Enrique Dussel
Dargestellt von Hans Schelkshorn
Enrique Dussel zählt zu den Hauptvertretern der lateinamerikanischen Philosophie der Be-freiung, die Anfang der 70er Jahre vor allem in Argentinien entstanden ist. Während die Theologien der Befreiung in den 80er Jahren weltweite Bekanntheit erreichten, sind die verschiedenen Strömungen der Philosophie der Befreiung bis heute nur einem kleinen Kreis von Spezialisten näher bekannt. Im Unterschied zu anderen Befreiungsphiloso-phen wie Arturo Roig, Horacio Cerutti-Guldberg, Carlos Cullen oder dem vor kur-zem verstorbenen Leopoldo Zea hat Dussel zwar in der euroamerikanischen Philosophie eine gewisse Resonanz gefunden, dennoch sind seine Hauptwerke bis heute weder in deutschen noch in englischen Übersetzungen zugänglich.
„Ich entdeckte Amerika in Europa“
Enrique Dussel ist im Jahr 1934 in Mendoza, (Argentinien) geboren. Er ist Nachfahre einer deutschen Emigrantenfamilie; sein Urgroßvater, Johann Kaspar Dussel, wanderte 1870 aus Schweinfurt nach Argentinien aus. In Mendoza erhält Dussel auch seine philoso-phische Grundausbildung, die noch vom Geist des Neuthomismus geprägt ist. Ende der 50er Jahre verlässt Dussel Argentinien für mehr als 10 Jahre. In Madrid promoviert er mit einer voluminösen Arbeit über den Begriff des Gemeinwohls von den Vorsokratikern bis Kelsen. Bis dahin ist Philosophie für Dussel gleichbedeutend mit europäischer Philosophie. In Europa angekommen macht er jedoch die Erfahrung, kein Europäer zu sein. So wird ihm paradoxerweise in Europa, genauer im Madrider Colegio Guadelupe, wo Studenten aus zahlreichen Ländern Südamerikas zusammenwohnen, „Lateinamerika“ als Wurzel und Verpflichtung seines Denkens bewusst. Von nun an wird die Frage – was bedeutet es, in Lateinamerika zu philosophie-ren? – Dussels weiteren Denkweg prägen.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und lateinamerikanischer Reali-tät ist im hispanoamerikanischen Denken in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgebrochen. Unter dem Eindruck der chaotischen Verhältnisse nach den Unabhängigkeitskriegen hatte Juan Bautista Alberdi das Programm einer filosofía americana entworfen, die sich ausgehend von den sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Länder des südlichen Ame-rika, d.h. im „Hören auf das Volk“, für den Aufbau postkolonialer Gesellschaften engagiert. Alberdi war ein liberaler Denker; seine Hoffnung galt daher einem Gesellschaftsmodell, in dem die Prinzipien des europäischen Liberalismus in kreativer Weise auf die amerikanischen Verhältnisse übertragen werden. Nicht blinde Imitation, sondern schöpferische Adaption europäischer Philosophie war das Ziel. Doch im Bann der europäischen Kultur reduziert sich für Alberdi de facto der originäre Beitrag Amerikas zum Aufbau einer postkolonialen Gesellschaft gegen Null: Die Zivilisation kommt aus Europa, Amerika ist der Ort der Barbarei. Das Ge-sellschaftsmodell von Alberdis filosofía americana richtet sich daher gegen die vormo-dernen Lebensformen der amerindischen Völker und Mestizen, auch gegen die „Rückständigkeit“ des feudalen Katholizismus der spanischstämmigen Kreolen.
Enrique Dussel übernimmt einerseits Alberdis Idee, die Philosophie an den sozialen und kulturellen Bedürfnissen der lateinamerikanischen Gesellschaften zu orientieren, ver-sucht jedoch anderseits den extremen Eurozentrismus von Alberdis Gesellschaftsprojekt zu überwinden. Im Zentrum der ersten Phase von Dussels Denken steht daher das Projekt einer hermeneutischen Rückgewinnung (re-cuperación) des kulturellen Erbes der „amer-indischen Mutter“ (O. Paz) und des „spanischen Vaters“, die durch Alberdis Liberalismus zu bloßen Fortschrittshindernissen degradiert worden sind.
