den Leib nicht mehr spüren. Warum?

Weil der Leib die Grundlage zu den genannten elementaren Erfahrungen ist. Es handelt sich dabei um uns selbst. Der Leib ist auch die Grundlage dafür, dass etwas „dieses“ ist, dass es identisch ist, er bietet die Möglichkeit, zu vereindeutigen. Die Erfahrungen, die aus dem elementar leiblichen Betroffensein kommen, die aus dem Einbruch des Plötzlichen hervorgehen sind das, was ich primitive Gegenwart genannt habe: „Ich, hier, jetzt, sein, dieses“. Diese Erfahrungen stammen aus dem Leib, und sie verbreitern sich im Leib zu dem, was man selbst spüren kann. Das ist wichtig als der Resonanzboden, wo alles ankommt, was den Menschen betroffen macht und in eigene Gestaltungen umgewandelt wird. Ebenso wichtig oder noch wichtiger ist die leibliche Kommunikation, deren Strukturen über den bloßen eigenen Leib hinausführen.

Kann man das nicht mit dem Begriff der Subjektivität einholen?

Da ist natürlich Subjektivität dabei. Aber Sie haben einen viel zu verschwommenen Begriff von Subjektivität, wenn Sie es dabei belassen. Sie landen dabei auf dem Niveau der Existenzphilosophen, die – wie etwa Sartre oder Heidegger – einen erbärmlichen Begriff vom Leib haben. Das unmittelbare Spüren und Beisichsein ist viel elementarer als „Der Mensch, der sich zu sich verhält“ der Existenzphilosophen. Es ist etwas, was den Menschen und Tieren gemeinsam ist und was die Existenzphilosophen nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die spezifisch menschlichen Leistungen, bei denen die Existenzphilosophen mit ihrer Subjektivität überhaupt erst anfangen, gehen aus dem unmittelbaren Betroffensein hervor.

Die Existenzphilosophie setzt also zu hoch an, sie erfasst sozusagen nur den erwachsenen Menschen. Erfassen Sie mit ihrem Ansatz den ganzen Menschen, also auch den Säugling?

Auch. Aber es kommt beim erwachsenen Menschen etwas hinzu, ein wichtiges Fundament meiner Vorstellung von der menschlichen Person. Diese hat unentbehrliche Wurzeln in einer präpersonalen Leiblichkeit und steht gewissermaßen spagatartig zwischen einer personalen Emanzipation und einem leiblichen elementaren Betroffensein. Auch die erwachsene Person braucht diese Verankerung im Leiblichen, um zu spüren, dass das, was sie sich zuschreibt, sie sich selbst zuschreibt. Es hätte sonst gar keinen Sinn zu sagen „das bin ich“, wenn man nicht vor jeder Identifizierung es elementar spürte „ich bin das“, egal was ich bin. Der entscheidende Begriff darüber hinaus ist die Explikation einzelner Bedeutungen, einzelner Sachverhalte.

Können Sie die präpersonalen Bedeutungen der Leiblichkeit an Themen wie Schreck oder Gefahr näher beschreiben?

Ich unterscheide drei Schichten der Vitalität: Antrieb, Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit des Antriebes zu empfangenen Reizen. Der vitale Antrieb selbst ist weder zugewandt noch gerichtet. Er besteht im Ineinandergreifen von Engung und Weitung bzw. wie ich auch sage, von Spannung und Stellung. Das ist spürbar am Einatmen, einer noch nicht zugewandten Weise. Man kann leicht sehen, dass der Antrieb diese beiden Komponenten hat: Im Schreck reißt er nach der Seite der Engung, er ist dann erstarrt. Wenn er nach der Seite der Weitung ausläuft, dann ist er erschlafft. Er ist nur vorhanden, wenn diese Komponenten da sind. Sie können aber mehr oder weniger gestaltet werden, es handelt sich um ein dialogisches Verhältnis.

Der Schreck ist ein grundlegendes elementares Betroffensein – er ist die Quelle der Erfahrung der Identität, der absoluten Identität, das Leben gleitet nicht mehr einfach dahin. Im vitalen Antrieb haben wir immer diese dramatischen Möglichkeiten. Angst und Schmerz unterscheiden sich vom Schreck durch ein enormes Übergewicht der Enge als Spannung über die Schwellung. Beim Schreck reißt das Band der beiden Komponenten Engung und Weitung. Reißt es nicht, ist es in anderer Weise quälend, weil es einen Konflikt gibt, einen Drang, wegzukommen. Das sind heftige Zustände einer elementaren Engung bzw. eines Betroffenseins, mit starkem, aber zurückgedrängtem Antrieb.

