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FORSCHUNG

Wie lässt sich das Recht auf humanitäre Intervention begründen?

 Wie lässt sich das Recht auf humanitäre Intervention begründen?
Der Ansatz von Véronique Zanetti



Die beiden Imperative des Völkerrechts

Das Völkerrecht wird von zwei Imperativen, die oft miteinander unvereinbar sind, in die Zange genommen:

- Zum einen soll es weltweit für die konkrete Umsetzung der Grundrechte der Individuen sorgen. Das Recht soll auf Seiten der Individuen gegen die Souveränität des Staates stehen, wenn dieser für sie eine Bedrohung darstellt.

- Zum anderen ist der Grundsatz der Souveränität der Nationen ein zentrales Prinzip. So lautet Ziffer 7 von § 2 der Charta der UNO: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören (...), nicht abgeleitet werden.“ Der komplexe Ausdruck „Recht auf humanitäre Interven¬tion“ veranschaulicht diese Spannung. Die Rede ist von einer Intervention in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, dessen Verhalten als sträflich angesehen wird. Damit stellt sich die Frage nach den Gründen, die die Aufhebung des Souveränitäts-Prinzips der Nationen rechtfertigen. Die Intervention wird als humanitäre bezeichnet, um deutlich zu machen, dass ihre Legitimität eng mit den Grundrechten der Personen zusammenhängt. Die Frage der Rechtfertigung verschiebt sich dann unvermeidlich vom Gebiet des Rechts zu dem der Ethik.

Haben die Staaten ein Recht zu intervenieren, oder haben die Individuen ein Recht darauf, dass man zu ihren Gunsten interveniert, wenn sie massiven Verletzungen ihrer Grundrechte von Seiten ihrer Regierung ausgesetzt sind?
Die in Bielefeld lehrende Schweizer Philosophin Véronique Zanetti ist der Frage in ihrem Beitrag

Zanetti, V.: Vom Recht auf Selbstverteidigung zum Recht auf Hilfe, in: Sandkühler, H. J.: Menschenrechte in die Zukunft denken, 2008, Nomos, Baden-Baden.

nachgegangen. Der Begriff „humanitäre Intervention“ gehört danach zur Erbmasse der Theorie des gerechten Krieges und der Vorstellung, dass die Staaten, in gewissen extremen Fällen – einseitig oder im Einverständnis mit anderen –, berechtigt sind, die Waffen gegen einen dritten Staat zu erheben, der eine Gruppe der eigenen Staatsbürger bedroht. Die Intervention wird dann meistens als Bestrafung gesehen: Weil das offizielle Verhalten einer Regierung gegenüber ihrer Bevölkerung sträflich ist und weil dieses Verhalten eine Bedrohung für den Frieden darstellt, darf das Angriffsverbot einseitig aufgehoben werden. Damit dieses Verbot aufgehoben werden darf, muss die Schuld schwerwiegend und die Bestrafung verhältnismäßig zur Schwere der Tat sein. Das Gewohnheitsrecht erkennt an, dass eine militärische Intervention dann gerechtfertigt ist, wenn es sich um massive Menschenrechtsverletzungen handelt, d. h. Massaker, Zwangsumsiedlung oder Vertreibung eines wichtigen Teils der Bevölkerung, „ethnische Säuberung“ oder Verfolgung einer Minderheit.

Unter dem Einfluss eines Individualrechts-Liberalismus besteht auf der anderen Seite eine Tendenz zu einer individualistischen Interpretation des Rechts auf humanitäre Intervention, die sich nicht leicht mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip der Doktrin des gerechten Krieges in Einklang bringen lässt. Beide Konstruktionen – die staatszentrierte wie die individualrechtliche Variante – beruhen auf zwei rechtsphilosophischen Prinzipien, die so gut wie nie hinterfragt werden: nämlich dem individuellen Recht auf Selbstverteidigung einerseits und, analog, dem staatlichen Recht auf Selbstverteidigung anderseits. Aus diesen beiden Prämissen wird das Recht auf humanitäre Intervention abgeleitet. Hätten tatsächlich weder die Indivi¬duen noch die Staaten ein Recht, sich im Falle einer existentiellen Bedrohung, auch mit Gewalt, zu verteidigen, dürften sie sich weder selbst verteidigen noch einem Dritten zur Hilfe kommen. Die Erlaubnis, jemandem zu helfen, setzt voraus, dass diese Person sich selbst auch gewaltsam verteidigen darf, dass sie es unter anderen Umständen auch tun würde, aber in dieser bestimmten Situation nicht in der Lage ist, es zu tun.
Besitzt sie jedoch dieses Recht nicht, darf auch kein anderer es in Vertretung ausüben.

Véronique Zanetti fragt nun: 1) Wie ist das individuelle Selbstverteidigungsrecht begründet? 2) Gibt es ein Recht auf Hilfelei¬stung? 3) Haben Gemeinschaften ein Recht auf Selbstverteidigung?
Interessanterweise werden diese grundlegenden Fragen in der Literatur kaum gestellt. Die meisten Autoren beziehen mit konsequentialistischen Argumenten eine pro- oder kontrainterventionistische Stellung.

