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EDITIONEN

Kierkegaard, Sören: Nachlaß - Die deutsche Kierkegaard-Edition

Kierkegaards Nachlass
Die deutsche Soeren Kierkegaard-Edition

Seit 1997 erscheint in einem editorischen Großprojekt in Kopenhagen unter dem Titel Soeren Kierkegaards Skrifter eine völlig neue Gesamtausgabe der Werke und des Nachlasses von Kierkegaard. Von Anfang an waren dabei Parallelausgaben von Übersetzungen ins Chinesische, Deutsche, Englische, Französische, Polnische, Spanische und Ungarische intendiert. Die Neuausgabe ist auf 55 Bände angelegt und wird all das enthalten, was aus Kierkegaards Feder überliefert ist.

Die deutsche Ausgabe wurde vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt unter Leitung von Hermann Deuser übernommen und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Sie will die deutschsprachige Kierkegaard-Lektüre auf eine neue, philologisch wie sprachlich adäquate Grundlage stellen. Dazu werden nicht nur die Texte der Kopenhagener Ausgabe, sondern auch die dazugehörigen editorischen Berichte wie die Realkommentare in adaptierter Form in deutscher Sprache zugänglich gemacht. Die Notwendigkeit einer neuen deutschsprachigen Ausgabe ist offensichtlich: Einige der bislang vorliegenden Übersetzungen sind in sprachlicher Hinsicht nicht mehr zu verantworten, und die Teilübersetzungen aus dem Nachlass beruhen auf philologisch überholten Voraussetzungen sowie auf einer problematischen Textauswahl.

Die Ausgabe erscheint in vier Textgruppen:
a) von Kierkegaard veröffentlichte Werke
b) von ihm zwar fertig gestellte, aber nicht veröffentlichte Werke,
c) seine Journale und Aufzeichnungen sowie d) seine Briefe sowie biographische Dokumente.
Insgesamt sind dafür 55 Bände vorgesehen.

Kierkegaards Journale und Aufzeichnungen

Die Deutsche Kierkegaard-Edition beginnt mit der Übersetzung der auf 11 Bände angelegten „Journale und Aufzeichnungen“, aus denen bislang auf deutsch nur Auszüge bekannt sind und die auf einer teilweise unzuverlässigen Textgrundlage beruhen. Die dänische Ausgabe hat hier neue Maßstäbe in der Editionsphilologie gesetzt, indem etwa die von früheren Herausgebern aufgebrochenen ursprünglichen Texteinheiten wiederhergestellt und deren Eingriffe in die Manuskripte durch Verwendung von Licht- und Elektronenmikroskopie von Kierkegaards eigenem Text unterschieden werden. Durch diese Verfahren haben sich auch von Kierkegaard selbst unleserlich gemachte Eintragungen entziffern lassen.

Kierkegaard bezieht sich mit „meine Papiere“ und „meine nachgelassenen Papiere“ auf das, was wir heute seinen Nachlass nennen. Es handelt sich dabei in erster Linie um eine Art „Journale“, literarische Formen der Selbstdarstellung und der autobiographischen Darstellung. Sie reichen von einer knappen lyrischen Form über bekennerhafte Selbstergründungen bis hin zu Journalen der Selbstvollendung und den Großformen intellektueller Autobiographie. Diese beschränken sich aber nicht auf diese Aspekte, hier finden wir Aufzeichnungen, deren Ausgangspunkt eine Beobachtung, ein Gespräch auf der Strasse, einer Bemerkung in einer Predigt oder in einer Lektüre bilden. Sie beinhalten immer eine über die einzelne Beobachtung hinausgehende Reflexion, weswegen diese Aufzeichnung als ein integrativer Bestandteil von Kierkegaards literarischem Schaffen betrachtet werden müssen. Man stößt dabei auf eine ganze Reihe von literarischen Entwürfen zu Gebeten und ihrer Ausformulierung. Bei Kierkegaard drängt diese eigenständige literarische Form immer über ihre gattungsmäßigen Grenzen hinaus, um in einen performativen Akt überzugehen. Daneben finden sich in den Journalen auch Aufzeichnungen, die sich auf Kierkegaards Studium beziehen: Listen von Büchern, Buchexzerpte, Zusammenfassungen von und Kommentare zu gelesenen Büchern, Mitschriften von Vorlesungen usw. Hierzu gehören auch Übersetzungen aus dem griechischen Neuen Testament, die er in seiner Studienzeit anfertigte. Und insbesondere auch zunächst lose hingeworfene Aphorismen und deren spätere Überarbeitungen und literarische Verfeinerungen, von denen nicht wenige schließlich in den veröffentlichten Werken auftauchen. Diese Aufzeichnungen wachsen sich teilweise zu Vorstudien und Entwürfen von später publizierten Werken aus und machen einen wichtigen Teil des Nachlasses aus. Dieser behält aber auch eine große Anzahl von losen Blättern und Zetteln gemischten Inhalts, die sich teilweise schwer datieren lassen.