Die ersten Beiträge zum Projekt einer recu-peración latinoamericana entstehen in den 60er Jahren während seines Aufenthaltes in Europa. Im Vordergrund steht zunächst die Auseinandersetzung mit dem europäischen „Vater“. Dussel interessieren nicht so sehr die modernistischen Ausformungen als vielmehr die prämodernen Wurzeln der europäischen Kultur, die im 16. Jahrhundert mit den Kolonisatoren nach Amerika eingedrungen sind und insofern die „Protogeschichte“ La-teinamerikas bilden. In einer Trilogie über den semitischen und hellenischen Humanismus und die christliche Anthropologie des Mittelalters, die methodisch an der Hermeneutik Ricoeurs orientiert ist, werden die griechisch-lateinische, die jüdische, die muslimische und die spanisch-christliche Tradi-tion im Licht des „ethisch-mythischen Kerns“ der indogermanischen und semiti-schen Völker gedeutet. In der geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Sorbonne über L’espiscopat hispano-américain défen-seur de l’indien (1505-1620) (Wiesbaden 1970) schlägt Dussel den Bogen von der Protogeschichte Lateinamerikas zur Konquista der amerindischen Völker.
Die frühe „Ethik der Befreiung“
Im Jahr 1967 kehrt Dussel nach Argentinien zurück. Ende der 60er Jahre herrschte in La-teinamerika eine revolutionäre Stimmung. Inspiriert von der Kubanischen Revolution brachen in zahlreichen Ländern soziale Kämpfe gegen die verhärteten oligarchischen Herrschaftsverhältnisse aus. In Argentinien kam es zwischen 1972 und 1974 zu einer Renaissance des Peronismus. Die Dependenztheorien kritisierten die strukturellen Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus. Mit den Theologien der Befreiung entstand die erste eigenständige christliche Theologie außerhalb Europas. In diesem sozialrevoluti-onär aufgeheizten Klima werden Enrique Dussel die Grenzen einer bloß hermeneutisch orientierten recuperación latinoamericana bewusst. In seiner Wende von der Herme-neutik zur Befreiungsphilosophie kommt Augusto Salzar Bondy, der die hispanoame-rikanische Philosophie als imitatives Denken kritisiert, eine wichtige Bedeutung zu. Denn für Salazar Bondy ist der imitative Charakter der Philosophien in Lateinamerika nicht das Ergebnis individuellen Versagens, sondern Symptom einer umfassenden soziopolitischen Abhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten von den westlichen Machtzentren. Mehr noch: Als entfremdetes Denken habe die hispanoamerikanische Philosophie die gesellschaftliche und kulturelle Ent-fremdung der lateinamerikanischen Gesellschaften sogar noch vertieft. Der Ausweg aus dem Zirkel der Entfremdung kann nach Salazar Bondy nur durch eine radikale Transfor-mation der Gesellschaft, die die Strukturen der Abhängigkeit definitiv aufbricht, erreicht werden. Der Philosophie bleibe die bescheidene Aufgabe einer solidarischen und zugleich kritischen Reflexion der Kämpfe der verarmten Massen um mehr Gerechtigkeit. Kurz: Salzar Bondy gießt in die Schläuche von Alberdis filosofía americana marxistischen Wein. Durch seinen frühen Tod konnte er jedoch seine Vision einer mit den Befreiungsbewegungen solidarisch verbundenen Philosophie nicht mehr ausführen; sie wird daher Enrique Dussel zum Vermächtnis.
Anfang der 70er Jahre beginnt Dussel mit der Ausarbeitung einer Ética de la liberación latinoamercana, die insgesamt fünf Bände umfassen wird. Im Geist von Salazar Bondy stellt Dussel den (neo)liberalen Modernisierungsideologien nicht einfach ein sozialistisches Modell entgegen, das von einer revolutionären Avantgarde zu verwirklichen wäre. Die Aufgabe der Philosophie ist vielmehr die moralische Rechtfertigung des Kampfes der verarmten Massen. Dussel entwickelt daher, was von lateinamerikanischen Marxisten stets mit Argwohn verfolgt worden ist, eine Befreiungsethik, die bewusst auf eine utopische Gesellschaftstheorie verzichtet und sich mit der Explikation der moralischen Kriterien für eine authentische Befreiungspraxis bescheidet. Die Befreiungsethik zielt dem nach auf einen moralisch-relevanten Perspektivenwechsel – die herrschenden Verhältnisse sind konsequent aus der Sicht der verarmten Massen, der Opfer, die jedes System produziert, in den Blick zu nehmen („sub lumine oppressionis“). Dennoch erschöpft sich das Wesen befreiender Praxis nach Dussel nicht in der Negation von Herrschaft; Befreiung erwächst vielmehr aus einem positiven Quellgrund, der „Exteriorität“ der Opfer, konkret ihrer Freiheit und Andersheit, die durch Herrschaft verdeckt oder erdrückt, werden. Eine authentische Be-freiungspraxis folgt daher nicht der totalitären „Dialektik“ qua „Negation der Negation“, die bloß zu einer Umkehrung und Prolongation von Herrschaft führt, sondern einer „ana-dialektischen“ Logik, in der die gesellschaftliche Totalität jeweils mit der Exterio-rität und Andersheit der Opfer konfrontiert wird. Nur auf diesem Wege sieht Dussel eine Chance für eine qualitative Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich nicht in der Reform bestehender Herrschaftsstruk-turen erschöpft, sondern eine Öffnung für das exteriore Sein der Opfer impliziert.