Die Begründung des individuellen Rechts auf Selbstverteidigung

Das positive Recht verbietet universell, eine Person zu töten, die nicht explizit den Wunsch zu sterben geäußert hat. Wenn das Verbot zu töten aber allgemein gilt, wie ist zu erklären, dass es in bestimmten Fällen doch erlaubt ist zu töten?

Ein Individuum darf sich dann und nur dann gewaltsam verteidigen, wenn der Staat nicht imstande ist, ihm durch dazu befugte Personen zu Hilfe zu kommen und die Person mithin zum Schutz ihrer Sicherheit auf sich selbst angewiesen ist. Kann dagegen ein offiziell Befugter diese Sicherheit in zumutbarer Zeit garantieren, verliert dieselbe Person ihr Recht auf gewaltsame Selbstverteidigung. Diese Bedingung wurde von der kontraktualistischen Staatstheorie formuliert; sie bindet die Legitimität von Herrschaft daran, dass die Individuen dem Souverän ihr Naturrecht auf Verteidigung übertragen. Durch diesen Verzicht vertrauen die Individuen ihre Verteidigung dem Staat an, der damit sowohl ein Recht wie eine Verpflichtung ihnen gegenüber bekommt. Das Individualrecht auf Selbstverteidigung ist also in gewisser Weise ein Zugeständnis des Staats für den Fall, dass die Polizei nicht rasch genug einschreiten kann, und nur für die Überbrückungszeit.

Das internationale Recht übernimmt diese Restriktion. Die Charta der Vereinten Nationen anerkennt ausdrücklich ein Recht der Staaten auf Selbstverteidigung. Artikel 51 der Charta besteht aber auf dem subsidiären Charakter der Ausübung dieses Rechts: Sie ist nur zulässig „bis zu dem Zeitpunkt, da der Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Friedens und der internationalen Sicherheit getroffen hat”.

Auf die Frage nach der Begründung des Individualrechts verdienen drei Annahmen eine nähere Betrachtung:

- Das Opfer muss, wenn es angegriffen wird, eine Entscheidung fällen, die es unter anderen Umständen nicht treffen würde. Was immer es tut, ein Mensch wird sterben, und die angegriffene Person ist gezwungen, zwischen ihrem und dem Leben des Angreifers zu wählen. Selbst wenn sich in der Folge die Unschuld des Angreifers herausstellen sollte, ist die Person durch den Handlungszwang entlastet. Diese Begründung wird u. a. vertreten von David Wassermann, Philipp Montague und Cheyney Ryan.

- Der Angreifer verwirkt mit seinem mutwilligen Angriff auf das Leben einer unschuldigen Person sein eigenes Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wird etwa vertreten von Georges Fletcher, Judith Jarvis Thomson und Nicolas Tavaliogne.

- Das deutsche Recht beruht einerseits auf der impliziten Anerkennung des Individualrechts, andererseits auf der Idee, dass Individuen, die sich gegen ungerechte Angriffe verteidigen, damit die Institution Recht selbst verteidigen. Vertreten von Kristian Kühl.

Aber wer glaubt schon, das Recht werde durch individuelle Angriffe bedroht? Es ist dies aber die Position, die auch Véronique Zanetti vertritt, und zwar mit der Begründung, dass sie dem Recht auf Hilfeleistung gegenüber Dritten als Basis dient, das wiederum das Recht auf humanitäre Intervention begründet.

Entscheidung unter Zwang

Der Grundgedanke ist, dass das Opfer, will es sein Leben retten, eine verbotene Handlung begehen muss. Weil es gezwungen war, eine Entscheidung zu fällen, die es sonst nicht getroffen hätte, ist es von seiner Handlung entlastet, selbst wenn sich später herausstellen sollte, dass eine unschuldige Person getötet wurde. Zwang erzeugt in gewisser Weise eine Ausnahmesituation, in der dem Akteur seine Tat nicht angelastet wird.

Gleichwohl bleibt zu untersuchen, aus welchem Grunde der Täter die Ausnahmesituation zu seiner Rechtfertigung in Anspruch nehmen darf. Wird das Opfer entschuldigt, weil sein Leben in Gefahr war? Das ist sicher ein wichtiger Faktor, aber per se weder notwendig noch zureichend. Nicht notwendig, denn man kann argumentieren, dass das Opfer ebenso gerechtfertigt gewesen wäre, wenn der Angreifer es „nur” hätte vergewaltigen wollen. Auch nicht hinreichend, denn die Bedrohung entschuldigt per se noch keine Menschentötung. Wenn zwei Überlebende eines Schiffbruchs sich ein Boot teilen müssen, das nur für einen Platz bietet, hat keiner das moralische Recht, den andern über Bord zu werfen.

Hat also eine Person eine moralische Entschuldigung für ihre Gefährdung des Lebens eines anderen, so darum, weil letzterer mit seinem Angriff eine Tat begangen hat, die bei Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen die seinen minder anerkennungswürdig erscheinen lassen als die des anderen.

