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FORSCHUNG

Situation: Geschichte des Begriffs Situation

Die Geschichte des Begriffs der Situation

Der Begriff der Situation hat in der Geschichte eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht. Von einem Thema der theoretischen Philosophie hat er sich in eines der praktischen Philosophie gewandelt, und in dieser Form hat er in den fünfziger Jahren mit dem Auslaufen des Existentialismus an Interesse verloren. In der Neuen Phänomenologie ist er in die theoretische Philosophie zurückgekehrt.

Dies ist die These, die der Inhaber der Hermann Schmitz-Professur in Rostock, Michael Großheim, in seinem Aufsatz

Großheim, Michael: Der Situationsbegriff in der Philosophie. Mit einem Ausblick auf seine Anwendung in der Psychiatrie, in: Schmoll, Dirk/ Kuhlmann, Andreas (Hrsg.), Symptom und Phänomen, 2006, Karl Alber, Freiburg

darlegt. Danach war es Fritz Mauthner, der den Situationsbegriff für die Sprachphiloso-phie zu gewinnen versuchte, allerdings ein Versuch ohne größere Wirkung. Mauthner verstand unter Situation das augenblicklich im Gehirn eines Sprechenden oder Hörenden vorhandene „Weltbild“, das nicht vollständig expliziert vorliegt. Allerdings haben für Mauthner nicht nur Individuen solche Situationen, jedes Volk hat eine „Kultursituation“. Das ist der Hauptgrund dafür, dass uns die Dichtungen ferner Völker und ferner Zeiten schwer verständlich sind. Die Situation als augenblicklich oder als dauerhaft geteilter Hintergrund entlastet die miteinander Sprechenden.

Wichtige Anstöße für die Begriffsentwicklung kommen aus der Umweltlehre des Bio-logen Jakob von Uexküll. Dessen Ausgangspunkt ist die „Gewissheit, dass die Natur und das Tier, nicht wie es den Anschein hat, zwei getrennte Dinge sind, sondern dass sie zusammen einen höheren Organismus bilden“. Damit hat er insbesondere auf Scheler, Rothacker und später auf Sartre und Merleau-Ponty gewirkt.

Scheler hat den Umweltgedanken von Uexkülls aufgegriffen und zu einer Theorie des „Milieus“ verarbeitet. Dabei transformiert er den Umweltgedanken ganz aus dem Bereich der Biologie heraus. Das Milieu wird zu einem philosophischen Motiv, das in seine Wertlehre Eingang findet und zur „praktisch als wirksam erlebten Wertwelt“ wird. Darin, dass das Milieu einer „festen Wand“ gleicht, macht sich noch das starre Konzept Uexkülls bemerkbar, das aus der (biologischen) Organisation des Tieres ein genaues Eingepasstsein in seine Umwelt ableitet. Scheler erweitert das Konzept:
„Zum momentanen ‚Milieu’ gehört nicht bloß die Reihe von Gegenständen, die ich auf der Straße gehend oder im Zimmer sitzend gerade perzipiere (sei es sinnlich oder verstellend), sondern auch alles, mit dessen Dasein oder Nichtsein, Sosein und Anderssein ich praktisch ‚rechne’“. Husserl hat für dieses „intuitiv Erwartete, im Vorblick als ‚künftig kommend’ Bewusste“ den Begriff  der „Protention“ geprägt und ähnlich wie Scheler das Feld des Wahrgenommenen weiter gefasst. Protentionen gehören bei Husserl zum „Wahrnehmungshintergrund“.

Bei Scheler bleibt die Struktur des Milieus durch wechselnde Gegenstände hindurch dieselbe: „Der Spießbürger bleibt Spießbürger, der Bohemien Bohemien, und nur das wird ihnen ‚Milieu’, was die Wertverhalte ihrer Einstellungen an sich trägt.“ Heidegger bestimmt in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1919 die Situation als eine „gewisse Einheit im natürlichen Erleben“. Kriterium für Situation ist ihre Subjektivität für jemanden, d.h. ist kein neutraler „Vorgang“, sondern ein „Ereignis“. Die Situation hat ein Moment der affektiven Bindung, wird dieses zurückgedrängt, kann es zum „Erlöschen des Situationszusammenhangs“ kommen.

Gehlen hat sich in seiner Habilitationsschrift von 1931 um den phänomenalen Inhalt der konkreten Lebenssituation bemüht. Situation ist für ihn die „komplexe“, „erfüllte, Subjekt und Objekt umfassende Erlebniswelt“, die „phänomenale Totalität eines Moments“. In jeder Vorstellung außerhalb mir und außer dem Gegenstand wird noch etwas erlebt, in das beide eingebettet sind: Die Situation. Sie ist für Gehlen der „Ort eines sehr reichen Zu-sammenschlusses von Inhalten“, die „wirkliche konkrete Befindlichkeit, in der ich mich mit diesen zufälligen Bestimmungen, mit diesen Anderen zusammenlebend, unter ge-gebenen, schon sehr künstlichen Lebensbedingungen in einem Staate und Volke …. vorfinde“. Damit zieht Gehlen auch die geschichtliche Einbettung des Menschen in den Situationsbegriff ein.