Können Sie den für Sie wichtigen Begriff der „Einleibung“ erläutern?

Dieser Dialog von Engung und Weitung, wie man ihn bereits beim bloßen vitalen Antrieb des Atemvorganges beobachten kann, ist außerordentlich modulations- und erweiterungsfähig und kann sich gleichsam aufspreizen zur Konfrontation, zur dramatischen Auseinandersetzung. Das ist schon beim Schmerz der Fall. Der Schmerz ist nicht einfach nur eine Empfindung oder ein Gefühl, er ist ein Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Wenn dieser Zwang nicht mehr da ist, dann tut der Schmerz nicht mehr weh. Das ist der Unterschied zwischen Schmerz und Angst. Denn in der Angst kann man weglaufen, man kann dem Impuls nachgeben, aber im Schmerz kann man nur schreien, sich nur symbolisch weiten. Deswegen ist gerade der Schmerz eine solche Konfrontation. Eine weitere Konfrontation ist die reißende Schwere, etwa wenn man fällt oder ausgleitet. Das ist auch etwas, was man am eigenen Leib spürt, das aber dem Leib viel fremder ist als der Schmerz, weil es nicht mehr sein eigener Zustand ist. Und genau dasselbe ist bei noch weiterer Spreizung auch die Auseinandersetzung beim Blickwechsel. Auch hier handelt es sich um einen gemeinsamen vitalen Antrieb, der aber so weit gespreizt ist, dass eine Gemeinsamkeit, eine Partnerschaft entsteht. Dies ist eine antagonistische Einleibung.

Es gibt auch eine solidarische Einleibung ohne Zuwendung zum Partner, etwa dann, wenn Leute gemeinsam singen oder wenn eine Gruppe in panischer Angst flüchtet. Das sind verschiedene Typen von Einleibung.

Ist es das, was sich bei Sartre findet?

Nein, dort gibt es keinen Blickwechsel. Sartre hat nur das Fixiertwerden im Blick, er kennt nur den hypnotisierenden Blick. Das ist zwar auch eine Möglichkeit der Einleibung, aber es ist eine einseitige antagonistische Einleibung. Hinzu kommt, dass man bei Sartre nicht einmal den Blickenden, den Hypnotiseur, sieht. Der Blick erfolgt von einer ungreifbaren Macht. Das ist aber viel zu wenig, denn das eigentlich Entscheidende ist der Blickwechsel, die wechselseitige antagonistische Einleibung, wobei wie beim Tennis hin- und hergespielt wird. Dabei entsteht ein gemeinsamer vitaler Antrieb, bei dem beide mitwirken. Das alles gibt es bei Sartre nicht.

Inwiefern kommt dem Auge eine prominente Funktion zu?

Dem Auge kommt gegenüber dem Ohr der Vorzug zu, dass es über den Blick verfügt. Der Blick fungiert gleichsam als Fühler. Wenn sich beispielsweise eine gefährliche wuchtige Masse bedrohlich nähert, kann kam geschickt zur Seite springen, auch wenn man weder den eigenen Körper sieht noch eine Orientierung über Lage und Abstände hat. Mit dem Blick kann man sich durch eine einseitige Einleibung wie hypnotisiert an das drohende Objekt hängen. Dessen Bewegung wird als Suggestion vorweggenommen und mit dem Blick in das motorische Körperschema zur antagonistischen Einleibung übertragen.

Es gibt aber noch einen weiteren Kanal, nämlich den der Berührung. Dieser hat einen eigentümlichen Vorzug gegenüber der Einleibung durch das Sehen. Blicke sind wie Speere, die nicht in den Körper, aber in den Leib unberechenbar tief eindringen und deshalb wenig steuerbar sind. Die Berührung hingegen kann dosiert werden. Gerade die zarte Berührung ist die intensivste.

Kann man die Situation in einer Fußgängerzone, wo sich viele Leute aufeinander zu bewegen, aber doch nicht zusammenstoßen, als Einleibung verstehen?

Ganz richtig. Es ist dieselbe Situation wie bei der genannten gefährlichen Masse, bei der man zur Seite springen muss. Sie ist natürlich harmloser, zugleich aber wesentlich komplizierter, da man sich nicht nur auf den Nächsten, sondern auch auf die künftigen Kurse der Daneben- und Dahinterkommenden einstellen muss. Und dies funktioniert bühnenreif ohne jede Abschätzung von Lage und Abständen, die man ja gar nicht erfassen kann. Dies ist möglich dank einem Spiel von Blicken und antagonistischen Einleibungen.