Diese Erklärung sieht auf den ersten Blick ziemlich überzeugend aus. Sie besteht aber eine eingehendere Prüfung nicht, und zwar aus wenigstens zwei Gründen. Erstens, weil es gefährlich ist, die Interessenabwägung nach einer utilitaristischen Logik vorzunehmen. Zählen die Interessen des Angreifers weniger als die des Opfers, wie verhält sich’s dann, wenn sich’s um einen Spitzenwissenschaftler dicht vor der Entdeckung eines Wirkstoffs gegen Aids handelt? Berücksichtigt man nun über das Gewicht der betroffenen Interessen hinaus noch den moralischen Wert der Personen, so steht man vor den wohlbekannten Aporien des klassischen Utilitarismus.

Das positive Recht ist in diesem Punkt ganz strikt: Hat das Opfer das Recht, zur Selbstverteidigung Rechtsgüter eines anderen zu beschädigen, so darf es dieses Recht innerhalb der Grenzen des Gesetzes ausüben, egal, welches die Konsequenzen seiner Handlung und die konkurrierenden Interessen sein mögen. Die Geltung des Rechts wird von Überlegungen hinsichtlich der Konsequenzen seiner Ausübung nicht betroffen.

Der zweite Grund zur Skepsis gegenüber einer Rechtfertigung, die mit einer Interessenhierarchie argumentiert, hat mit der Autorität des Urteils zu tun. Wer ist befugt, den Vorrang der auf dem Spiel stehenden Interessen festzulegen? Das Opfer kann nicht Richter und Partei in einer Person sein. Sein Handeln kann nicht als legitime Bestrafung interpretiert werden. Nur Gott – für Gläubige – oder ein Richter können legitim bestrafen. Dieser Gedanke steckt implizit schon in der Idee der Entschuldigung: Die Tat ist vom Standpunkt der Regel zu verurteilen, genießt aber eine Rechtfertigung.

Verlust des Rechts auf Immunität

Die Schwierigkeit der Verteidiger eines Rechts auf Verteidigung als im Grundrecht auf Leben begründet liegt in der Erklärung, wie der eine Inhaber dieses Rechtstitels ihn durch seine Aggression verliert. Lässt sich ein Grundrecht verlieren? Gilt das Recht auf Leben – und folglich das Recht, nicht getötet zu werden – nur bedingt? Kann man mit anderen Worten sagen, wir haben das Recht, nicht getötet zu werden, nur unter der Bedingung, dass wir uns nicht absichtlich auf eine Aggressionstat einlassen?

In seiner Grundlage des Naturrechts vertritt Fichte eine Position, die darauf hinausläuft, dass der Bürger durch sein Verhalten beweisen muss, dass er es verdient, als Mitglied der Rechtsgemeinschaft betrachtet zu werden. Wer den Bürgervertrag verletzt, verwirkt dadurch sein Bürgerrecht. Und wer das Leben eines anderen bedroht, tritt damit aus der Gemeinschaft derer, die dem Tötungsverbot unterstehen, aus und macht sich selber schutzlos. In ihrer Radikalität ist diese Position nicht vertretbar, denn jeder Beliebige wäre befugt, diese Person zu töten, und zwar zu jedem beliebigen Zeitpunkt, der der Aggression folgt; das ist offenbar unverträglich mit den einschränkenden Auflagen an die Ausübung des Rechts, so wie sie allgemein durch das geltende Recht anerkannt sind. Die Theorie hat dennoch das Verdienst, dass sie einen Grund angibt, weshalb eine Person ihr Recht auf Leben verwirkt: Indem sie die Rechte einer anderen Person verletzt, verneint sie willentlich die Bedingungen des Vertrags, der sie verpflichtet, die Rechte der anderen zu respektieren. Weil der Angreifer sein Eigeninteresse höher stellt als die Verpflichtung gegenüber dem Leben der anderen, wird er aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen.

Wäre die Position Fichtes vertretbar, wenn statt eines endgültigen Verlusts nur von einem vorläufigen Verlust der Rechte die Rede wäre? Der schuldige Angreifer verlöre dann seinen Schutz gegen das Tötungsverbot nur für die Zeit seines Angriffs und erhielte ihn zurück, wenn er keine Gefahr mehr darstellt. Der Verlust käme einer vorübergehenden Aufhebung des Rechts gleich. Diese Konstruktion ist in dem Aufsatz Self-Defense and Right von Judith Jarvis Thomson entwickelt worden. Sie ist aber nicht weniger problematisch. Wie erklärt man nämlich, dass ein unveräußerliches Grundrecht (das Recht auf Leben) für eine kurze Zeit verwirkt und dann wieder gewonnen werden kann? Nicht nur widerspricht diese Ansicht der Intuition, dass die Grundrechte unbedingt gültig sind, sondern es lassen sich leicht Beispiele ausdenken, wo dem Angegriffenen aufgrund kontingenter Ereignisse verboten ist, sich zu wehren, obwohl der Angreifer immer noch die Absicht hat, zu töten. Wird nämlich der Angreifer durch ein äußeres Ereignis aufgehalten, so dass er keine Bedrohung mehr darstellt, darf der Angegriffene sich nicht mehr wehren, auch wenn die innere Einstellung des Angreifers sich nicht geändert hat.