Georg Simmel war wohl der erste, der die Si-tuation mit der Entscheidung verknüpfte. In der Folge war dies in Philosophie, Theologie und auch Soziologie weit verbreitet. So schreibt etwa der Theologe Friedrich Gogarten 1921, „dass die Situation, in der wir Theologen und Kirchenmänner stehen, jeden Tag dringender zur Entscheidung drängt“. Hans Freyer bestimmt 1930 soziale Gebilde u. a. dadurch, dass sie die „existenzielle Situation des Menschen seien“ und dieses Merkmal „bezieht sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als gegenwärtiges Schicksal und gegenwärtige Entscheidung“. Für Freyer verbergen sich in einer Situation eine „unbestimmte Vielheit“ von Möglichkeiten. „Es ist jedesmal ein Anlaß oder ein Anruf oder ein Entschluß oder ein Aufbruch nötig, um irgend etwas vom Mitgebrachten in die Akualität heraufzuholen.“

Erich Rothacker entwickelt in seiner Geschichtsphilosophie eine Theorie der Situationen. Der Mensch ist für ihn als endliches Wesen immer „situationsgebunden“, d. h. er steht als ein besonderes Wesen mit einer inneren Lage einer besonderen äußeren Lage gegenüber. Rothackers Grundthese: Jede konkrete menschliche Handlung ist eine Antwort auf eine konkrete Lage. Zur Antwort gehören zwei Momente, eine Deutung der Situation und ein mehr oder weniger glücklicher Einfall. Für Rothacker gibt es eine objektive Lage und eine erlebte Lage. Die erlebte Lage selbst hat die Eigenschaft, „außerordentlich vieldeutig“ zu sein. Die Deutung einer Situation kann daher ungeheuer verschieden sein, „nicht nur richtig oder falsch in je einer bestimmten Hinsicht, sondern je nach Einstellung, Stimmung, Vorurteilen in den verschiedensten Hinsichten“. Die stattfindende Deutung ist dann folgenreich für die Antwort.

Hans Lipps fasst den Situationsbegriff stärker hermeneutisch als andere Autoren. „Jeder Schritt meiner Existenz bedeutet also eine Auslegung meines Daseins, sofern er geschieht als ein Sich-auseinandersetzen mit der Welt in Situationen.“ Den Situationen fehlt jede Dauer, sie wechseln ständig, und Situation ist daher immer die gegenwärtige Situation. Ähnlich wie beim jungen Heidegger sind hier Situationen mit Existenz getränkt. Für Lipps Kollegen Josef König ist die Situation „eo ipso eine Art von Aufgabe, man ‚meistert’ z.B. eine Situation“. Ähnlich Königs Freund Helmuth Plessner, der schreibt: „In der Situation ist der Mensch auf ihre Erledigung angewiesen. Seine Lage ver-langt von ihm Entscheidungen…. So gibt es
für den Menschen den rechten Augenblick, das Gebot der Stunde, die versäumte Gele-genheit und die richtig genutzte Gelegenheit.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich der Situationsbegriff als deutsches Ex-portprodukt in Frankreich, während er hier seinen Zenit überschritten hatte. Sartre be-stimmt Freiheit als die Möglichkeit, sich von einer Situation loszulösen, um in bezug auf sie einen Standpunkt einzunehmen.

Gegenwärtig wird in der Neuen Phänomenologie der Situationsbegriff von Hermann Schmitz vertreten. Er ist abstrakter geworden und nicht auf ein bloß räumliches „in einer Situation Stehen“ eingeschränkt. Diese Abstraktion bietet Schmitz die Möglichkeit einer eingehenden Klassifizierung von Situatio-nen:

- Segmentierte Situationen sind solche, die nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen (wie die persönliche Situation eines einzelnen Menschen);

- Zuständliche Situationen haben eine Tendenz zur Dauer, ohne dass sich ihr jeweiliger Zustand querschnittmäßig genau datieren liesse (Beispiel: Institutionen wie Freund-schaft oder Intimfeindschaft);

- Persönliche Situationen können auf zwei Weisen in gemeinsame Situationen eingehen. Die includierenden Situationen sind die rahmengebenden. Die gemeinsamen Situationen bleiben hier der persönlichen Situation gewissermaßen äußerlich, indem sie ihr nur einen Rahmen geben, wie Konventionen aller Art.

- Implantierende Situationen lassen sich in die persönliche Situation einwachsen, indem die persönliche Situation in gemeinsame Situationen hineinwachsen und mit ihnen verwachsen, z.B. als traditionelle Gesinnung.