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POSITIONEN

Veronique Zanetti:
Dworkin, Ronald

Véronique Zanetti
Ronald Dworkin


Den Vorwurf, sich mit Äußerungen zu aktuellen sozialen Fragen zurück zu halten, kann man dem amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin nicht machen. Wie kaum ein anderer ergreift er die Feder, um sich zu den großen politischen und sozialen Herausforderungen der Gegenwart zu äußern. In der Zeit des Vietnam-Krieges ist er unter den ersten, die die Politik der Diskriminierung des zivilen Ungehorsams juristisch-philosophisch untersucht haben. Neben mehreren Monographien zu Themen der Rechtsphilosophie, der Gerechtigkeit und der Abtreibung, die zum Teil in verschiedene europäische Sprachen sowie ins Japanische und Chinesische übersetzt sind, umfasst sein Werk eine reiche Zahl von wissenschaftlichen Aufsätzen und von Zeitungsartikeln zu aktuellen Gegenständen der Politik, Philosophie und des Rechts, deren meiste in The New York Review of Books erschienen sind.

In Worcester, Mass. 1931 geboren, erwarb Dworkin 1953 in Harvard den Grad eines Bachelor of Arts und 1957 den eines Bachelor of Law. 1962 wurde er außerordentlicher Professor an der Yale Law School, bis er 1969 H. L. A. Harts Lehrstuhl für Jurisprudenz in Oxford übernahm. Seit 1975 lehrt er an der New York University gleichzeitig Rechtswissenschaft und Philosophie.

Theorie des Rechts

Um die 50er Jahre steht die angelsächsische Rechtsphilosophie im Zeichen von Wittgensteins Sprachphilosophie, auch unter dem Einfluss des Rechtspositivismus von Jeremy Bentham, John Austin und vor allem von Herbert L. A. Hart. In den Vereinigten Staaten interessieren sich die Rechtsschulen dagegen mehr für die Mechanismen der Rechtsargumentation, wie sie vor Gericht üblich sind, als für die „formalen“ Aspekte des Rechtsgedankens. Dworkins Werk ist diesen beiden Einflüssen verpflichtet, zu denen in der Folge derjenige von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971) hinzu tritt. Gegen die positivistische Fassung des Rechtsbegriffs, vor allem in seiner von Hart vertretenen Form, sowie gegen die sprachanalytische Überzeugung, mit einer semantischen Analyse auskommen zu können, entwirft Dworkin eine liberale Theorie des Rechts, die moralische Urteile in den Rechtsbegriff aufnimmt.

In seinem 1961 erschienenen Buch The Concept of Law übernimmt Hart die auf Austin und Bentham zurückgehende These der Trennung zwischen Recht und Moral. Er geht davon aus, dass der Rechtsbegriff rein deskriptiv, ohne normative Begriffe erläutert werden kann. 1977 sind die ersten Kapitel von Taking Rights Seriously dem gegenüber damit beschäftigt, den illusorischen Charakter dieses Unterfangens aufzudecken. Dworkin argumentiert nun, eine allgemeine Theorie über die Identifizierbarkeit gültiger Gesetze gebe keine neutrale Beschreibung der rechtlichen Praxis. Vielmehr interpretiere sie dieselben mit der Absicht, sie nicht zu beschreiben, sondern zu rechtfertigen. Die Rechtstheorie beruhe deshalb auf moralisch-ethischen Urteilen und Überzeugungen. Das gelte auch für Rechtsargumente, wie sie von Richtern vorgebracht werden. Richter müssen in der Vergangenheit erlassene Gesetze deuten, um zu sehen, welche Grundsätze diese am besten rechtfertigen, um dann zu entscheiden, was aus diesen Grundsätzen im Blick auf den neuen Casus folgt. So ist die Rechtstheorie eines Rechtsphilosophen letztlich nicht verschieden von den gewöhnlichen Rechtsansprüchen, die Juristen von Fall zu Fall erheben.