Robert Nozick bringt in Anarchy, State, and Utopia ein Beispiel für das Argument. Sie liegen in einem Brunnenschacht, und ein sehr dicker Mann, den man geschubst hat, fällt auf Sie. Das einzige Mittel, Sie zu retten, bestünde in einer Zerstückelungswaffe, die Sie zufällig haben. Durch welchen Grund soll dieser arme Kerl, der obendrein selbst Opfer einer Aggression ist, seines Rechts auf Immunität beraubt werden?

Man sieht: Vom normativen Standpunkt ist es nicht sehr überzeugend, die Existenz oder Gültigkeit eines Grundrechts von äußeren Umständen abhängig zu machen. Nicht weil eine Person tatsächlich eine Lebensgefahr darstellt, hat sie ihr Recht auf Immunität verloren. Wenn sie es verloren hat, so darum, weil sie verbrecherische Absichten hat und sich den anderen gegenüber entsprechend verhält. Véronique Zanetti sieht hier ein Element von Berechtigung in Fichtes Argument, nämlich, dass der Angreifer sein Recht auf Schutz vor Tötung deshalb verliert, weil er durch seine Tat das Lebensrecht des Opfers verneint. Die Anerkennung von Grundrechten – im Unterschied zu Einzelrechten – ist ein symmetrischer Akt: So, wie ich mich verpflichte, das Recht anderer zu espektieren, erwarte ich entsprechend, dass die anderen dasselbe mir gegenüber tun.

Weigert sich jemand, bin ich von meiner Verpflichtung ihm gegenüber befreit. Und das darum, weil eine Person, die mich absichtlich angreift, mir dadurch ihre Missachtung bekundet, eine Missachtung, die bis zur Ablehnung meines Rechts auf Leben gehen kann. In der Notwehr verteidige ich mich nicht nur gegen ein Verbrechen gegen meine körperliche Integrität, sondern auch gegen eine Verletzung meines Rechts auf Anerkennung als moralische Person. Unter solchen Bedingungen wäre man entweder blauäugig oder heilig, eine Verpflichtung für jemanden zu empfinden, die selber die ihre verleugnet. Das erklärt aber auch, dass ich kein Recht habe, eine unschuldige Person zu töten, selbst wenn diese eine Gefahr für mich bedeutet. Ich darf nur eine Person töten, die mich absichtlich bedroht. Ich habe kein Recht, denn damit ich mich auf ein Recht zum Töten berufen kann, müssen sich die beiden gegenseitig balancieren; d. h., bei der Aggression muss das Recht, nicht getötet zu werden, aufgehoben sein. Nun ist es moralisch gar nicht überzeugend, ein Grundrecht von jemandem aufzuheben, nur weil er wider Willen eine Bedrohung für jemand andern darstellt.

Heißt das dann, dass ich mich gegen einen unschuldigen Angreifer nicht wehren darf? Verliere ich mein Recht auf Selbstverteidigung, weil der unschuldige Angreifer selber sein Recht auf Immunität nicht verwirkt hat? Ja, sagt Véronique Zanetti. Man darf im Konflikt zwischen zwei Ansprüchen aufs Lebensrecht nur dann töten, wenn der Gegner sein Recht auf Leben absichtsvoll verwirkt hat. Gibt es für mich keine Alternative zur Rettung meiner Haut als die Tötung des Angreifers, bin ich entschuldigt, auch wenn dieser unschuldig ist. Nicht berechtigt, sondern bloß entschuldigt.

Die Theorie des gerechten Krieges

Hat nun der Soldat das Recht, sich vor seinem „Gegner“ zu verteidigen oder ist er bloß entschuldigt, wenn er sich wehrt? Und wenn er einem Staat dient, der einen ungerechten Angriff unternommen hat, hat er dann ganz einfach nicht das Recht auf Verteidigung? Diese Frage steht im Zentrum der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern, sie ist der Prüfstein der Theorie des gerechten Krieges.

Die Theorie des gerechten Krieges versucht das Bestehen von Kriegen in eine normative Theorie einzubringen und ihm einen genau umschriebenen Rechtsraum zu öffnen. Dazu erarbeitet sie eine Ordnung der Ursachen von Kriegen. Ein Eroberungskrieg ist ein Aggressionskrieg und niemals gerechtfertigt, denn der kriegführende Staat spricht dem anderen die Autonomie und damit sein Existenzrecht ab. Dagegen kann ein Krieg als Antwort auf eine ungerechte Aggression legitim sein. In dem Falle stellt ein Krieg einen Akt kollektiver Notwehr dar.

Es gibt zwei weitere Fälle von gerechtem Krieg. Im ersten kann der angegriffene und legitim regierte Staat sich gegen einen Angriff von außen nicht wehren; dann kann es gerechtfertigt sein, ihm zu Hilfe zu kommen. Im zweiten Falle verletzt eine Staatsregierung massiv die Rechte ihrer eigenen Bevölkerung, dann ist ein dritter Staat oder eine Staatengruppe berechtigt, ihr zu helfen. Man spricht dann von humanitärer Intervention. Wenden wir diese Unterscheidung auf den Begriff Immunität an, so müssen wir sagen, dass allein ein freiwillig für einen Aggressor-Staat dienender (und also in einen ungerechten Krieg verwickelter) Soldat seine Immunität verwirkt, wie sie jeder unschuldigen Person garantiert ist. Er unterstützt ja die Ziele des Staates, dem er dient, und spricht dem Gegner das Existenzrecht ab. Damit verwirkt er sein eigenes „Recht“ auf Leben und verweigert die Anerkennung der Rechts-Symmetrie.