Mit der Kategorie der „Exteriorität“, dem Schlüsselbegriff der frühen Konzeption der Befreiungsethik (den Dussel von Emmanuel Lévinas übernimmt) ist der Horizont bloßer Hermeneutik endgültig überschritten; die uneinholbare Freiheit des Anderen zerbricht das Spiel der Deutungen und ruft in die konkrete, praktische Verantwortung. Dussel gibt jedoch Levinas’ Begriff der „Exteriorität“ zugleich einen realgeschichtlichen Sinn: die Anderen – das sind die Opfer des gegenwär-tigen Weltsystems, die verarmten Massen in den Ländern des Südens, deren Genozid in der westlichen Öffentlichkeit zynisch hinge-nommen wird.
Das zweite Hauptwerk
Repressionen durch den rechten Flügel des Peronismus zwingen Dussel 1975 ins Exil. In Mexiko erhält er an der UAM und an der be-rühmten UNAM eine Professur in Philoso-phie. Die in Argentinien begonnene Befrei-ungsethik wird zwar mit dem fünften Band abgeschlossen; zugleich ist Dussel jedoch bewusst geworden, dass er über die ursprüngliche Konzeption bereits hinausgewachsen ist.
In den 80er und 90er Jahren setzt ein Prozess der Neuorientierung ein. In dieser Zeit ent-steht eine mehrbändige Kommentarreihe zum Marxschen Oeuvre, die frühe Textschichten des Kapitals und vor allem die mo-ralischen Grundlagen der Marxschen Kapitalismuskritik freilegt. 1989 tritt Dussel in ei-nen intensiven Dialogprozess mit K.-O. Apel ein; die jährlichen Gespräche, die von Raúl Fornet-Betancourt organisiert werden, finden abwechselnd in Europa bzw. Lateinamerika statt. Bereits die bloße Tatsache des Dialogs stellt ein philosophiehistorisches Ereignis dar. Zum ersten Mal in der Geschichte lassen sich bedeutende Vertreter europäischer und lateinamerikanischer Philosophie auf ein kontinuierliches Gespräch „auf gleicher Augenhöhe“ ein. Zum Dialog mit Apel kommen Debatten mit Ricoeur, Vattimo, Rorty und Taylor. Der Ertrag dieser Auseinandersetzungen fließt in das neue Opus magnum ein, die Ética de la liberación en la edad de la globalización y de la exclusión (1998). In diesem zweiten Hauptwerk verfolgt Dussel eine begründungstheoretische Vertiefung der bisherigen Befreiungsethik, in der das Verhältnis zwischen kontextualistischer Veran-kerung und universalistischen Geltungsansprüchen noch ungeklärt geblieben war. Die Vergewisserung der kulturellen Identität der Unterdrückten impliziert, wie Dussel nun-mehr energisch herausarbeitet, keineswegs eine kontextualistische Verengung, da die Opfer im Kampf gegen das Unrecht nicht bloß ihr partikulares Sein, sondern den uni-versalen und zugleich materialen Selbst-zweck aller Moral, nämlich die „Erhaltung und Entwicklung des menschlichen Lebens“, verteidigen. Das „materiale Prinzip“ der Ethik, das Dussel gegen den Formalismus der Diskursethik zur Geltung bringt, unter-legt die frühere Zentral-Kategorie der „Exte-riorität“. Da jedoch der konkrete Sinn des Prinzips der „Erhaltung und Entwicklung des menschlichen Lebens“ durch die verschiede-nen Kulturen und Lebensformen jeweils un-terschiedlich ausgelegt wird, muss das „materiale Prinzip“ der Ethik – dies ist Dussels Lektion aus dem Dialog mit Apel - mit dem „formalen Prinzip“ der Ethik, nämlich der Idee intersubjektiver Gültigkeit, aus der die Pflicht zur diskursiven Rechtfertigung moralischer Geltungsansprüche entspringt, vermittelt werden. Damit dürfte das oft monierte Defizit der Befreiungsethik, nämlich der Mangel an Diskursivität, zumindest entschärft sein, auch wenn die neue Konzeption neue Fragen aufwirft.