Trotz seines Rückgriffs auf moralische Grundsätze zur Auslegung und Rechtfertigung von Rechtsprinzipien vertritt Dworkin keine Naturrechtsposition, die Entscheidungsmaßstäbe einer utopischen platonischen Welt der Werte als überpositiven Korpus von Recht voraussetzt. In Anlehnung an Rawls’ Methode des reflective equilibrium vertritt Dworkin eine „konstruktive“ Auffassung der Moral. Diese beruht, im Gegensatz zu einem „natürlichen“ Modell (oder Modell einer objektiven Moral), auf gemeinschaftlichen Intuitionen, die in einem kohärenten Überzeugungszusammenhang zu rechtfertigen sind. Moralische Überzeugungen stützen sich auf Prinzipien, welche innerhalb einer Theorie auf ihre Konsistenz und Kohärenz überprüft werden müssen. Dieses Modell ist dem Modell der richterlichen Entscheidung im Gewohnheitsrecht analog: Es ist eine hermeneutische Aufgabe, die Präzedenzentscheidungen untersucht, um zu prüfen, ob neue Prinzipien mit ihnen in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden können oder nicht.

Bei der Interpretation bestehender Rechtsregeln, und vor allem in schwierigen Fällen, greift der Richter auf Prinzipien zurück, die Maßstäbe aufstellen, deren Befolgung ein Gebot der Gerechtigkeit oder Fairness oder einer anderen moralischen Dimension ist. Diese in einer Rechtsgemeinschaft geltenden Prinzipien bilden bei Dworkin – wie auch in Anschluss an ihn bei Habermas – den Rahmen moralischer Grundüberzeugungen, an der die Rechtsprechung sich orientieren soll. Die „stimmigste Rechtstheorie“, sagt Dworkin, identifiziert eine bestimmte Konzeption der Gemeinschaftsmoral, welche von den Gesetzen und Institutionen vorausgesetzt und für rechtliche Fragen als ausschlaggebend angesehen wird (Bürgerrechte ernstgenommen, 215). In seiner hermeneutischen Aufgabe steht der Richter in ständiger Spannung zwischen Interpretation und Konstruktion, zwischen Treue gegenüber den Absichten der Gesetzgeber und Originalität bei der Suche nach besten Lösungen.

Der Unterschied zwischen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien ist ein logischer Unterschied: Regeln sind in der Weise des Alles-oder-Nichts anwendbar. Prinzipien dagegen legen keine rechtlichen Konsequenzen fest, die automatisch eintreten, wenn die festgesetzten Bedingungen erfüllt sind. Regeln mögen eine mehr oder weniger wichtige Funktion haben; doch wenn zwei Regeln in Konflikt treten, ist eine von ihnen ungültig. Ein Prinzip dagegen ist eine Zielrichtung, die auch dann noch gilt, wenn in einer bestimmten Situation eine andere Zielrichtung vorzuziehen ist.

Lässt sich die Moral vom Recht nicht trennen (Rechtsprinzipien sind Prinzipien politischer Moral, die in einer rechtfertigenden Theorie Rechte und Pflichten legitimieren), und stützt sich der Richter in seinen Entscheidungen oft auf Prinzipien, die positivrechtlich nicht gesetzt sind, so fragt sich, inwiefern der Richter, in schwierigen Fällen, an geltende Rechtsregeln gebunden ist. Entweder sind die Prinzipien rechtlich bindend; dann lässt – der positivistischen Ansicht zufolge – ihre rechtliche Legitimität durch eine Metaregel (Hart nennt sie die „rule of recognition“) festlegen, die ihr ihre rechtlichen Autorität verleiht. In diesem Fall sind aber die Prinzipien nicht fundamental von Regeln verschieden, und die Unterscheidung bricht zusammen. Oder sie sind nicht bindend, und der Richter macht von ihrem Ermessen freien Gebrauch, wenn sich keine bestehende Regel finden lässt. Dworkin lehnt diese Alternative ab. Es gibt rechtliche Verpflichtung auch außerhalb des geltenden Regelkanons. Würde die bindende Autorität zumindest einiger Prinzipien für den Richter aberkannt, könnte man nur von sehr wenigen Regeln sagen, dass sie selber bindend sind. Sind die Prinzipien als Bestandteile des Rechts bindend, muss ein zweiter Grundsatz des Positivismus aufgegeben werden, nach dem in schwierigen Fällen der Richter von seinem Ermessen, rechtlich unverbindlich, Gebrauch machen muss. Es trifft nicht zu, dass der Richter bei den Leerstellen, die von der offenen Struktur der Regeln frei gehalten werden, nach eigenen politischen Überzeugungen entscheidet. In jeden Zweifelsfall muss er einen konsistenten und kohärenten Begriffsrahmen erstellen, der über die Integration fraglicher Regeln und Prinzipien entscheidet.