 

 


Davon zu trennen sind Schriften, die entweder noch zu Lebzeiten fertig gestellt und zur postumen Publikation bestimmt oder aber einen bedeutenden Grad der Bearbeitung und Redigierung aufweisen. Dazu zählt Der Gesichtspunkt für eine schriftstellerische Tätigkeit und die Schrift Urteile selbst! Der Gegenwart zur Selbstprüfung empfohlen.

Die deutschsprachige Gesamtausgabe beginnt mit einer auf elf Bände berechneten Ausgabe von Kierkegaards Nachlass. Hinzu kommen ein eigener Band mit Kierkegaards Briefen sowie biographische Dokumente. Für jeden dieser Nachlassbände ist ein eigener Herausgeber verantwortlich.

Kierkegaard war sich im klaren darüber, dass nach seinem Tod jedes einzelne seiner hinterlassenen Schriftstücke Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen sein würde. Er traf deshalb Vorbereitungen für seinen eigenen Nachlass. Um 1848 erwog er, den ihm nahe stehenden Philosophieprofessor Rasmus Nielsen mit der Herausgabe seines „ganzen literarischen Nachlasses, Manuskripten, Journalen usw.“ zu betrauen. Aufgrund der Verschlechterung seines Verhältnisses zu Nielsen nahm er aber später davon Abstand. Nach Kierkegaards Tod kam der Nachlass in die Hände seines Neffen Henrik S. Lund. Dieser wollte erst den Nachlass selber herausgeben, kam aber nicht weiter als bis zu einem nicht ganz vollständigen Verzeichnis der Manuskripte. Es ist dies die erste ausführliche Beschreibung, die wichtige Hinweise auf die ursprüngliche Anordnung gibt. 1858 wurden die Manuskripte an Wittgensteins Bruder Peter Christian Kierkegaard, den damaligen Bischof von Aalborg, geschickt. Dieser gab 1859 Der Gesichtspunkt für meine schriftstellerische Tätigkeit aus dem Nachlass heraus, ließ dann aber die Sache auf sich beruhen. 1865 beauftragte er den Juristen Hans Peter Barfod, „Soerens Papiere durchzusehen, zu registrieren usw.“ Barford erstellte ein neues Verzeichnis, das auch Daten, Überschriften und Anfangswörter sowie das behandelte Thema der Nachlassstücke registrierte.
In den Jahren 1869-1881 wurde, erst von Bradford, dann von Hermann Gottsched, ein großer Teil des Nachlasses veröffentlicht. Unglücklicherweise wurden die Manuskripte dabei gleichzeitig als Druckvorlage verwendet, etwa 20% von ihnen kamen aus der Setzerei nicht mehr zurück und sind verloren gegangen.

Eine umfassendere und philologisch genauere Ausgabe des Nachlasses veröffentlichten Peter Andreas Heiberg, Viktor Kuhn und Einer Torsting. Sie ordneten die Aufzeichnungen teils unter chronologischen, teils unter thematischen Gesichtspunkten. Allerdings ist beides in einem nicht unerheblichen Maße vom Urteil des Herausgebers abhängig. Aber auch diese Ausgabe ist nicht vollständig, sie wurde zunächst durch eine Ausgabe der Briefe, später durch zwei Ergänzungsbände erweitert.
Die beiden Ausgaben bildeten den Hintergrund für die deutschsprachige Rezeptionsgeschichte und sie haben diese durch ihre Eigentümlichkeiten mitgeprägt.