Man ahnt, worin die Schwierigkeit dieser Position besteht. Geleugnet wird die Triftigkeit der Unterscheidung von Zivilisten und Militär, und die steht im Mittelpunkt der Theorie des gerechten Krieges, des interna¬tionalen Interventionsrechts und der Genfer Konventionen. In der Tat, man kann nicht alle Soldaten, die für eine ungerechte Sache kämpfen, „schuldig“ nennen. Einige handeln aufgrund systematisch verbogener Informationen, andere unter Zwang. In beiden Fällen sind sie Opfer fremder Entscheidungen. Die Politiker aber, die den Krieg zu verantworten haben, sind unmittelbar schuldig.

Kriegführende Soldaten sind für ihre Verteidigung entschuldigt, aber sie haben darum noch lange kein Recht darauf. Die Position, die Véronique Zanetti vertritt, verlangt eine Anzahl von Nuancierungen, die die scharfe Demarkation zwischen Zivilisten und Soldaten aufweichen. In einer Demokratie tragen einige Zivilisten eine viel größere Verantwortung für die Entscheidung des Kriegseintritts als die Militärs. Die letzteren sind nur die Vollstrecker von Anordnungen ihrer Vorgesetzten, während einige Zivilisten Kriegsideologen oder Kriegsfinanciers sind. Man kann sogar sagen, dass in einer Demokratie alle wahlberechtigten Zivilisten für die Entscheidung ihrer Regierung zum Kriegseintritt mitverantwortlich sind. Handelt es sich um eine ungerechte Regierung, sind sie gleichermaßen schuldig wie ihre Regierung und deren Soldaten. Umgekehrt können Soldaten, die von einem diktatorischen Regime zum Kampf gezwungen werden, nicht für dessen aggressive Ideologie zur Verantwortung gezogen werden.

Wie lässt sich vor Ort zwischen „schuldigen” und „unschuldigen” Soldaten bzw. ‚Zivili¬sten’ unterscheiden? Und wie in einer Demokratie zwischen der Opposition und denen, die die zu einem ungerechten Krieg entschlossene Regierung unterstützen? Für einige Autoren ist Unterscheidung von Zivilisten und Militärs eine „nützliche Konvention“ (G.I. Mavrodes), begrenzt sie doch die Zahl der Opfer. Da sich „Schuldige“ und „Unschuldige“ bei einem Bombardement nicht unterscheiden lassen, sollte man sich an die Konvention halten und untersagen, dass Zivilisten Opfer von Militärs werden. Umgekehrt wäre die Kriegsführung überhaupt unmöglich, wenn die Soldaten sich ständig fragen müssten, ob sie das Recht haben, auf den Feind zu schießen. Mit Michael Walzers Worten: Die bloße Kriegsteilnahme schickt die Soldaten ins „Schlachthaus“ (Just and Unjust Wars, S. 35). Zum „Kriegsdienst“, d. h. zum Tragen von Uniform und Waffe verpflichtet, sind sie ipso facto schuldig; denn sie sind in eine Handlung verwickelt, die den Angegriffen Schaden zufügen muss.

Soldaten sind sich alle gleich, egal, von welcher Seite der Front aus man sie betrachtet, und ungeachtet der Gerechtigkeit ihrer Sache. Diese moralische Gleichheit verleiht den Soldaten die Berechtigung zur Verteidigung aus Notwehr. Nun muss man betonen, dass diese Berechtigung hier nicht aus einer moralischen Asymmetrie der Kriegsführenden fließt und nicht zur Schöpfung eines Rechtes führt; sie liefert nur bloße Entschuldigung.

Véronique Zanetti hält diese Strategie für überzeugend: Man kann sich an ihr als einer allgemeinen Regel orientieren. Anders gesagt: Bewaffnete Konflikte bringen unvermeidlich Soldaten, die fürs Töten-im-Notfall bezahlt werden, gegeneinander in Stellung; darum sind Soldaten im Geiste der Konvention als „nicht-unschuldig” zu betrachten, bedrohen sie doch einander und die Zivilbevölkerung. Mithin ist der Verlust ihrer Immunität durch ihre Handlungen und die Rolle, die sie spielen, gerechtfertigt.