Das Projekt der Transmoderne
Mit der Befreiungsethik im engeren Sinn als Reflexion auf die Praxis der sozialen Kämpfe verbindet Dussel eine radikale Kritik an den herrschaftslegitimierenden Strukturen neu-zeitlicher Philosophie, die bis heute die Kluft zwischen Arm und Reich in der gegenwärtigen Weltgesellschaft allzu oft verdrängt. Unter den zahlreichen, oft verborgenen Strategien, der „Logik der Totalität“, mit denen die euroamerikanische Philosophie die kulturellen und sozialen Ansprüche anderer Völker und Kulturen ausblendet, nehmen nach Dussel die geschichtsphilosophischen Horizonte, und hier in eminenter Weise das Hegelsche Geschichtsbild, eine besondere Bedeutung ein.
In der Hegelschen Geschichtsphilosophie, in der die Weltgeschichte als Weg von „Osten nach Westen“, d. h. von Mesopotamien und Ägypten über Griechenland, das römische Reich bis hin zur Vollendung der Geschichte in der „germanischen Welt“ begriffen wird, kommen die amerindischen Kulturen erst im Rahmen der europäischen „Entdeckung“ in den Blick, d. h. in der Zeit ihrer Zerstörung. Amerika hat daher bei Hegel keinen Ort in der Weltgeschichte. Im Gegensatz zu Hegel verläuft jedoch – so Dussel – die Weltgeschichte zunächst nicht nur von Osten nach Westen, sondern zugleich von Mesopotamien in den Fernen Osten. Denn die neolithi-schen Hochkulturen breiten sich nicht nur nach Europa, sondern auch nach Indien, China, Polynesien und nach Amerika hin aus, wo die Olmeken im 1. Jahrtausend v. Chr. die ersten großen Reiche bilden. Mit der Situierung der präkolumbianischen „Geschichte“ im Rahmen der neolithischen Revolution erhält die Jahrtausende alte Zivilisation der amerindischen Völker einen „Ort“ innerhalb der Menschheitsgeschichte.
Bis zum Beginn der Moderne gibt es nach Dussel keinen sachlichen Grund für eine ge-schichtsphilosophische Privilegierung der europäischen Geschichte; die Weltgeschichte ist durch die Koexistenz verschiedener Hochkulturen polyzentrisch strukturiert. Erst in der Neuzeit kommt es durch den Aufstieg Europas zum ersten Mal in der Weltgeschichte zur Vorherrschaft eines einzigen Machtzentrums, das alle anderen Völker und Kulturen auf den Status von Peripherien bzw. Semiperipherien zurückstuft.
Den Grundstein für das weltgeschichtliche Novum einer asymmetrischen Weltgesell-schaft bildet die koloniale Unterwerfung und Vernichtung der Völker Amerindiens, Afri-kas und zum Teil auch Asiens. Vor dem ego cogito Descartes’ stand – so Dussels berühm-tes Diktum – das „ich erobere“ von Cortéz. Dies bedeutet: Der moderne Wille zur Macht entlädt sich nicht erst in Auschwitz, sondern bereits am Beginn der Neuzeit, nämlich in der Konquista Amerikas.
Ungeachtet seiner scharfen Kritik an der extremen Vermachtung der real existierenden Moderne, die durch die Vorherrschaft der USA zur Zeit eindrücklich vor Augen geführt wird, gerät Dussels Befreiungsphiloso-phie jedoch nicht, wie vielfach moniert worden ist, in das trübe Fahrwasser eines simplen Antimodernismus; das emanzipatorische Potential der Moderne wird keineswegs verkannt. Im Gegenteil, mit der Befreiungsethik liefert Dussel selbst einen Beitrag für eine kritische Fortentwicklung der vor allem von Kant grundgelegten universalistischen Moral der Moderne. Das Telos seiner Philosophie der Befreiung liegt keineswegs in der Ideali-sierung prämoderner Kulturen, auch nicht in einem kulturalistischen Postmodernismus, sondern in der Vision einer „Transmoderne“, in der allen Völkern und Kulturen die Möglichkeit einer gleichberechtigten Mit-Verwirklichung der modernen Weltgesellschaft eröffnet wird.