Der erste Band der neuen Ausgabe beinhaltet die nachgelassenen Aufzeichnungen des
jungen Kierkegaard aus dem Zeitraum von vom Sommer 1835 bis Januar 1839, also des 20jährigen Kierkegaard:

Deutsche Soeren Kierkegaard Edition. Band 1. Journale und Aufzeichnungen Journal AA BB CC DD. Herausgegeben von Hermann Deuser und Richard Purkarthofer. 614 S., Ln., 2005, € 198.—, de Gruyter, Berlin

Das Journal AA beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung der Umgebung von Gilleleje, in dem sich Kierkegaard von Mitte Juni bis gegen Ende August 1835 aufgehalten hat, um sich für seine Prüfungen vorzubereiten und in denen Kierkegaard über die Beschreibung hinaus mit allgemeinen Reflexionen beginnt. Die nächsten Aufzeichnungen betreffen Reaktionen auf vier Artikel, mit denen Kierkegaard erstmals an die Öffentlichkeit getreten ist und mit denen er gleich überraschend große Aufmerksamkeit erregte. Die restlichen Texte beschäftigen sich u. a. mit Fragen der nordischen Mythologie, mit familiären Angelegenheiten sowie mit dem Begriff „Wechselwirkung“ in der deutschen Philosophie und Theologie.

Das Journal BB besteht aus zwei Gruppen. Der größere Teil wird von Kierkegaards Exzerpten zur Faustliteratur dominiert. Er beginnt mit einem Exzerpt einer Vorlesung von Christian Molbech über dänische Poesie. Der zweite Teil enthält Exzerpte von Literatur über den „Ewigen Juden“ und zum „Don Juan“.

Unterschiedlich ist der Inhalt des Journals CC, dieser sehr kurze Teil des Bandes entzieht sich einer einheitlichen Charakterisierung. Der längste Teil beinhaltet einen Entwurf zu einem zeitkritischen Zeitungsartikel, in dem Kierkegaard vor einem sprachlichen Konkurs warnt und die Hegelsche Dialektik auf das Schusterhandwerk anwendet. Er enthält aber auch Aphorismen: „Der eine Gedanke löst den andern ab; sobald er gedacht ist, und ich ihn niederschreiben will, ist da ein neuer – halt ihn, ergreif ihn – Wahnsinn – Irrsinn!“

Journal DD enthält eine lose Skizze für eine Studentenkomödie, die sich bei näherem Hinsehen als Satire über H. L. Martensen eifriges Werben für die hegelsche Philosophie entpuppt und die über den geistlosen Umgang mit den Hegelschen Termini spottet. Viele der übrigen Beiträge befassen sich mit kirchen- und dogmengeschichtlichen Themen sowie mit Märchen und dem Volksglauben.

Alle Texte sind mit einem editorischen Bericht und einem aufwendigen Kommentar erschlossen. Ein großer Aufwand für viele eher marginale Texte Kierkegaards.

Man kann sich fragen, ob unfertige Texte eines 10jährigen einen derartigen Aufwand rechtfertigen. Für den Wiener Philosophen und Kierkegaard-Kenner Konrad Paul Liessmann ist die Antwort klar: Er ist voll des Lobes über diesen ersten Band: „Schon die frühen Aufzeichnungen der Jahre 1835-37 zeigen erstaunlich viele Motive und Fragen, die Kierkegaards Denk- und Lebensweg auch weiterhin bestimmen sollten. Der Wechsel von einer Betrachtung äußerer Eindrücke zu einer radikalen Selbstbefragung und Selbstreflexion zeigen schon den jungen Kierkegaard als Denker des Intérieurs, als den ihn Adorno später einmal charakterisieren sollte. Allerdings: Wie immer ist bei Kierkegaard auch hier Vorsicht geboten. Unmittelbar gibt er sein Inneres nie preis. Er war der Dichter auch seiner Innerlichkeit.“ (Süddeutsche Zeitung, 11.11.2005)