Zivilisten unterstehen dagegen im Allgemeinen der Unschuldsvermutung. Lässt sich jedoch klar nachweisen, dass diese Vermutung irrig ist, sind sie z. B. Mitglieder einer Regierung, die einen ungerechten Krieg erklärt hat, oder tragen zur Finanzierung des Krieges anders als durch Steuerzahlung bei, usw., so können diese Zivilpersonen nicht für unschuldig gelten. Konsequent wird aktiv ins „Kriegsgeschäft” verstrickten Zivilpersonen als Individuen das Recht auf Immunität verwehrt: Sie können also legitime Zielscheibe einer Notwehrhandlung werden. Die israelischen Siedler z. B., die sich in voller Kenntnis der politischen Bedeutung ihres Handelns und der damit verbundenen Risiken in den besetzten Gebieten Palästinas festsetzen, sind keine unschuldigen Zivilisten. Indem sie ein Territorium besetzen, das ihnen nicht gehört, streiten sie dessen Bewohnern das Lebensrecht ab. Sie sind nicht-militärische (aber gleichwohl bewaffnete) Besatzungskräfte und damit wesentliches Element eines Besatzungskrieges. Verweigert man ihnen den Schutz durchs Immunitätsrecht, behandelt man sie im Blick auf ihre wirklichen Taten wie Militärs.

Im Gegensatz dazu kann es keine Rechtfertigung zur Bombardierung einer Stadt geben, selbst wenn die Mehrheit ihrer Einwohner ein in einen ungerechten Krieg verwickeltes Regime unterstützt; denn dadurch würde man auch das Leben der Zivilisten gefährden, die gegen den Krieg sind.

Verteidigung der Rechtsinstitution

Nach dieser These verteidigt, wer in Notwehr handelt, über seine Interessen hinaus eine Rechtsordnung. Hinter dieser These steht die Idee, die Verteidigung manifestiere nicht nur ein Partikularinteresse an der Bewahrung eines wesentlichen Guts, sondern auch ein allgemeines Interesse daran, dass das Recht vollstreckt werde.

Diese Interpretation überzeugt nicht, wenn damit gemeint sein soll, der Aggressor stelle eine Bedrohung für das Recht als Institution dar. Da das Recht als Institution nicht durch punktuelle Verletzungen bedroht ist, wäre es abwegig, jeden von uns als Rechtsschutz-Funktionär anzusehen. Bei näherer Betrachtung wird diese Idee gleichwohl von einer Intuition gestützt: Es wäre doch zu bedauerlich, wenn eine Rechtsverletzung geschehen könnte und Zeugen mit verschränkten Armen einem Mord zusehen und denken könnten, das Eingreifen sei Sache der Polizei. Diese Intuition führt eine weitere mit sich: Verlöre der Gedanke des Rechtssystems nicht allen Sinn, wenn der Schutz der wesentlichen Güter (z. B. die Integrität der Person) allein den offiziell vom Staat dafür angestellten Funk¬tionsträgern zufiele? Wären wir bereit, in einem solchen System zu leben und seine Risiken auf uns zu nehmen? Indem er den Individuen ein Recht auf Notwehr verleiht, überträgt der Staat ihnen nicht nur die Verteidigung ihrer individuellen Rechte, sondern auch die subsidiäre Macht, das herrschende Recht durch ihr Tun zur Geltung zu bringen und so ein ganzes Rechtssystem zu verteidigen.

Das Recht der Hilfeleistung für Dritte

Das Recht auf Verteidigung eines bedrohten und zur Selbsthilfe unfähigen Dritten ist aus dem Recht auf Notwehr abgeleitet und kann ebenso gut vom Opfer wie von einer anderen zur Hilfeleistung befähigten Person wahrgenommen werden. Dahinter steht folgendes Prinzip: Wenn das Recht auf (notfalls gewaltsame) Abwehr eines Angriffs ein moralisches Recht darstellt, gilt es universell, und seine Konkretisierung ist nicht auf eine Einzelperson eingeschränkt.

Verhält es sich wirklich so? Mein Nachbar, der verreist, verzichtet für eine bestimmte Zeit zu meinen Gunsten darauf, seine Früchte zu ernten. Nur mir hat er dies Recht abgetreten. Kann man nicht ebenso sagen, ein Staat verleihe jeder einzelnen Person subsidiär, individuell, das Recht, seine psycho-physische Integrität zu schützen? Er hat nicht jedem generell die Macht zum Schutz des Rechts erteilt. Véronique Zanetti sieht den einzigen Grund zur Erklärung des Rechts einer dritten Person zur Hilfeleistung bei einer ungerechten Aggression darin, dass der Aggressor durch seine Tat sein Recht auf Immunität verwirkt hat. Daraus folgt, dass eine dritte Person nicht das Recht hat, gegen einen unschuldigen Aggressor zu intervenieren. Wenn ich beispielsweise Zeuge der bedrohlichen Tatsache bin, dass X von Y gleich zerquetscht wird, der rückwärts in seine Garage einfährt, ohne X hinter sich zu bemerken, habe ich, falls ich eine Pistole bei mir führe, nicht das Recht, auf Y zu schießen, um ihn anzuhalten. Das Recht auf Intervention zugunsten eines Dritten ist also nicht in dem Recht einer Person auf Leben begründet. Die Tatsache allein, dass X ohne mein Einschreiten sein Leben riskiert, rechtfertigt meine Intervention nicht. Was sie rechtfertigt, ist der Umstand, dass X sein Leben durch eine ungerechte Aggression riskiert.

