ETHIK
Klaus Düsing sucht ein Fundament der Ethik und findet dessen Basis in der „idea-lisierten voluntativen Selbstbestimmung“
Ordnung in die unüberblickbare Vielfalt ethischer Ansätze bringen will der seit kur-zem emeritierte und durch seine Hegel-Forschungen bekannte Kölner Philosophieprofessor Klaus Düsing. Dazu systematisiert er in seinem Buch
Düsing, Klaus: Fundamente der Ethik. Un-zeitgemäße typologische und subjektivitäts-theoretische Untersuchungen. 334 S., kt., € 58.—, 2005, problemata, Frommann-Holz¬boog, Stuttgart
Die ethischen Vorstellungen, die die einzel-nen Ansätze leiten, in bestimmte Grundtypen von Ethik-Konzeptionen. Berücksichtigt werden nicht nur moderne, sondern auch ältere, insbesondere antike Ethik-Konzeptionen. Sein Resultat: es gibt drei solcher Grundtypen, nämlich die ethische Pflichtenlehre bzw. Deontologie, de, Utilitarismus oder Eudämonismus und die Tugendlehre.
Die drei ethischen Grundtypen
Die Deontologie ist dadurch charakterisiert, dass als sittlich nur ein willentliches Verhalten und die Disposition dazu gelten kann, das sich nach bestimmten, aus Einsicht und Freiheit selbstauferlegten, insofern ethischen Normen oder Pflichten richtet. Ethische Pflichten sind dabei solche praktische Geset-ze oder Normen mit Allgemeinheitscharakter, die eine Person von sich aus und durch eigene Einsicht ohne praktisch determinierten Zwang von außen sich selbst auferlegt.
Die mächtige Gegenrichtung gegen die De-ontologie insbesondere im angelsächsischen Bereich ist der Utilitarismus. Dieser stellt einen grundlegenden anderen Ethik-Typus dar, der Sittlichkeit wesentlich im Ausgang von dem anzustrebenden höchsten Ziel und Zweck für den einzelnen und für eine Gemeinschaft zu bestimmen sucht; daran lässt sich der Nutzen von Handlungen und Verhaltensweisen für diesen Zweck bemessen.
Weitgehend vernachlässigt ist dahingegen die dritte genuine Ethik-Konzeption, die Tu-gendlehre. Hier wird die Sittlichkeit als Tu-gend um ihrer selbst willen und nicht nur als interner, wesentlicher Bestandteil von Glückseligkeit begriffen. Historisch findet sich eine solche Position insbesondere in der Ethik des mittleren Platon.
Diese Grundtypen beruhen nach Düsing auf der Struktur des Willens, der seine vielfachen Handlungen nach einer allgemeinen
Gesetzmäßigkeit einzurichten hat und der dabei immer Zwecke verfolgt, darunter auch den, den er als seinen letzten oder höchsten ansieht. Der Wille nimmt diese zweckgerichteten Handlungen immer in einer gewissen Haltung oder Einstellung vor.
Eine andere Unterscheidung erfolgt hinsicht-lich bevorzugter Anwendungsgebiete. Hier steht auf der einen Seite die Individualethik, auf der anderen die politische Ethik. Exemplarisches Beispiel für die politische Ethik ist wiederum die Politeia des mittleren Platon. Vom Grundtypus her ist diese Tugendlehre, von der Anwendung her politische Ethik. Sittliche Eigenschaften kommen dabei dem Einzelnen wesentlich als Polis-Bürger zu. Im Gegensatz dazu nennt Düsing als Beispiel antiker Individualethik die Ethik Epikurs.
Eine weitere Unterscheidung der verschiedenen Ethikansätze sieht Düsing darin, ob diese in empirischen oder in apriorischen Prinzipien fundiert sind. Entsprechend der subjektiven Fundierung kann hier zwischen Vernunft- bzw. Gefühlsethik unterschieden werden.
Gibt es eine einheitliche Grundlage der Ethik?
In der gegenwärtigen Ethik konstatiert Düsing eine Prinzipienscheue und damit eine Bevorzugung der Betrachtung konkreter einzelner ethischer Probleme. Die moralische Einschätzung und Beurteilung fällt aber dann oft divers aus. Den Grund sieht Düsing in der Unterschiedlichkeit der vorausgesetzten (und nicht eigens erörterten) Leitvorstellungen. Wenn diese ethischen Grundlagen aber strittig bleiben, lässt sich schwerlich eine Über-einkunft bei konkreten einzelnen Problemen finden.
Aber gibt es eine einheitliche Grundlage der Ethik? Ja, meint Düsing und sieht dies in der von ihm so genannten „idealisierten voluntativen Selbstbestimmung“. Wenn sich eine Person in ihren praktischen Beurteilungen und Handlungen nicht unüberlegt von Situation zu Situation treiben lässt, sondern sich grundsätzlich in einem von ihr selbst entworfenen und in ihr soziales Leben eingebetteten „Lebensziel“ orientiert, so realisiert sie ein „Selbstbewusstseinsmodell der voluntativen Selbstbestimmung“. Prinzipiell kann jeder solche voluntative Selbstbestimmung in Verantwortung für sein eigenes Leben und Tun konstituieren, dennoch handelt es sich um den Idealtypus eines Selbstverständnisses eines konkreten Selbst. Dabei wird auf der Basis signifikanter persönlicher Erfahrungen und unter Weglassung von Zufälligkeiten individuellen Erlebens ein Idealtypus eines Selbstbewusstseinsmodells entworfen, d.h. in den Worten Düsings, „eine in sich einheitliche, strukturierte Sinngestalt selbstbezüglichen einzelnen Selbstbewusstseins“.