Ebenfalls positiv urteilt Tilo Wesche in der Frankfurter Allgemeinen von 19.10.2005. Für ihn beinhalten diese Journale vor allem eine Klärung von Kierkegaards Verhältnis zu
Hegel. Kierkegaard habe hier versucht, Hegels Dialektik mit einer eigenen Grundintuition in Einklang zu bringen, die später zum Theorem der ‚subjektiven Wahrheit’ ausgearbeitet wird: die individuelle Selbstbezüglichkeit des Denkens. Ein besonderer Reiz komme den Journalen als Bücher der Selbsterkundung zu: „Dabei zeichnet sich bereits hier die Eigentümlichkeit des Vorgehens Kierkegaards ab, Erfahrungsbeschreibung und wissenschaftliche Reflexionen miteinander zu verschränken. Zeitdiagnose wie Existenzbeschreibung werden von Kierkegaard verknüpft mit jenen begrifflichen Klärungen, die den Journalen ihren Wissenschaftscharakter geben.“


ARISTOTELES

Politik Buch VII und VIII


Im Rahmen der im Akademie-Verlag herausgegebenen Ausgabe „Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung“ ist Band 9, Politik, Teil IV: Buch VII und VIII (685 Seiten, Ln., € 79.80, 2005, Akademie-Verlag, Berlin) erschienen.
Diese deutsche Ausgabe des Akademie-Verlages ist durch einen Forschungsteil mit Einleitung und Anmerkungen charakterisiert, der den eigentlichen Text um das Mehrfache überschreitet (allerdings fehlt der griechische Originaltext).
Die Politik, die mit Teil IV nun vollständig vorliegt und den besten Staat zum Thema hat, ist eine von Eckart Schütrumpf neu erarbeitete Übersetzung. Aristoteles entwirft hier eine politische und soziale Ordnung, unter der es jedem am besten gehen soll und er am ehesten im Glück leben kann.
In seinem Kommentar stellt Schütrumpf die Bücher VII und VIII erst in Zusammenhang mit der ganzen Politik, dann mit der ganzen Philosophie des Aristoteles. In den Anmerkungen, die annähernd 500 Seiten umfassen, geht Schütrumpf auf praktisch jedes Detail hinsichtlich griechischer Sprache, attischer Gesellschaft der damaligen Zeit oder der Argumentationsweise ein, stellt Bezüge zu anderen Aristoteles-Texten her und bespricht die entsprechende Forschungsliteratur.


MOSES MENDELSSOHN

Jerusalem oder über die religiöse Macht der Juden

1781 erschien ein Buch, das sich auf bahnbrechende Art und Weise für die Emanzipation der Juden einsetzte: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, verfasst von Christian Wilhelm Dohm. Entstanden war es unter tatkräftiger Beteiligung Mendelssohns. Dohm argumentierte staatsrechtlich und machte pragmatische Vorschläge für die Gesetzgebung. Mendelssohn beschloss, die durch Dohm angeregte Debatte weiter im Gespräch zu halten, die Kritiker des Buches zu entkräften und Dohms Argumente zu ergänzen. Zu diesem Zweck bat er Marcus Herz, Manasse ben Israels Vindiciaue Judaeorum aus dem Jahr 1656 in Englische zu übersetzen. Mendelssohn versah die unter dem Titel Die Rettung der Juden übersetzte und 1782 erschienene Schrift mit einer flammenden Vorrede Als ein Anhang zu des Hrn. Kriegsraths Dohm Abhandlung: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Mendelssohn setzte sich darin nicht nur für die Juden ein, sondern forderte Toleranz und Menschenrechte für alle Menschen.

Noch im selben Jahr erschien in Berlin anonym ein kleines Büchlein Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Herrn Moses Mendelssohn. Darin behauptet der Autor, Mendelssohn habe sich innerlich vom Judentum entfernt und sei reif für den Übertritt zum Christentum. Als Verfasser entpuppte sich später der satirische Schriftsteller August Friedrich Crantz.
Mendelssohn entschloss sich zu einer Antwort, die jetzt zusammen mit der genannten Vorrede neu erschienen ist:

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Herausgegeben mit Einleitung, Anmerkungen und Register von Michael Albrecht. 181 S., Ln, € 32.—, kt., € 15.50, 2005, Philosophische Bibliothek 565, Meiner, Hamburg.