Neben einer rein individuellen Motivation des Rechts auf Notwehr gibt es noch eine allgemeinere Motivation: die, das Rechtssy¬stem selbst zu verteidigen. Wenn ich in einen Konflikt eingreife, so verteidige ich damit das Recht aller auf die Achtung vor gewissen Werten. In diesem Sinne wird die Intervention eines Dritten in einem Konflikt zugunsten des Opfers weniger durch die Tatsache gerechtfertigt, dass das Leben des Opfers auf dem Spiel steht, als dadurch, dass der Aggressor das Recht einer Person verletzt, nicht getötet zu werden.

Ist diese Konstruktion nicht künstlich? Werde ich Zeuge eines Vergewaltigungsversuchs an einem Mädchen und kann den Aggressor ohne allzu große Gefahr für mein eigenes Leben in die Flucht jagen, so wird mein Eingreifen doch durch die Tatsache motiviert worden sein, dass das Kind in Gefahr war. Im Augenblick meiner Entscheidung urteile ich sicher nicht, dass ich eine Verpflichtung gegen das Recht hatte. Meine Handlung ist durch das Leiden des Opfers motiviert, nicht durch die Segnungen, die die Rechtsgemeinschaft aus ihr bezieht. Trotzdem muss man hier unterscheiden zwischen motivierenden Gründen und Gründen für die Legitimität einer Handlung. Wenn meine Handlung legitim ist, so nicht, weil sie von einem altruistischen Gefühl ausgelöst wurde. Das allein macht eine Handlung nicht gerecht. Legitimiert wird meine Handlung durch die Tatsache, dass der Aggressor absichtlich das Recht des Mädchens auf Integrität verletzt und ich in Abwesenheit offizieller Repräsentanten autorisiert bin, die im Recht verkörperten Werte zu verteidigen.

Haben Kollektive ein Notwehr- Recht?

Die politische Philosophie stellt das Prinzip der Analogie zwischen Staat und Individuum ins Zentrum ihrer normativen Überlegungen. Es ist Hobbes’ Vermächtnis, den Staat wie ein Individuum als mit Rechten und Pflichten begabt anzusehen. Angegriffen hat das Individuum das Recht, zuzuschlagen, um zu überleben. Trotzdem gibt es gewisse Asymmetrien zwischen der Situation des angegriffenen Individuums und der des Staats.

Die erste beruht darin, dass ein Staat nicht ebenso gebrechlich ist wie ein Individuum. Das Individuum kann nicht seine ganze Energie auf die Selbstverteidigung wenden. In einem Staat sind diese Tätigkeiten unter der Bevölkerung verteilt.

Die zweite Asymmetrie gehört der moralischen Ordnung an. Während das Individuum für sich selbst entscheiden kann, ob es die Selbstverteidigung ablehnt und lieber stirbt, als den Gegner zu töten, kann der Staat eine solche Entscheidung nicht fällen. Um ihn dazu zu ermächtigen, müssen alle Bürger ihm das Recht dazu geben. Der Grund dafür liegt darin, dass die Bürger idealiter ihre Sicherheit an den Staat abgetreten haben.

Es kommt selten vor, dass ein Staat in seiner Existenz durch eine äußere Aggression bedroht ist. Warum gesteht ihm dann aber das Völkerrecht das natürliche Recht auf Selbstverteidigung zu? Warum soll der Staat an sich eine politische Entität sein, die es wert ist, verteidigt zu werden? Allein sein geschichtliches und geographisches Bestehen kann ein Recht auf Notwehr nicht begründen, und das umso weniger, als ein Staat zu seiner Verteidigung notwendig Soldaten braucht, die ihr Leben für ihn verlieren können. In wessen Namen verdient ein Staat das Opfer von tausenden und abertausenden Leben auf beiden Seiten der Grenze?

Die Suche nach einer normativen Rechtfertigung kann in zwei Richtungen erfolgen. Eine ist der Versuch, Existenz und Notwehrrecht des Staats zu rechtfertigen. Die zweite weist auf die historische und geographische Kontingenz von Staaten und setzt an ihre Stelle das Ideal der Gemeinschaft. Beide Positionen kommen darin überein, dass sie sich um die Idee eines kollektiven Guts ranken, dessen Bestand die Verteidigung lohne, selbst um den Preis des Lebens eines Teils der Bürger des zu verteidigenden Staates.

Für den Kontraktualismus ist der Staat ein Instrument, hervorgegangen aus der Vereinigung von Willen und Vernunft der Individuen. Der Zweck des Staates ist klar bestimmt: ohne politische Ordnung kein individuelles Heil. Keine politische Ordnung verdient per se den Vorzug; Hauptsache, sie funktioniert gut. Damit begegnet der Kontraktualismus einem Paradox bezüglich des Rechts auf Notwehr. Die Funktion des Staatsvertrags, der der Staatsschöpfung zugrunde liegt, ist der Schutz der Individuen vor blinder Willkür durch andere im Naturzustand. Ist das aber die Grundfunktion der politischen Ordnung, so ist deren inhaltliche Ausgestaltung gleichgültig, solange sie nur ihre Aufgabe erfüllt. Darum gilt als generelle Regel: Wenn ein Land einen Nachbarn angreift, um dessen natürliche Ressourcen oder dessen Wirtschaft zu kontrollieren oder sein Territorium zu vergrößern, hat es kein Interesse, das Territorium des angegriffenen Landes zu zerstören oder seine Bewohner zu massakrieren. Da ein politisches System so gut ist wie ein anderes, tun die Bewohner des angegriffenen Landes, statt ihren Staat zu verteidigen, besser daran, die Einmischung zu dulden. Mit anderen Worten, der Kontraktualismus bietet keine überzeugende Handhabe zur Rechtfertigung des Notwehrrechts.