Interpretation und Integritätsprinzip

Dworkin vertritt eine dynamische Auffassung vom Prozess der richterlichen Urteilsbildung. Diese steht im Schnittpunkt zwischen Geschichte – Analyse der rechtlichen Präzedenzfälle – und Zukunft. Richter sind sowohl Autoren als auch Kritiker (A Matter of Principle; Law’s Empire). Dworkin geht so weit, die hermeneutische Arbeit des Richters mit der Arbeit an einem gemeinschaftlich verfassten Roman zu vergleichen: So wie der Schriftsteller bei der Niederschrift seines Werks auf die Textgattung und den Zusammenhang seiner Einfälle mit dem Vorhergegangenen Acht haben muss, so ist der Richter an die rechtlichen Präzedenzfälle und an den Gesetzeskodex gebunden. In beiden Fällen verlangt das Vorgegebene eine Interpretation, die entscheidet, welche unter den möglichen Auslegungen die beste ist.

Der Nachdruck, mit dem Dworkin auf der hermeneutischen Dimension des Rechts und auf dem regulativen Charakter der Grundsätze besteht, könnte zu der Ansicht verführen, eine gewisse Willkür, ja sogar ein gewisser Relativismus schleiche sich unvermeidlich in die richterlichen Entscheidungen ein; spiegeln doch die Grundsätze moralische Standards wieder, die einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt verbindlich scheinen. Dworkin behauptet aber, eine realistische Rechtsposition zu vertreten (Freedom’s Law, 127-8). „Recht“ setzt ihm zufolge die Existenz „richtiger“ Antworten voraus, die von Herkules herrühren, einem fiktiven idealen Juristen „mit übermenschlicher Fertigkeit, Ausbildung, Geduld und Scharfsinn“ (Bürgerrechte ernstgenommen, 105). Herkules ist hypothetisch in der Lage, bei jeder konkreten Rechtsfrage eine kohärente Rechtfertigung für alle Präzedenzfälle des Gewohnheitsrechts sowie für Verfassungsbestimmungen und solche des geschriebenen Rechts zu liefern. Darin besteht das Ideal einer unterstellten „Rechts-Integrität“. Die Rechts-Integrität verlangt vom Repräsentanten der Gerechtigkeit, dass er Rechte und Pflichten im Lichte einer kohärenten Konzeption von Gerechtigkeit und Billigkeit interpretiert, im Licht von moralischen Grundsätzen also, die als Leitideen dienen.

Diese Interpretation wird zuweilen vom rigiden Standard früherer Entscheidungen abweichen, strebt sie doch nach Treue zu Prinzipien, die als grundlegender für den Urteilsspruch angesehen werden. So würde, um ein Beispiel aufzugreifen, das Dworkin am Herzen liegt, der perfekte Richter Herkules gegen ein Gesetz entscheiden, das die Rassentrennung ermutigt, selbst wenn sich dasselbe auf Präzedenzfälle berufen kann, die die Zustimmung des obersten Gerichtshofs erfahren haben. Herkules’ Entscheidung würde a) die allgemeine Struktur der Verfassung berücksichtigen, b) vergangene Entscheidungen des obersten Gerichtshofs, und c) das herrschende politische Billigkeits-Ideal der Gesellschaft. Auf einer ersten Ebene muss sich der Richter also auf die Geschichte der Rechtspraxis einer Gesellschaft beziehen und seine anstehende Entscheidung mit dem Gesamt der im besten Lichte interpretierten Vorgänger-Entscheidungen abstimmen. Bleibt eine Unsicherheit oder verstößt die Rechtspraxis einer dominant gewordenen moralischen Sensibilität, muss der Richter auf eine zweite Ebene wechseln: Er muss nicht mehr allein einen Kohärenz-Test anstellen, sondern eine substantielle Bewertung geben. Er muss also eine Wahl treffen unter den ernst zu nehmenden Interpretationen, indem er sich fragt, welche von ihnen vom Standpunkt der politischen Moral die Entscheidungen der Gemeinschaft am vorteilhaftesten darstellt (Law’s Empire, 256; 279).

Zu Recht hat Habermas in Faktizität und Geltung (V) die monologische Dimension des Richters kritisiert, der letztlich allein befugt ist, über die Integrität des Urteils zu befinden. Selbst Herkules’ Entscheidungen müssen prinzipiell der permanenten Kritik der Argumentionsgemeinschaft ausgesetzt sein.