Kann man die Neue Phänomenologie auch für therapeutische Zwecke einsetzen?

Ganz gewiss. Insbesondere sind es die Möglichkeiten der zarten Berührung, „Leibesinseln“ zu wecken. Der Leib hat normalerweise eine Inselstruktur, der spürbare Leib ist ein Gewoge verschwommener Inseln. Diese Inseln können mehr oder weniger sein. Bei der Engung schrumpfen sie zusammen; wenn die Weitung ganz überhand nimmt (wie etwa beim Dösen), zerfließen sie. In der Mittelzone können sie aufblühen und dieses Aufblühen von Leibesinseln kann durch zarte Berührung geweckt werden, etwa wenn man mit der Hand über die Stirne streicht oder beim liebevollen Kosen. Dies kann bis zum Zerfließen der Leibesinseln gehen. Aber erst einmal blühen sie auf. Es handelt sich hier um Entspannungstechniken, um in dosierter Weise Entspannung frei zu machen.

Gibt es bei anderen Kulturen Parallelen zu diesen Techniken?

Sowohl bei den Indern als auch bei den Chinesen gibt es mystische Techniken der Leibbemeisterung. Im Prinzip gehen sie alle davon aus, die vitalen Antriebe wie die Engung bis zu einer wohldosierten Abspaltung zu aktivieren, um dadurch dosiert Weitung freizugeben. Mit einer Technik der Leibbemeisterung, die auf das Ziel des Erfahrens in maßloser Weite hinaus will, diese aber dennoch im Griff behalten will, ist das möglich.

Ein Blick auf die philosophischen Neuerscheinungen zeigt, dass die Gefühle Konjunktur haben. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum dieses Thema so aktuell ist?

Das Thema beschränkt sich auf spezifische philosophische Fachkreise. Man könnte dabei an eine Kompensation denken. Bis vor kurzem hatten wir ein Übergewicht der kognitiven Psychologie, die das Emotionale wegräumt und vor allem in der dritten Person denkt (was ja besonders die analytische Philosophie favorisiert). Beim Gefühl hingegen ist man immer als man selbst engagiert, es ist etwas, das einen ganz persönlich trifft. Das sollte gewissermaßen ausradiert werden! Dass man nun wieder mit den Gefühlen liebäugelt, ist eine Gegenbewegung. Es ist aber auffällig, dass die Menschen stark das Bedürfnis haben, sich gewissermaßen selbst los zu werden.

Was ist denn für Sie das Gefühl?

Ich unterscheide zwischen „Gefühl“ und „Fühlen“. Gefühle sind für mich Atmosphären, von denen jemand ergriffen wird. Atmosphären befinden sich in einem Raum, aber nicht einem von geometrischer Art, sondern einem flächenlosen Raum, in der Art des Raumes des Wetters oder der Stille. Es sind dies alles Räume, von denen man nicht sagen kann, dass es Lagen und Abstände, dass es drei Dimensionen gibt. Gefühle sind Atmosphären, d. h. Besetzungen von flächenlosen Räumen mit dem Charakter der Weite. Es gibt thematisch zentrierte Gefühle und gerichtete, aber nicht zentrierte Gefühle. Diese Atmosphären werden teils bloß wahrgenommen, teils in affektivem Betroffensein gespürt. Dieses ist zunächst ein leibliches Betroffensein, das dann nachträglich personal durch Preisgabe oder Widerstand oder beides verarbeitet wird. Bezeichnend ist aber für das Ergriffensein von Gefühlen, dass diese personale Reaktion erst nachträglich kommt, was sich besonders am Zorn deutlich machen lässt.

Und die Atmosphäre, wo kommt die her?

Das bleibt ganz offen. Ich behaupte auch nicht eine zeitliche, sondern eine kausale Priorität der Gefühle. Die Gefühle kommen dem Menschen nahe, ergreifen ihn und spielen sich in ihm ab. Wenn der Zorn den Menschen ergreift, ist das etwas, was sich zunächst nicht in der Seele, sondern im spürbaren Leib abspielt. Es ist etwas, das nach vorne treibt. Mit dem Zorn muss man erst einmal mitgehen, wenn man wirklich zornig ist, und erst dann kann man sich mit dem Zorn auseinandersetzen, mit dem Zorn einhalten, wenn er einem nicht passt.

Sind Atmosphären mit Stimmungen identisch?

