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FORSCHUNG

Lebenskunst: Seels Paradoxie des Glücks

PHILOSOPHIE DER
LEBENSKUNST

Seels Paradoxie des Glücks

Es scheint unmöglich zu bestreiten, dass ein gutes Leben eines wäre, in dem unsere wich-tigsten Wünsche in Erfüllung gehen. Bei näherer Betrachtung jedoch erscheint es ebenso sicher, dass ein solches Leben kaum auszuhalten wäre, da zu einem erträglichen menschlichen Leben neben der Erfüllung auch das Verlangen nach Erfüllung gehört. Dieses Bedürfnis nach Verlangen, so führt Martin Seel in seinem Essay

Seel, M.: Paradoxien der Erfüllung, in: Neumann, Susan / Kroß, Matthias (Hrsg.): Zum Glück (304 S., Ln., € 39.80, 2005, Aka-demieVerlag)

aus, kann nicht durch Erfüllung allein befriedigt werden. Eine der Konsequenzen aus die-ser paradoxen Situation ist die, dass Glück als eine Erfüllung ungeahnter Wünsche verstanden werden muss. Eine zweite, dass ein gutes menschliches Leben nicht so sehr in dem Erreichen von Zielen besteht als vielmehr in dem Versuch, die eigenen Leidenschaften am Leben zu erhalten. Eben darum, so Seels Schlussfolgerung, ist Autonomie wichtig; denn das, was die Philosophie Selbstbestimmung nennt, ist im Kern die Fähigkeit, sich um die Intensität und Offenheit des eigenen Daseins zu kümmern. Das bedeutet, dass der Mensch nicht sinnvoll wünschen kann, dass alle seine Wünsche in Erfüllung gehen. Wenn es gelingt, dieser Anti-nomie zu entkommen, gelingt es vielleicht, zu einem angemessenen Verständnis menschlichen Wohlergehens zu gelangen.

Die enge Verbindung von Wunsch und Er-füllung ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit über die Verfassung eines guten Lebens. Denn dass ein Wunsch ein Wunsch nach Erfüllung ist, bedeutet nicht notwendigerweise, dass ein Wunsch erfüllt ist, wenn das Subjekt dieses Wunsches die gewünschte Situation erreicht. Wir dürfen die Vorstellung oder Vorwegnahme der Erfüllung auf Seiten der begehrenden Personen nicht mit dem gleichsetzen, was im Prozess ihres Lebens tatsäch-lich als Erfüllung zählt. Ein wichtiger Grund hierfür liegt darin, dass unser Wohlergehen wesentlich von der Existenz noch unbestimmter Faktoren abhängt. Wir möchten nicht einfach das bekommen, was wir wollen, wir möchten von unserem Glück zu un-serem Glück überrascht werden. Wir wollen nicht einfach und oft nicht geradewegs das erhalten, was wir wollen, sondern noch ein bisschen mehr und am liebsten etwas anderes als das.

Trotzdem ist und bleibt Erfüllung ein immanentes Ziel unseres Begehrens und Bestre-bens; nur ist es nicht das einzige. Ein anderes besteht darin, unbestimmte Aussichten zu haben, deren Erfüllung nicht antizipiert werden kann. Dem gegenüber aufgeschlossen zu sein, was nicht antizipiert werden kann, ist eine basale Tugend personaler Lebensführung. Das Element des Zufalls betrifft nicht allein die Objekte unseres Verlangens, es betrifft auch unser Verlangen selbst. Wenn es zutrifft, dass unsere Erwartungen in vielen Situationen der Erfüllung positiv enttäuscht werden – wir kriegen nicht ganz das, was wir wollten, aber eben das verschafft uns eine außerordentliche Befriedigung – dann schließt Glück eine Bekanntschaft mit Wünschen (oder Aspekten von Wünschen) mit ein, die wir möglicherweise vor ihrer Erfüllung noch gar nicht hatten. Diese Erfahrung ist für Seel ein paradigmatischer Fall der Erfahrung existentiellen Glücks. Glück in diesem Sinn ist nicht so sehr eine Befriedigung gegebener Wünsche, sondern eine Erfüllung (bis dahin) ungeahnter Wünsche.