Verdient es ein Staat hingegen, verteidigt zu werden, so darum, weil er und kein anderer seinen Bürgern die Vorzüge bietet, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, notfalls für ihn sein Leben einzusetzen. Man muss sich also an eine normative Theorie des Politischen wenden.

Zwei Fragen stellen sich hier. Die erste: Warum verdient der Staat seine Verteidigung? Die zweite geht einen Schritt weiter: Warum ist der Staat eine notwendige Bedingung für die Konkretisierung der Individualrechte? Man muss diese Frage an Kant stellen. Seine Antwort:
„Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber, der selbst als Stamm seine eigene Wurzel hatte, als Pfropfreis einem anderen Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz als einer moralischen Person aufheben und aus der letzteren eine Sache machen und widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken lässt.“ (Zum ewigen Frieden, AA VIII, 344)

Wenige Denker haben die Einheit von staatlicher Souveränität und Volkswillen so klar und hellsichtig erkannt und formuliert. Die territoriale, militärische und gesetzgebende Souveränität wird bei Kant nicht aus der tatsächlichen Existenz eines Staates abgeleitet. Sie fließt aus der Selbstgesetzgebung eines Volkes. Verdient also ein Staat, verteidigt zu werden, so darum, weil er eine moralische Person ist und nicht bloß eine geographisch-politische Entität, die ihre Autonomie aus der Anerkennung anderer Staaten empfangen hätte. Vermittels des Staatsvertrags konstituiert sich eine Menge von Individuen als Volk. Der Gesellschaftsvertrag und die politische Konstitution, die daraus abgeleitet wird, sind mithin Ausdruck des Volkswillens, der Freiheit des Volkes. Anders aber als bei Hobbes kann aus dem Gesellschaftsvertrag nur eine republikanische Verfassung hervorgehen. Durch die Idee einer freien Unterwerfung unter eine von allen gewollte gemeinsame Gesetzgebung ist nur sie mit der Freiheit ihrer Teilnehmer und ihrer gleichen Zustimmung verträglich. Der Staat ist keine Agentur der Sicherheit oder der Verteilung kooperativ erworbener Güter. Die Regierung, die ein Volk sich gibt, ist nicht austauschbar. Weil idealiter, das heißt: unter Bedingungen einer republikanischen Verfassung, die Bürger den bestehenden Gesetzen frei ihre Zustimmung haben geben können, darum verdienen diese ihre Achtung. Die Autonomie des Staates steht auf demselben Niveau wie die des Individuums; beide verdienen aus dem gleichen Grunde Respekt.

Bleibt die zweite Frage: Warum überhaupt ein Staat? Im Unterschied zu Hobbes verlassen bei Kant die Individuen nicht aus rationalem Egoismus den Naturzustand, nicht darum, weil sie wissen, dass sie in der Gruppe besser durchkommen als allein. Die politische Vereinigung konstituiert für Kant eine moralische Pflicht, weil sich erst in der politischen Einigung die Rechte eines jeden bilden. Für den politischen Moralisten ist der Friede ein physisches Gut und der Respekt vor der Souveränität der Staaten ein Instrument auf dem Weg zur Verwirklichung dieses angestrebten Ziels. Die moralische Politik verfolgt dagegen die Herstellung des Friedens als eine Pflicht, und sie weiß, dass sich dieses Ziel nur über die Verwirklichung der Prinzipien von politischer Freiheit und Gleichheit unter den Bürgern erreichen lässt.

Das Recht auf humanitäre Intervention, so das Fazit Zanettis, muss man als ein Recht verstehen, auf das in erster Linie Individuen Anspruch haben, Staaten nur in abgeleiteter Weise. Die Individuen haben Grundrechte, die zunächst die Regierung binden, der sie unterstehen. Wenn diese aber selber an einer Menschenrechtsverletzung beteiligt oder unfähig ist, ihren Bürgern eine hinreichende Sicherheit zu garantieren, fällt diese Verpflichtung an eine übernationale Instanz, die diese vakante Kompetenz übernehmen sollte. Die humanitäre Intervention stellt dann keine tolerierte Ausnahme zum Nichteinmischungsprinzip dar, sondern gehorcht einer Logik, die den Grundrechten innewohnt.

Weitere Literatur von V. Zanetti zum Thema:
Ist das Recht auf Intervention ein individuelles Recht?, in: Kohler/Marti (Hrsg.): Konturen der neuen Welt(un)ordnung, 2003, S. 253-265.
Von Véronique Zanetti autorisierter Text.