Ressourcengleichheit

Das Gleichheits-Ideal ist ein Eckstein von Dworkins Denken. In seiner kantischen Fassung – jeder soll mit gleicher Rücksicht und gleichem Respekt („equal concern and respect“) behandelt werden – funktioniert es als Maßstab für Rechts- und politische Beschlüsse. Der formale Schutz vor politischen Mehrheitsentscheidungen oder vor Diskriminierungen nach moralisch arbiträren Kriterien ist jedoch nötigenfalls kein hinreichendes Kriterium einer Gleichbehandlung. Die Legitimität einer Regierung wird an der legalen Ordnung gemessen, die für die Verteilung der gesellschaftlich produzierten Güter verantwortlich ist. Dworkins Egalitarismus ruht auf zwei Pfeilern, die – anders als die gemäß Rawls’ institutionalistischem Ansatz universell gewählten sozialen Grundgüter – in individuellen Präferenzen verankert sind. Der erste Grundsatz liefert den Sockel eines deontischen Egalitarismus, der auf dem gleichen Wert menschlichen Lebens und, folglich, auf dem gleichen Recht eines jeden fußt, ein erfolgreiches Leben zu führen. Der zweite, der aus dem ersten folgt, sucht das Gleichheitsgebot mit dem der individuellen Freiheit zu versöhnen. Dabei liegt der Akzent auf der Autonomie der Individuen und der Verantwortung, die sie eingehen angesichts einer Lebensführung, zu der sie sich entschieden haben unter nicht von ihnen gewählten, sondern oktroyierten Bedingungen: Obwohl wir alle die gleiche objektive Bedeutung des Erfolgs eines Menschenlebens anerkennen müssen, hat eine Person eine besondere und definitive Verantwortung für diesen Erfolg: die Person, um deren Leben es geht (Sovereign Virtue, 5).

Sovereign Virtue ist die Ausarbeitung mehrerer Aufsätze, die sich – in der Auseinandersetzung mit dem Rawlsschen Differenzprinzip und der utilitaristischen Version einer Wohlfahrtsgleichheit – um eine genauere Vermessung der Ressourcengleichheit bemühen. Gegen das Ideal der Wohlfahrtsgleichheit macht Dworkin geltend, die Annahme sei unplausibel, Gerechtigkeit habe irgendetwas mit der Ausbuchstabierung eines bestimmten Ideals von Wohlfahrtsgleichheit zu tun. Teurer Geschmack z. B. soll keinen Anspruch auf höhere Ressourcen begründen.

Dworkins Position will zwar gegenüber dem Inhalt individueller Lebensvorstellungen neutral sein. Sie unterscheidet jedoch moralisch zulässige von moralischen unzulässigen Ungleichheitsauswirkungen so, dass nur unverschuldete, natürliche, Ungleichheitswirkungen einen Anspruch auf egalisierende Ressourcenverteilung begründen. Ungleichheiten, die aus freien Lebensentscheidungen der Individuen resultieren, müssen hingegen von diesen verantwortet werden. Unfaire Unterschiede sind solche, die auf genetisches Besser-Abschneiden zurückzuführen sind, auf Begabungen, die manche Menschen zu Wohlstand und Ansehen bringen und anderen, die sich ihrer gerne bedienen würden, verweigert sind. In anderen Worten, die Theorie will „ambition-sensitive“ and „endowment-insensitive“ sein. Nach dieser Auffassung soll die Gesellschaft dafür sorgen, dass die Lebenschancen jedes Individuums mit einer gleich wertvollen Ressourcenausstattung beginnen. Aber wie Individuen sich zu handeln entscheiden und welche Ziele sie in Auseinandersetzung mit ihren Lebensumständen wählen, das liegt in ihrer eigenen Verantwortung.

