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Ethik: Rolf Zimmermanns Auseinandersetzung mit Auschwitz

ETHIK

Rolf Zimmermanns Auseinandersetzung mit Auschwitz

Was bedeutet das nazistische Vernichtungsprogramm gegen das jüdische Volk und sei-ne Realisierung in Auschwitz für die Philosophie? Immer wieder ist kritisiert worden, die Philosophie schließe vor diesem Thema die Augen. Der 1944 geborene und seit 1983 an der Konstanzer Universität als Professor lehrende Rolf Zimmermann (er ist Schüler von Tugendhat und Wellmer und hatte sich mit einer Arbeit über Habermas und Marx habilitiert) stellt sich dem Thema in dem Buch

Zimmermann, Rolf: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, 268 S., kt., € 12.90, 2005, rowohlts enzyklopädie 55669, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek.

Für Zimmermann ist mit Auschwitz eine Gattungsüberschreitung eingetreten, die er einerseits als Gattungsbruch, andererseits als Gattungsversagen fasst. Der Bruch besteht darin, dass sich im 20. Jahrhundert Menschen daran machten, eine Welt zu schaffen, die moralisch gesehen einem anderen Planetensystem zuzuordnen ist: Diese überschritt das, was nach menschlichem Ermessen vorstellbar schien. Durch den Ausschluss des jüdischen Volkes aus der menschlichen Gattung betrieb der Nazismus zugleich die Selbstinterpretation eines moralischen Andersseins, das auf das Problem führt, wie dieses moralische Anderssein begrifflich zu fassen ist. Dabei muss dessen Unmoral charakterisiert, andererseits der Tatbestand berücksichtigt werden, dass die wertsetzende Kraft des Nazismus stark genug war, um das Selbstverständnis der Menschen so zu prägen, dass die Transformierbarkeit in eine an-dere moralische Welt real möglich erschien. Zimmermann spricht von einer nazistischen Transformationsmoral, durch die die herkömmlichen moralischen Grenzen verlassen und ein neues „Menschentum“ geschaffen werden sollte.

Der Nazismus lässt sich nach Zimmermann in seiner Werte-Welt als der Versuch ver-standen werden, einer sich sukzessive entfal-tenden Universalisierungsdynamik ein Ende zu bereiten. Was lässt sich daraus folgern? „Es gibt keine Vernunftgarantie für die universalistische Moral“, lautet Zimmermanns Antwort. Der Zusammenhang zwischen dem Inhalt des moralischen Universalismus und der Idee von der Gattungsallgemeinheit, die noch für Kant selbstverständlich war, löst sich auf.

Hannah Arendt hat Kants Wendung vom „radikal Bösen“ eingesetzt, um das „Grauen der Konzentrations- und Vernichtungslager“ zu interpretieren. Zimmermann will nichts Geringeres als dieses Novum, das er eine „moralische Gattungskrise“ nennt, heraus-stellen und beurteilen. Arendts Sprechweise vom „radikal Bösen“ hält er für zu einfach, da es dieses „radikal Böse“ schon immer gegeben hat und Auschwitz etwas fundamental Neues bedeutet.

Auschwitz liegt der Ausschluss der Juden aus der menschlichen Gattung zugrunde. Der Gattungsbruch geht einher mit einem moralischen Transformationsprojekt, das die epo-chale Zäsur, mit der wir es zu tun haben, unterstreicht. Zimmermann sieht hinter dem rassistisch aufgezogenen Antisemitismus einen wertorientierten Antijudaismus am Werk, der sich gegen die „jüdische Aufklärungsideologie des Universalismus“ als „negativem Universalismus“ wendet, um schließlich die Bekämpfung jüdischer Ideen durch die Vernichtung der jüdischen „Rasse“ zu betreiben.