Stimmungen sind Atmosphären des Gefühls, die Weite vermitteln. Da gibt es reine Stimmungen, die weiter nichts als Weite vermitteln. Dies unterscheidet Zufriedenheit und Verzweiflung. Verzweiflung nicht als Mangel an Wunscherfüllung, sondern als Haltlosigkeit, als elementare Erfahrung der Leere, wie man sie beispielsweise an einem nasskalten Morgen in einem hässlichen Häusermeer einer Großstadt erleben kann. Verzweiflung hat mit der Trauer und dem Kummer eine Einschnürung und Einengung gemeinsam. Diese ist nicht drückend, sondern haltlos und ein mit Langeweile und Ekel gemischter Überdruss. Das sind reine Stimmungen.

Wie verhalten sich Gefühle zum kognitiven Bereich, zum Denken?

Gefühle sind meistens in Situationen eingebunden. Situationen werden ganzheitlich zusammengehalten. Es handelt sich hier um eine diffuse Bedeutsamkeit, die aus Sachverhalten, Programmen und Problemen besteht und die auf einen Schlag erfasst wird, etwa in der Situation einer Gefahr. Man kann sie nicht einzeln analysieren, sondern muss sie ganzheitlich beantworten. Wir gehen immer durch Situationen aller Art hindurch, und die Gefühle sind meistens darin eingebunden, aber meistens in der genannten diffusen Bedeutsamkeit. Als reine Gefühle werden sie nicht ohne weiteres expliziert. Das Kognitive besteht jetzt darin, dass der Mensch die Fähigkeit hat, rational das Binnendiffuse dieser Bedeutsamkeit auseinanderzunehmen, sodass einzelne Sachverhalte daraus werden können. Auf Grund dieser Vereinzelung von Bedeutung kann man über einzelne Sachen reflektieren, und so kann man auch zum Gefühl kognitiv Stellung nehmen.

Sie haben die Zufriedenheit als eine Stimmung bezeichnet, in der man ein wohliges Gefühl hat. Wie steht es mit starken Gefühlen?

Wir haben nicht nur die reinen Stimmungen. Wir haben als zweite Stufe der Gefühle die gerichteten Gefühle, die aber noch nicht thematisch zentriert sind. Da haben wir zum Beispiel die Bangigkeit. Vage Bangigkeit ist etwas, das sich zentrifugal einengend zusammenzieht. Andere Beispiele sind die Sehnsucht oder die gegenstandslose Freude oder die depressive Trauer. Die Gefühle können sich, als dritte Stufe, in einem Zentrum zusammenziehen. Das Zentrum ist manchmal einfach – man nannte es früher intentionales Objekt, was aber ein Missverständnis ist –, es hat eine gestalthafte Struktur. Meistens ist das Zentrum gegabelt, gespalten. Man hat Freude an etwas und Freude über etwas. Und hierhin gehört auch die Liebe, und das ist etwas, worüber man viel sagen könnte…

Für viele Leute ist die Liebe der Lebensmittelpunkt…

Das ist schon richtig. Und es ist wichtig, dass in der Geschichte der Liebe ein fundamentaler Gestaltwandel bei Tristan stattfand, indem der Verankerungspunkt der Liebe weggenommen wurde. Bis dahin war die Liebe immer an einen Verankerungspunkt gebunden. So wurde noch im Minnesang die Geliebte ihres Anstandes, ihrer Schönheit oder ihren Tugend wegen geliebt.

Liebt denn der Minnesänger die Dame nicht?

Doch, natürlich liebt er sie, aber er liebt sie um etwas willen. Und das wird bei Gottfried von Strassburg radikal abgeschnitten. Die Liebe hat nun nur noch eine Verdichtungsform, aber keinen Verankerungspunkt mehr.

Verlassen wir die Liebe. Die Philosophie wird gegenwärtig immer stärker von der analytischen Philosophie dominiert. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Die analytische Philosophie hat verschiedene Stadien ihrer Entwicklung durchgemacht. Die erste Phase ist geprägt durch das Vermeiden der Subjektivität. Bei Mach haben wir den Satz „Das Ich ist unrettbar“. Es wird ersetzt durch einen Komplex von Empfindungen. Dabei darf man nicht fragen: „Wer hat die Empfindungen?“. Niemand hat die Empfindungen. Die zweite Phase der analytischen ist geprägt durch den logischen Positivismus. Hier haben wir Weltpunkte, die letztlich da sein sollen. Auch hier finden wir die Subjektivitätsvermeidung, aber weniger naiv als bei Mach, sondern mit den Mitteln der mathematischen Logik. Die dritte Phase beginnt mit Wittgenstein und ist geleitet von der Vorstellung, die Menschen hätten eine natürliche Sprache und die Philosophen würden viel zu kompliziert sprechen. Eine etwas naive Vorstellung, denn diese natürliche Sprache gibt es nicht, vielmehr gibt es bei den verschiedenen Völkern verschiedene Sprachen. Dass aber die Philosophen die Sprache verkünstelt hätten, damit bin ich nicht nur einig, das ist ja gerade meine These. Eine vierte Phase beinhaltet die Nähe zu den Naturwissenschaften, und da finden wir eine Philosophie des Geistes mit einer materialistischen Metaphysik, die keine phänomenologische und empirische Basis mehr hat.