Dworkins Theorie ist, wie die Rawlssche, über einem Gedankenexperiment errichtet. Doch betreibt das Dworkinsche einen ungleich größeren Aufwand, indem es eine anfängliche Besitzgleichheit aller Individuen annimmt. Sein Beispiel ist das von Schiffbrüchigen, die ein gleiches Startkapital besitzen. Sie versteigern ihre Ressourcen und geraten dann in die Mühlen von Versicherungs- und Besteuerungssystemen. Dworkins Grundgedanke ist, dass der Wert eines Ressourcenbündels der Wert ist, den die anderen bereit wären, dafür auszugeben. Um diesen Wert zu messen, bedient sich Dworkin der Hypothese einer ursprünglichen Versteigerung, in der ein jeder Ressourcenbündel mittels gleicher Zahlungsmittel akkumulieren kann, so dass am Schluss der Versteigerung keiner das Ressourcenbündel des anderen beneidet oder, anders formuliert, keiner glaubt, dass sein Ressourcenbündel zur Realisierung seines Lebensprojekts abträglicher ist als das eines beliebigen anderen (der „Neid-Test“). Wenn niemand das Ressourcenbündel eines anderen dem seinigen vorzieht, ist der Gleichheitstest bestanden, der dafür sorgt, dass jeder in Bezug auf seine Lebensprojekte mit gleichen Ressourcen ausgestattet ist. So gesehen, liefern kompetitive Marktpreise ein angemessenes Maß der Ressourcen, die man besitzt.

Die Ressourcengleichheit soll jedoch nicht nur die Kosten und Gewinne der individuellen Lebensentscheidungen reflektieren. Sie soll dafür sorgen, dass die Ergebnisse des ungewählten Glücks („brute Luck“) ausgeglichen werden. Die gleiche Chance zu eigenverantwortlicher Lebensführung muss durch einer Minimierung der unverantwortbaren Risiken ausgeglichen werden. Die (unter der Perspektive der gleichen Behandlung durch das Rechtssystem) abgelehnten Diskriminierungen werden im Blick auf den Imperativ der Chancengleichheit auf Führung eines geglückten Lebens moralisch gerechtfertigt, sogar geboten. Dworkins Antwort auf die Konsequenzen aus ungleicher natürlicher Ausstattung rekurriert wieder aufs Instrument eines neutralen Markssystems. Die natürlichen Nachteile (ebenso wie die Risiken der Arbeitslosigkeit) gleichen Kosten, die durch Versicherungsabschluss kompensiert werden sollten. Wie beim Rawlsschen Schleier der Unwissenheit steht hinter dieser Idee die Vorstellung, dass Menschen eine Kenntnis von den konkreten statistischen Risiken des Lebens haben. Die Versicherungsprämien, die die Schiffsbrüchigen bereit wären, für die Versicherung ihrer Karrieren gegen Schicksalsschläge und natürliche Benachteiligung zu bezahlen, werden in der realen Welt als eine Matrix für Besteuerungsraten interpretiert, deren Höhe durch die Höhe der individuellen Beitragssumme der hypothetischen Versicherung bestimmt und so auch gerechtfertigt wird. Im Gegensatz zum ökonomischen Liberalismus, der die staatlichen Eingriffe auf einem möglichst niedrigen Niveau halten will, legitimiert der Dworkinsche Egalitarismus einen stark interventionistischen Staat mit dem Modell eines progressiven Steuersystems, das auf der Idee einer hypothetischen individuellen Selbstversicherung aufruht.

Dworkins Egalitarismus ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Einige Autoren halten die Verantwortlichkeits-Kriterien für zu streng und unnachsichtig (Arneson). Die Kehrseite der Betonung der individuellen Freiheit bei Lebensentscheidungen sei, dass Individuen, die eine schlechte Wahl getroffen und sich gegen Lebensschicksalsschläge nicht versichert haben, für allein verantwortlich für ihre Misere gelten. Angesichts der gebotenen Chancengleichheit auf Versicherung haben sie keinerlei Anspruch auf Hilfe. Außerdem mag, was einer wählt, Gutes oder Schlechtes, einfach seine Primärsozialisation reflektieren, beispielsweise das nicht gewählte Glück, die Fähigkeit zu besitzen, ein guter oder schlechter Wähler zu sein. Andere Autoren beanstanden Dworkins in ihrer Sicht ungerechtfertigte oder ausnehmend radikale Ablehnung des Verdiensts. Das bedroht nicht nur das Selbstgefühl von Personen, da sie sich mit ihren Talenten und Leistungen nicht mehr identifizieren können, sondern es zwingt Hochbegabte beim finanziellen Ausgleich ihrer Naturanlage zu größeren Anstrengungen als Unbegabte. Andere Autoren werfen Dworkin einen Mangel an Takt vor, der mit der monetaristischen Kompensationsideologie verbunden ist, wie wenn körperliche und geistige Benachteilungen sich mit einer finanziellen Umverteilung ausgleichen ließen (Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar 2000, S. 200). Zudem ist fraglich, ob die Abgrenzung der Ressourcengleichheit von der Wohlfahrtsgleichheit gelingt, da unklar ist, was zur Klasse der Ressourcen gehört, für die Verantwortung zu übernehmen ist. Es ist z. B. nicht einsichtig, warum zwischen Sucht und teurem Geschmack ein redistributional signifikanter Unterschied bestehen soll; warum, in anderen Worten, Sucht als naturbedingter Nachteil mit Ausgleichsanprüchen rechnen kann, teurer Geschmack aber nicht (ibid., S. 203).