Wie Albrecht in seiner Einleitung berichtet, sollte Jerusalem ursprünglich aus drei Teilen bestehen, die insgesamt die Thesen der Manasse-Vorrede vertiefen sollten: 1.) „Wahre Grenze“ zwischen „Kirche u. Staat“. Nur er hat das „Zwangsrecht“. 2.) Freiheit der Meinungen, weil sie nicht dem Zwangsrecht unterworfen sind, 3.) Abwehr der Aufforderung, die christliche Religion der Freiheit anzunehmen oder sie zu widerlegen. In diesem letzten Teil sollte das Christentum als „ein Joch in Geist u. Wahrheit“ entlarvt werden.
Der dritte Teil wurde aber nicht ausgeführt, so dass eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Christentum unterblieb.

Der Titel des 1783 erschienen Buches Jerusalem erinnert an die heilige Stadt des zerstörten Tempels, dessen Erneuerung die Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels symbolisierte. Das Buch ist auf deutsch verfasst und wendet sich vorwiegend an ein deutsches Publikum (viele jüdische Gebildete konnten damals nur die hebräische Schrift lesen).

Der erste Abschnitt beginnt mit „Staat und Religion“, wobei es zugleich um das Verhältnis zwischen Staat und Kirche geht, weil sich Mendelssohn die Aufgabe stellt, „den Begriff der Kirche restlos aus dem der Religion zu verstehen“. Er stellt sich die Aufgabe, der Freiheit des Gewissens gegenüber diesen beiden gesellschaftlichen Mächten zu ihrem Recht zu verhelfen. Mendelssohn empfiehlt einen Erziehungsstaat, der gemeinnütze Handlungen seiner Bürger am besten dadurch bewirkt, dass deren „Gesinnung“ von sich aus zu solchen Handlungen führt. Der Staat soll dies durch Erkenntnis, Vernunftgründe und Überzeugung erreichen, wobei er von der Kirche wirksam unterstützt werden kann. Worauf gründet sich dieses Recht des Staates? Diese Frage wird mit der Begründung der „Verträge unter den Menschen“ verbunden, und hierfür liefert – wie seit Hobbes verbreitet – die Vertragstheorie das Modell.

Im zweiten Abschnitt stellt Mendelssohn dar, dass die Vernunftwahrheiten einen „wesentlichen Punkt der jüdischen Religion“ darstellen, die sich dadurch zu ihrem Vorteil vom Christentum unterscheidet, das ja eine geoffenbarte Religion ist bzw. zu sein behauptet. Derlei Mysterien kennt das Judentum nicht, es beruht nicht auf „Religionsoffenbarung“, sondern auf göttlicher „Gesetzgebung“: Gott offenbart die Vernunftwahrheiten allen Menschen „durch Natur und Sache“, nicht „durch Wort und Schriftzeichen“. Folglich kann die Offenbarung nicht irgendwelche Heilswahrheiten treffen, und dementsprechend hat Gott (durch Moses auf dem Sinai) den Juden keine derartigen Wahrheiten, sondern „Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen“, offenbart.

Für Mendelssohn besteht das Judentum aus drei Teilen: 1) den Religionslehren… oder ewigen Wahrheiten. Sie werden nicht offenbart, d.h. nicht durch Wort und Schrift zu einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit bekannt gemacht. 2.) Geschichtswahrheiten, die geglaubt werden sollen, weil sie sich auf Autorität (auch auf Wunder) stützen, 3.) Gesetze, die durch „Wort und Schrift“ offenbart wurden. Sie dienen dem Glück der jüdischen Nation wie auch dem persönlichen Glück des einzelnen Juden.