Ein Wort zum Schluss
Dussels Denken ist zutiefst durch die europäische Philosophie geprägt; mit einer schier unglaublichen Energie werden große Bereiche der europäischen und später auch der nordamerikanischen Philosophie rezipiert und aus der Sicht Lateinamerikas kritisch kommentiert. Auf den ersten Blick trifft man daher als europäischer Leser stets auf ver-traute Begriffswelten, denen jede Exotik fehlt. Doch beim zweiten Blick entdeckt man, dass jedes Theorem, jede Argumentationslinie merkwürdig verfremdet ist, stets noch irritierende Bedeutungsnuancen enthält. Die für einen europäischen Interpreten erst mühsam zu ortenden Subtexte ergeben sich aus einem zweifachen Kontext seines Denkens, wodurch trotz aller Nähe eine bleiben-de Differenz zur europäischen Philosophie bestehen bleibt: Erstens begleitet Dussels Denken fortwährend die Suche nach einer Verankerung der Philosophie in der lateinamerikanischen Realität. Eine solche Erfahrung ist europäischer Philosophie völlig fremd; denn europäische Philosophie weiß sich trotz aller Kritik an der westlichen Zivi-lisation stets als selbstverständlicher Teil dieser Kultur. Zweitens ist im lateinamerika-nischen Denken, worauf Leopoldo Zea aufmerksam gemacht hat, ein tiefsitzender Zweifel über die Fähigkeit zu authentischer Philosophie präsent. Die historischen Wurzeln des Zweifels an der eigenen philosophi-schen Kompetenz liegen in den Kolonialde-batten des 16. Jahrhunderts, in denen europä-ische Gelehrte darüber diskutierten, ob die Bewohner der „Neuen Welt“ Menschen, d. h. vernunftbegabte Wesen seien oder nicht. Der Zwang, die eigene Humanität vor anderen rechtfertigen zu müssen, hat sich nach Zea tief in das lateinamerikanische Bewusstein eingegraben. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die von Salazar Bondy Ende der 60er Jahre angestoßene Debatte, ob das lateinamerikanische Denken eine authentische oder bloß eine imitative Philosophie sei, verstehen – eine Debatte, die es in Europa niemals gegeben hat, sehr wohl jedoch in Afri-ka; analoge Reflexionen finden sich bezeichnenderweise auch in der feministischen Philosophie.
In Dussels Werk und auch in seinem persönlichen Wirken ist daher neben der Empörung über den Hunger und den vorzeitigen Tod von Millionen Menschen stets auch die Verletzlichkeit durch die Arroganz europäischer Philosophie spürbar. So stößt ein europäischer Interpret in Dussels Werk nicht nur auf argumentative Herausforderungen; in der Begegnung mit seinem Denken werden zugleich die Grenzen des euroamerikanischen Philosophiebetriebs bewusst. Die Tatsache, dass die unselige Debatte zwischen Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de Las Casas, ob die Indios im vollen Sinn Menschen sind, noch immer ihre Schatten über postkoloniale Lebenswelten wirft, hinterlässt bei einem europäischen Philosophen eine schmerzliche Nachdenklichkeit. Zugleich wächst aus dem Blick auf die anhaltende Wirkungsgeschichte der Kolonialdebatten des 16. Jahrhunderts die Einsicht, dass die zunächst so befremdlich anmutenden Probleme der Selbstkonstitution einer latein-amerikanischen Philosophie ein Teil unserer eigenen Geschichte sind.
Lieferbare Bücher von Dussel in deutscher Sprache:
Philosophie der Befreiung. 208 S., kt., € 24.30, Argument, Hamburg.
Prinzip Befreiung – Kurzer Aufriss einer kritischen und materialen Ethik. 200 S., kt., € 21.50, 2000, Concordia, Reihe Monogra-phien, Band 31, Manz, Aachen.
Prophetie und Kritik. Entwurf einer Ge-schichte der Theologie in Lateinamerika. 157 S., kt., € 14.—, Edition Exodus, Luzern.
Ética de la liberación en la edad de la glo-balización y de la exclusión, 1998, Ed. Trotta, Madrid 1998.
Towards an Unknown Marx. A commentary on the manuscripts of 1861-63, 2001, Routledge, London
Hacia una filosofía política crítica, 2001 Desclée de Brouwer, Bilbao.
Beyond Philosophy: Ethics, History, and Liberation Theology (New Critical Theory), 2003, Rowman & Littlefield Publishers.
UNSER AUTOR:
Hans Schelkshorn ist Assistenzprofessor am Institut für Christliche Philosophie der Uni-versität Wien. Von ihm ist über Dussel er-schienen:
- Ethik der Befreiung. Einführung in die Phi-losophie Enrique Dussels, 171 S. 1992, Her-der, Freiburg (im Buchhandel vergriffen).
- Diskurs und Befreiung. Studien zur philo-sophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel, 298 S., kt., € 65.--, 1997, Studien zur Interkulturellen Philosophie 6, Rodopi, Amsterdam-Atlanta.