Er sieht Auschwitz auf dem Hintergrund des Universalismus, des abstrakten Universalis-mus, den er auf die Kurzformel des interhu-manen Respekts zwischen Menschen als Menschen bringt und der das Resultat einer historischen Entwicklung ist. Einer Entwicklung, in der immer schon die Spannung zwischen Universalisierungsdynamik und Ge-schichtsgebundenheit angelegt ist. Beim Nationalsozialismus handelt es sich um ein Menschheitsgeschehen, weil den Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit im Sinne einer sich sukzessive entfaltenden Universalisierungsdynamik ein Ende bereitet werden sollte.

In seiner Negativen Dialektik kommt Adorno zu der beeindruckenden Formulierung: „Hit-ler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, dass nichts Ähnliches geschehe.“ Allerdings macht Adorno nicht den naheliegenden Schritt eines inhaltlich gefassten Universalismus, der für Menschen eine Selbstinterpretation expliziert, die ein künftiges Auschwitz sowohl aus der Ich- wie auch aus der Wir-Perspektive ausschließt. Vielmehr versucht sich Adorno der Formulierung von Moral aus allgemeinen Begriffen zu entwinden, wenn es darum geht, Konsequenzen für den Bereich der Politik zu ziehen. Denn, so fragt Zimmermann, wie schaffen wir es, „dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschieht?“ Als Garanten sieht er den demokratischen Verfassungsstaat. Aber: Was für eine Form braucht dieser? Hier knüpft Zimmermann an Max Weber an: Ein solcher Staat muss nachstehenden Kriterien genügen:

1. Politische Leitziele müssen moralisch kritisierbar sein.
2. Politisches Handeln muss sich der moralischen Kritik zum Verhältnis von Zwecken und Mitteln stellen.
3. Moralische Dilemmata in der Politik müssen anerkannt werden.

Auf gesellschaftlicher Ebene muss denjenigen Moralauffassungen der Boden entzogen werden, die sich mit pseudorationalen Verschwörungs- und Rassentheorien oder ge-schichtsmetaphysischen Volks- und Klassen-theorien verschränken. Auf diese Weise lässt sich die theoretische Vernunft in den Dienst der praktischen nehmen, um die Chance zu wahren, der Moral ihren eigenen Spielraum zu lassen und unterschiedliche Moralauffassungen rational diskutabel zu halten. Hierbei gilt es, insbesondere Philosophie und Sozialwissenschaft im Interesse moralisch relevanter Weltinterpretationen methodisch zu verbinden. Dabei ist es für die Sozialwissenschaften wichtig, sich die innere Verbindung von Wertfreiheit und Moral klar zu machen. Das Postulat der Wertfreiheit besteht zum einen auf der Trennung von Tatsachen und Werturteilen, zum anderen lässt es sich in moralischer Hinsicht als Postulat zur Freiheit der praktischen Wertung aus der Perspektive empirisch handelnder Menschen als Men-schen lesen. Wir können gar nicht anders, als uns den Fragestellungen der Handlungsempirie wertend zuzuwenden. Dabei eröffnet sich die systematisch relevante Spezifizierung der moralischen Eigendimension des Menschen und das bedeutet, das für uns – im Unter-schied zu anderen Moralauffassungen – das moralische Selbstverständnis nur durch die Moral des Universalismus besetzt sein kann. Die Freiheit der praktischen Wertung kann
also nur als eine durch den Universalismus geleitete Freiheit verstanden werden.

Das Buch, so schrieb Leni Höllerer in der Südwest-Presse, sei zwar ein faszinierendes Plädoyer für die Werte der modernen Demo-kratie, „doch einen Ausweg aus dem philo-sophischen Dilemma findet Zimmermann nicht“. Dennis Schmolk meint in „Aufklärung und Kritik“, „die an sich recht einfach zu überblickenden Thesen werden in Universitätskauderwelsch verpackt. Die Anleihen bei Tugendhat, Max Weber, Habermas und Adorno wirken teils recht deplaziert, da die Entwicklung der Gedankengänge auch anderweitig möglich gewesen wäre“. Zimmermanns Thesen, so schrieb Detlef Horster in der Süddeutschen Zeitung, seien „plausibel und überzeugend, aber nicht neu“, denn sie fänden sich bereits bei Benedikt XVI. zu einer Zeit, als dieser noch Kardinal Ratzinger hieß.