Sie haben einen eigenen Freiheitsbegriff entwickelt. Was zeichnet diesen aus?

Meine Freiheitstheorie richtet sich gegen die Materialisten und die Idealisten. Die Materialisten wollen Freiheit im Sinne von sittlicher Verantwortung im Sinne eines physikalistischen Weltbildes der analytischen Philosophie völlig abschaffen. Die Idealisten denken sich einen freien Willen aus, der mehr oder weniger souverän über die unwillkürlichen Regungen verfügt.

Die Kompatibilisten unter den analytischen Philosophen versuchen ein deterministisches Weltbild mit der Freiheit zu versöhnen, sie haben aber vergessen, den Begriff des Wählens zu analysieren. Wählen besteht in der Überzeugung, von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens zu einer gegebenen Herausforderung und in der wissentlichen Beschränkung, von mehreren Möglichkeiten höchstens einige, nicht aber alle zu verwirklichen. Der Determinist kann aber nicht wählen, er muss sich treiben lassen. Er führt das Leben eines Betrunkenen, der dahin torkelt und sich dennoch die Initiative zuschreibt.

Was ist denn der Unterschied zwischen Wahl und Wunsch?

Die Wahl hat es zu tun mit der Realisierung von Möglichkeiten. Ein Sachverhalt wird zur Tatsache, und andere Sachverhalte werden verworfen, d. h. als untatsächlich gesetzt. Beim Wunsch hingegen ist eine Realisierung nicht wichtig. Der Wunsch ist die Verpfändung des affektiven Betroffenseins an die Realisierung eines Sachverhaltes in dem Sinne, dass beim Eintreffen der Realisierung diese Realisierung als lustvoll erlebt wird und beim Ausbleiben der Realisierung dieses Ausbleiben als leidvoll. Aber man tut nichts, man entscheidet sich nicht.

Freiheit ist überhaupt nicht im Bereich der objektiven oder neutralen Tatsachen verankert, sondern nur im Bereich der subjektiven Tatsachen, die einer höchstens im eigenen Namen aussagen kann, nämlich der Tatsachen des affektiven Betroffenseins, dessen, was ihm selbst nahe geht. Zu jeder subjektiven Tatsache gibt es die objektive Tatsache, aber nur die subjektiven Tatsachen können die Freiheit tragen, und zwar auf der aktiven Seite des affektiven Betroffenseins. Wenn ich selbst betroffen bin. Und das kommt nur davon, dass ich mich auf dieses Betroffenwerden einlasse, es nicht an mir ablaufen lasse. Ich verstricke mich, großenteils unbeliebig, eventuell zusätzlich noch beliebig. Zum Beispiel der Hunger: er ist nicht nur etwas, das mir widerfährt, sondern er wird entweder aggressiv, mürrisch oder geduldig auf sich genommen. Das ist ganz elementar. Diese aktive Seite des affektiven Betroffenseins, durch die es mein Betroffensein wird, das ist der Sitz der Freiheit. Für die Freiheitstheorie bedeutet dies, dass ein Mensch unabhängige Initiative nicht nur durch den Entschluss, den er fasst, durch das Wollen hat, sondern durch die Art und Weise, wie er sich engagiert. Durch den Eifer, mit dem er bei der Sache ist.

Mit Hermann Schmitz sprach Andreas Brenner. Das Gespräch fand am 5. Mai in Basel statt.
Hermann Schmitz, geb. 1928, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Andreas Brenner ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Basel.

Von Hermann Schmitz ist dieses Jahr erschienen:

Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 136 S., kt., € 16.—, Karl Alber, Freiburg. In sechs Kapiteln werden dabei die Hauptthesen der Neuen Phänomenologie vorgestellt, im siebten Kapitel wird gezeigt, wie die Entdeckung der subjektiven Tatsachen eine neue Lösung des Freiheitsproblems erlaubt, und er weist einen Ausweg aus dem ironistischen Zeitalter.