Eine Konzeption rein praktischer Subjektivität
Aus diesem Modell lässt sich durch erneute, höherstufige Idealisierung eine Konzeption reiner praktischer Subjektivität gewinnen. Daraus wiederum will Düsing durch Hervorhebung exemplarischer allgemeingültiger Sinngehalte sowohl das rein tätige ethische Subjekt als auch dessen noematischer Vorstellungsgehalt, der sein Wirken leitet (konkret: eine ethische Gemeinschaft solcher reiner tätiger Subjekte) als Fundament der Ethik entwickeln. Auf diese Weise gelangt Düsing vom idealtypischen Selbstbestimmungsmodell der voluntativen Selbstbestimmung durch eine zweifach gestufte Idealisierung zu einer „eigenen reinen Sphäre apriorischen Bedeutungsgehaltes“, mithin dem Fund-ment der Ethik. Diese beinhaltet eine apriorische, nicht aus der Erfahrung abstrahierte, aber keineswegs unrealisierbare oder frei-schwebende Bedeutung und gilt präskriptiv für sittlich mögliche und wirklich personale Praxis, die sich in der konkreten Welt realisieren und bewähren muss. Historisch gese-hen gleicht dieses Modell einer idealistischen Konzeption des reinen Willens ähnlich der des frühen Fichte (in dessen Sittenlehre von 1798).
In dem von Düsing skizzierten Modell stellt sich jedes Selbst in einer grundsätzlichen praktischen Selbstbestimmung eine ideale Gemeinschaft als handlungsbestimmendes Prinzip der Sittlichkeit vor, und die ideale voluntative Selbstbestimmung eines jeden Selbst enthält den prinzipiellen Entschluss, für eine solche Gemeinschaft zu wirken. Denn obwohl das Ideal einer ethischen Ge-meinschaft vom einzelnen Selbst entworfen wird, gilt es allgemein, nämlich für jedes einzelne Selbst, das eine ideale voluntative Selbstbestimmung ausübt. Es ist dem inter-nen Sinn nach unzeitlich und damit unge-schichtlich in seiner Geltung. Dass bedeutet, dass sich dieses Selbstbewusstseinsmodell zwar konkret und real in einer bestimmten Kultur- und Geschichtszeit ausgebildet hat, es aber als idealisierte voluntative Selbstbe-stimmung unabhängig vom realen Erleben und dessen Erlebniszeitbestimmung für jedes reine Selbstbewusstsein und dessen Wollen gilt.
Das wechselseitige Einverständnis, die ideale voluntative Selbstbestimmung eines jeden praktischen Subjekts anzuerkennen, so wie jedes praktische Selbst sich ebenfalls darin anerkannt findet, erfolgt durch grundlegenden freiwilligen Entschluss als eine innere Handlung, die keinen äußeren Vertragsabschluss darstellt. Voraussetzung hierfür ist aber die Annahme der Möglichkeit sittlicher voluntativer Introspektion, für die das Ge-wissen ein reales Beispiel ist. Auf dem Fundament der Introspektion können wir grundlegender Übereinstimmung mit anderen praktischen Subjekten im Wollen des Ideals einer ethischen Gemeinschaft bewusst wer-den (ein Vertragsmodell ist dabei nicht nur unnötig, sondern auch unpassend).
Die ideale voluntative Selbstbestimmung
Diese ideale voluntative Selbstbestimmung und das darin implizierte Ideal einer ethischen Gemeinschaft bilden nun nach Düsing das eigentliche Fundament der verschiedenen Gebiete und Arten der Ethik. Da das Ideal praktische Bedeutung haben und den Willen in seinen freien Entschließungen bestimmen soll, es zu fördern, wird eine solche Beförderung als schlechthin gesollt vorgestellt. Darin gründen die ethischen Pflichten und auch die Lehre über sie, die ethische Pflichtenlehre. Die sich in ihrem Wollen sittlich bestimmende Person bildet in der Beförderung dieses Ideals und spezifisch hinsichtlich der Ausführung ethischer Pflichten ethische Haltungen als dauerhafte Dispositionen zu handeln aus, die Tugenden; die ethische Lehre über sie ist die Tugendlehre. Weiter ist der Wille selbst in der voluntativen Vorstellung des Spannungsfeldes zwischen seinen Möglichkeiten und seiner Wirklichkeit teleologisch strukturiert; er entwirft ausgehend von seinem wirklichen Zustand im Vollzug der Selbstbestimmung inhaltlich erfüllte eigene Zwecke und sucht sie zu verfolgen. Die vo-luntative Selbstbestimmung verfolgt dabei ethische Zwecke und als deren leitendes Prinzip einen inhaltlich bestimmten höchsten Zweck (oder höchstes Gut), was in einer Lehre vom ethischen Zweck oder Gut ausgeführt wird. So zeigt sich, dass eine subjektivitätstheoretisch fundierte Ethik die drei entscheidenden Gebiete der Ethik umfasst.