Zwei Bedeutungen von Glück werden oft verwechselt. Im ersten, episodischen Sinne ist Glück eine Qualität von zeitlich oft stark begrenzten Situationen der Erfüllung. Glück im zweiten, prozessualen Sinne ist eine Qua-lität des Lebensvollzuges in der Kontinuität sehr verschiedener Arten von Situationen. Jedes Verständnis von Glück im episodischen Sinn bleibt unvollständig, solange ihm keine Erfahrung seiner prozessualen Bedeutung zur Seite steht. Jedoch gilt dies auch umgekehrt: Jedes Verständnis der Qualität des Lebensprozesses muss eine Analyse seiner mehr oder weniger herausragenden Momente der Erfüllung enthalten.

Es ist der unvermeidliche Grundmangel jedes sogenannten Lebensplanes, dass er Mög-lichkeiten ausschließen muss, die sich früher oder später als der relativ beste Weg zum Himmel auf Erden erweisen könnten. Wer einen Lebensplan von der Art hätte, wie ihn
Philosophen und Ökonomen empfehlen, sollte alles tun, um seiner Choreographie zu ent-kommen. Denn die zu Lebzeiten erreichte Erfüllung eines solchen Planes könnte nur im Desaster enden. Ein erfülltes Leben nämlich, das ist Seels zweites Paradox, ist kein Leben in Erfüllung. Es genügt uns nicht, befriedigt zu sein, und sei es auf die ekstatischste Weise. Wir wünschen, was wir wünschen und wollen, was wir wollen, aber wir wollen uns auch wünschend und wollend.

An diesem Punkt ist es ratsam, zwischen solchen Wünschen zu unterscheiden, die sich mit ihrer Erfüllung beruhigen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Das Problem ist, wie jene Formen des Verlangens einzustufen sind, die wir nicht allein wegen ihrer Befriedigung schätzen. Ein gutes menschliches Leben vollzieht sich nicht allein im Erreichen lohnender Ziele, sondern ebenso darin, die eigenen Leidenschaften am Leben zu erhalten. „Leidenschaft“ bezeichnet hier Wiesen, in denen einem an etwas liegt. Nicht nur daran, wie einem an etwas liegt, auch daran, dass einem an etwas liegt, kann einem liegen. Wenn wir den Wunsch haben, unsere Leidenschaften am Leben zu erhalten, dann ist solches Lebendigsein eine Erfüllung die-ses Wunsches. Nur diejenigen, denen in ih-rem Leben an etwas – und ihrer Leidenschaft hierfür – liegt, sind fähig, Augenblicke einer herausragenden episodischen Erfüllung zu erfahren, in denen sich diese ihre Einstellung zum Leben auf überraschende Weise bestä-tigt oder verändert. Und nur wer so etwas wie eine Biografie wechselvoller Anteilnah-me an diesem und jenem durchlebt hat, wird in der Lage sein, die Art seines oder ihres Lebens als etwas zu erfahren, die zu erhalten oder verändern sich lohnt. Das aber ist der springende Punkt der individuellen Lebensführung: das Leben so zu führen, wie es von dem Subjekt dieses Lebens bejaht werden kann, und dies bis zu einem gewissen Grad unabhängig davon, ob seine wichtigsten Ziele sich erfüllt haben, erfüllt werden oder sich überhaupt erfüllen können.

Darum ist Autonomie wichtig. Denn Autonomie ist nicht viel mehr als die Fähigkeit, sich um die Lebendigkeit und Offenheit des eigenen Daseins zu kümmern. Es ist ihre Leistung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Perspektive des Individuums so zu verbinden, dass ihm ein Spektrum aussichtsreicher Perspektiven offen steht. In dieser Fähigkeit liegt der Kern des Glücks im prozessualen Sinn. Sie zu besitzen bedeutet das eigene Leben in einer erfüllenden, wenn auch nicht immer und überall befriedigenden Weise zu führen. Es bedeutet, einer freien Weltbegegnung mächtig zu sein. Es bedeutet, für Möglichkeiten aufgeschlossen zu sein, die noch unerschlossen sind und es vielleicht für immer bleiben. In dieser Weise autonom zu leben bedeutet freilich auch, in hohem Maße durch Erfahrungen der Frustration verletzbar zu bleiben. Aber das ist nun einmal der unvermeidliche Preis, offen zu sein für Dinge, die da kommen mögen. Erfüllung in der prozessualen Bedeutung schließt also Perioden der Frustration und Verzweiflung nicht aus; was sie ausschließt, ist lediglich, so zu leben, wie man es nicht will.