Mendelssohn begründet diese Thesen mit der auf Leibniz zurückgehenden Unterscheidung zwischen verschiedenen Wahrheitsarten. Neben den ewigen Wahrheiten (die wiederum in notwendige und in zufällige ewige Wahrheiten zerfallen), gibt es „Zeitliche, Geschichtswahrheiten), die geglaubt werden, und zwar dann, wenn sie sich auf genügend Autorität stützen können. Die Offenbarung auf dem Sinai setzte historisch und sachlich die Kenntnis der Vernunftwahrheiten voraus. Die Gesetze sind keine conditio sine qua non der Vernunfterkenntnis; sie ebnen dieser aber den Weg, der ja immer durch menschliche Schwächen verstellt zu werden droht. Die Gesetze (bzw. die Handlungen, mit denen sie ausgeführt werden), stellen eine Alternative zu den gefährlichen Zeichen (auch denen des Alphabets) dar.

Von seiten der Orthodoxie wurde das Buch als Wegbereiter der Assimilation verurteilt. Umgekehrt hat Mendelssohn innerhalb des Judentums eine rationalistische Strömung begründet, die über die auf Mendelssohn folgenden jüdischen Philosophen bis hin zu Hermann Cohen im 20. Jahrhundert führt.
In der Forschung wurde insbesondere von Alexander Altmann, dem Doyen der Mendelssohn-Forschung, eine Spannung zwischen dem Philosophen und dem Juden Mendelssohn gesehen, die auch die von ihm gewünschte Harmonie nicht aufheben könne. Mendelssohn sehe das eigentliche Judentum als Praxis der Gesetzeserfüllung und trenne damit das Denken von der eigentlichen Religion. Bei seinem Versuch, beides zusammenbringen zu wollen, zeige sich ein innerer Riss. Ähnlich äußerten sich Hans Joachim Schoeps und Julius Guttmann: Die universale Vernunftreligion und das jüdische Religionsgesetz seien zwei verschiedene Welten. Den umgekehrten Weg hat David Sorkin eingeschlagen. Er sieht Mendelssohn in der andalusischen Tradition des jüdischen Denkens und das bedeute: Philosophie ja – aber als Werkzeug im Dienst des Glaubens.

Rudolf Goclenius: Isagoge

Über den Marburger Philosophen Rudolf Goclenius (1547-1628), den wichtigsten Vertreter der protestantischen Scholastik in Deutschland, gibt es weder eine eigene Monografie noch einen Aufsatz aus jüngerer Zeit. Dabei galt Goclenius (eigentlich: Rudolf Göckel) seinerzeit als hochangesehener Lehrer, als „Marburger Plato“. Der als Aristoteles-Übersetzer bekannte Hans Günter Zekl hat nun dessen Metaphysik in einer deutschen Übersetzung herausgebracht:

Rudolf Goclenius: Isagoge. Einführung in die Metaphysik. 1598. Übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und einem Verzeichnis von Autoren und Werken versehen von Hans Günter Zekl. 204 S., kt., € 29.80, 2005, Königshausen und Neumann, Würzburg.

Das Buch selber hat, wie Zekl ausführt, Kompilat-Charakter: der Autor hat aus verschiedenen Quellen herangezogen, was ihm zum Thema wichtig war. Die Isagoge beansprucht aber auch nicht, mehr als eine Zusammenstellung von Exzerpten und Extrakten zu sein. Goclenius gibt die Autoren an, denen er das meiste verdankt: Aristoteles, Scaliger, Zabarella und Schegk. Auch ist keine systematisch reflektierte Anordnung erkennbar. Vielmehr verfährt der Autor nach der Maxime: Wer vieles bringt, bringt jedem etwas. Was aber hat Zekl zur Übersetzung dieses vom Inhalt her eher unbedeutenden Buches bewogen? Die Isagoge bildet den Auftakt zu einer mannigfaltigen Produktion von Metaphysik-Büchern im protestantischen Sprachraum, die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts einsetzte, die dazu führte, dass man das 17. Jahrhundert in Deutschland das „Jahrhundert der Metaphysik“ genannt hat und die mit Kant abrupt endete. Damit kommt der Isagoge in der Bewegung, die zur Entstehung der protestantischen Schulmetaphysik geführt hat, eine besondere Bedeutung zu. Ein Kennzeichen dieser neuen Metaphysik ist es, dass die aristotelische Anordnung der Stoffe nicht mehr das Gerüst abgibt, sondern in der Gruppierung der Themata radikal von ihr abgewichen wird. Neben Aristoteles nimmt Scaliger als Quelle den ersten Rang ein. Scaliger hatte die Exercitationes veröffentlicht, die von „Subtilität“ handelten. Ausgehend von Demokrit, der zwischen einer feinen und einer groben Erkenntnisart unterschieden hatte, war subtilitas zu einem zentralen erkenntnistheoretischen Begriff geworden.