Abtreibung und Euthanasie

Der objektive Wert menschlichen Lebens, der am Ursprung des formalen und materiellen Rechts auf Gleichheit und gleiche Achtung steht, steht auch im Zentrum der Dworkinschen Ansicht über Abtreibung und Euthanasie. Die zentrale These der Grenzen des Lebens (deutsch: 1994) besagt, dass die Abtreibungskontroverse auf einer „intellektuellen Verwirrung“ beruht, die man klären kann. Solange die Kontroverse zwischen Pro- und Kontra-Abtreibung sich auf die Frage konzentriert, ab wann dem Fötus Rechte zukommen, ist kein gesellschaftlicher Konsequenz zu erwarten; denn es gibt nichts, worüber die Parteien sich einigen könnten. Die Frage ist jedoch falsch gestellt. Es geht beiden Parteien in Wahrheit nicht um ein „Recht auf Leben“ des Fötus (auch Abtreibungsgegner erlauben einen Abbruch nach einer Vergewaltigung), sondern eher um die Dimension der „Unantastbarkeit“ des Lebens, die beide Parteien bereit sind anzuerkennen. Ein Menschenleben ist nicht erst dann achtungswürdig, wenn es Rechte und Interessen hat. Das menschliche Leben besitzt einen intrinsischen Wert, der mit seinem biologischen Leben beginnt. Dennoch ist jedes Individuum verantwortlich (im Fall der Abtreibung wie im Fall der Euthanasie) für die Entscheidung, die es trifft, wenn dieser Wert mit anderen Werten konfligiert; und ein liberaler Staat darf den Wert des Lebens nicht auf Kosten der Freiheit der Bürger und Bürgerinnen schützen. In einer pluralistischen Demokratie, in der Gewissensfreiheit herrscht, ist es nicht Sache des Staates, vorzuschreiben, wie seine Bürger über ethische und geistige Werte zu denken haben.

Dworkins Position kommt das erhebliche Verdienst zu, die äußerst konfliktreiche Auseinandersetzung, die in den USA bis zu Gewalttätigkeiten eskaliert ist, durch einen Kompromissversuch entschärft zu haben. Die Triftigkeit der vorgeschlagenen Lösung lebt dennoch von der Annahme der Heiligkeit menschlichen Lebens. Es ist jedoch fraglich, ob die Gegner der Abtreibung sich mit dieser Sakralisierung des Lebens abfinden können. Vor allem aber liefert dieser Ansatz bei der zur Zeit heftigen Debatte um die ethischen Zulässigkeit der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen keine Frieden sichernde gesellschaftliche Lösung.

WICHTIGE BÜCHER VON RONALD DWORKIN

- Taking Rights Seriously. 300 p., pbk., £ 17.—, 1977, Duckworth, London. Deutsche Übersetzung von Ursula Wolf: Bürgerrechte ernstgenommen. 592 S., Ln € 40.80, kt. € 18.89, 1984, Suhrkamp, Frankfurt a. M.
- A Matter of Principle. 436 p., pbk. £ 23.—, 1985, Oxford University Press.
- Law’s Empire. 484 p., p., pbk., £ 11.—, 1986, Hart Publishing.
- Life’s Dominion: An Argument about Abortion, Euthanasia & Individual Freedom. 288 p., pbk., $ 14.—, Vintage, New York. Deutsche Übersetzung von Susanne Höbel u. a._Die Grenzen des Lebens: Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, 1994, Rowohlt (im Buchhandel vergriffen).
- Freedom’s Law: The Moral Reading of the American Constitution. Cloth £ 30.—, pbk. £ 19.—, Oxford University Press.

UNSERE AUTORIN:

Véronique Zanetti ist Professorin für Philosophie an der Universität Bielefeld.