Das Buch hat aus zwei Teilen: Der erste besteht aus siebzehn Kapiteln und behandelt u. a. „Eigenschaften von Sein“, „Eins und Vieles“, „wahr und falsch“, „Gut“, „Aktuales und potentielles Sein“, „vom einfachen und zusammengesetzten Sein“, „notwendig und kontingent“, „unendlich und endlich“, „vollständig und nicht vollständig Sein“, „Substanz“ sowie „Akzidens“. Auffallend ist, dass die einzelnen Kapitel zunehmend kürzer werden. Der zweite, kürzere Teil enthält fünfzehn Disputationen, also Verteidigungen bestimmter Thesen, von unterschiedlichster Qualität und die für die Lehrpraxis bestimmt sind.


Felix Hausdorff: Philosophisches Werk

Felix Hausdorf (1868-1942), der Schöpfer der mathematischen Grundlagen von Mengenlehre und Topologie, ist durch seine mathematischen Arbeiten weltweit berühmt geworden. Daneben hat er aber auch zwei philosophische Bücher geschrieben, Sant’Ilaro. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras und Das Chaos in kosmischer Auslese. Ein erkenntniskritischer Versuch. Sie erschienen nacheinander unter dem Pseudonym Paul Mongré im Verlag C.G. Naumann, demselben Verlag, der auch Nietzsches Werke herausgab und in derselben Aufmachung wie Nietzsches Werke. Hausdorff ließ diesen beiden Büchern über ein Jahrzehnt lang eine Reihe von Aufsätzen zur Philosophie Nietzsches und anderen Themen in angesehenen intellektuellen Zeitschriften folgen.

Im Rahmen der Ausgabe „Felix Hausdorff. Gesammelte Werke“ sind alle diese Texte in einem Band neu erschienen:

Hausdorff, F.: Gesammelte Werke.
Band VII: Philosophisches Werk. Herausgegeben von Werner Stegmaier. 920 S., Ln. € 99.95, 2005, Springer, Berlin/Heidelberg.

Wie Werner Stegmaier in seiner Einführung darlegt, eröffneten Kant und Nietzsche dem Mathematiker Hausdorff neue Spielräume des Denkens. Erst war es Nietzsche, der ihn faszinierte, dann ein durch Nietzsche radikalisierter Kant, der sich seinerseits wiederum methodisch und schließlich mathematisch buchstabieren ließ. Über Kant kehrte Hausdorff von Nietzsche zur Mathematik zurück.
Hausdorff hatte klar begriffen, welche Freiheit die Art des Denkens, die Nietzsche eröffnet hatte, bedeutete, und er setzte sich ihr entschlossen aus, in der Philosophie und in der Mathematik. Er machte diese Spannung für beide, die Philosophie und die Mathematik fruchtbar: für die Philosophie, indem er die Kritik der Metaphysik mit Mathematik betrieb, für die Mathematik, indem er ein Denken des Raumes entwickelte, durch das er, philosophiehistorisch gesehen, Kant mit Nietzsche überschritt.

Als Form seiner eigenen Philosophie findet Hausdorff den Aphorismus. In ihm ist auf alles Schematische, Systematische und Gelehrte verzichtet. Er lebt ganz von der Prägnanz. Ihm geht es um die „feinen Schiebungen und Gleitungen“ im Leben, Denken und Schreiben der Menschen. „Menschen sind keine Principien und der verrechnet sich, der sie zu berechnen unternimmt. Für Einen, der mit der Natur und ihrem Gesetzmäßigen zu thun hat, ist der Umgang mit Menschen eine Erhohlung, ein Sprung in’s Gegensätzliche“, heißt es in einem solchen Aphorismus. Hauptthema seiner Bücher ist das Ich im delikaten Verhältnis zu anderen und im noch delikateren Verhältnis zu sich selbst. In ständig wechselnden Perspektiven geht er der Kunst des „feinen und langsamen Einander-Errathens und Sicheinander-Anpassens… der zierlichen Aufrechterhaltung schwebender und leicht zerstörbarer Gleichgewichtslagen“ nach.


Josef König: Nachlassausgabe

Der Göttinger Ordinarius Josef König (1893-1974) hat außer den für eine akademische Karriere notwendigen Schriften wenig veröffentlicht und ist deshalb nach seinem Tod schnell in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, sagen die Janich-Schüler Mathias Gutmann und Michael Weingarten: Gerade im Zuge der Renaissance von Plessner sei auch König (beide gehören der Misch-Schule an, die sich von Dilthey löst) von Interesse und der „der systematische Gehalt der königschen rechtfertigt jederzeit ihre Publikation“. Der Transcript-Verlag hat sich das zu Herzen genommen und will die sich im Nachlass befindenden Texte Königs veröffentlichen.

Von dessen 1935 abgeschlossenen und 1969 in zweiter Auflage erschienenen Habilitationsschrift Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie existieren drei Fassungen oder Stufen. Zunächst eine umfangreiche maschinenschriftliche Fassung, die dann von König gänzlich verworfen wurde. Diese Fassung soll nun im Rahmen der Nachlass-Edition herausgegeben. Sie zeigt, wie sich König aus rein ontologischen Problemstellungen zu seiner logisch-ontologischen Sprachphilosophie hinarbeitete.

Von der eingereichten Habilitationsschrift existiert weiter ein zweiter Teil mit dem Titel „Denken und Handeln“, der auch nie veröffentlicht wurde und der nun als erster Band der Nachlassausgabe erschienen ist:

König, Josef: Denken und Handeln. Aristoteles-Studien zur Logik und Ontologie des Verstehens. Herausgegeben von Mathias Gutmann und Michael Weingarten. 190 S., kt., 2005, € 24.80, transcript, Bielefeld.

Ergänzt wird der Text durch eine Überleitung vom ersten Teil, „Sein und Denken“ hin zu der Fragestellung des zweiten Teils. Im ersten, hier nicht veröffentlichten Teil, ging es darum, den Gedanken auszusprechen und durchzuführen, dass das Sein in einem gewissen Denken, dem „Sein“-Denken, selbst enthalten ist. Der zweite Teil enthält eine Logik der Auffassung des Denkens als einer Tätigkeit. König legt darin das kopulative Sein als ein Wirken aus. Dabei geht es ihm um die Frage: Wie verschieden sind einerseits so-Sein und so-Wirken und andererseits Tun, Tätigsein und Wirken? Ein wichtiger Gesprächspartner ist ihm (neben H. Driesch) Aristoteles, der das Leben als eine Art Tätigkeit sieht und zwar als die eigentümliche Tätigkeit des Beseelten und der zwischen endlichen und unendlichen Tätigkeiten unterscheidet. Ein Nachwort der beiden Herausgeber führt systematisch in das Thema ein.


Feuerbach-Ausgabe gerettet

Dank einer Spende aus dem Nachlass einer vor kurzem in der Schweiz verstorbenen Chemnitzerin, Marlene Angelica Zahn, Tochter des Schauspielers Arthur Paul Felix Zahn, ist die vollständige Herausgabe des Werkes von Feuerbach nunmehr gesichert. Die Ausgabe war gefährdet, weil die Organisationen, die sie bislang finanziert hatten, nicht mehr bereit waren, dies weiterhin zu tun. Dadurch war das Erscheinen der letzten drei von insgesamt 22 Bänden in Frage gestellt. Frau Zahn, die an einer schwer belastenden Krankheit litt, machte ihrem Leben in Zürich mithilfe von „Dignitas“ selbst ein Ende und spendete das Geld zugunsten der Feuerbach-Ausgabe angesichts der Verdienste Feuerbachs um einen vernunftmäßigen Umgang mit dem Recht auf Beendigung des eigenen Lebens und der Zurückweisung des Anspruchs der Religion, in diesem Bereich allein bestimmen zu wollen.