ARISTOTELES
Der entwicklungsgeschichtliche Ansatz
1928 legte der Altphilologe Werner Jaeger eine Studie mit dem Titel "Aristoteles. Grund-legung einer Geschichte seiner Entwicklung" vor. Er wollte damit die bisher vorherrschende scholastische Auffassung der aristotelischen Philosophie ablösen, die er als einen „starren Begriffsschematismus“ kritisierte, ablösen. Die scholastische Interpretation verfehle die bewegenden Kräfte aristotelischer Forschungsweise und habe von „dem eigenartigen Zusammenspiel bohrender, abstrakter Apodiktik und anschaulichen, organischen Formensinn“ keine „selbsterlebte Vorstellung“. Jäger stellte Aristoteles’ Philosophie als eine in verschiedene Stadien zu unterteilende Entwicklung dar, die im wesentlichen durch die Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Platon geprägt sei. Jäger machte die zu berücksichtigenden Stadien an den bekannten biographischen Abschnitten fest und postulierte eine Entwicklung vom Platoniker über den platonkritischen Metaphysiker bis hin zum Empiriker. Mit philologischen Mitteln versuchte er dann, verschiedene Werke diesen drei Phasen zuzuordnen und in einigen Werken unterschiedliche Entstehungsschichten zu identifizieren.
Danach hat Aristoteles in der ersten platonischen Phase die (überwiegend verlorenen) exoterischen, für ein größeres Publikum bestimmten Schriften, darunter den Protreptikos, verfasst und sich dabei weitgehend den Standpunkt von Platons Akademie zu eigen gemacht. Die mittlere Phase, die mit den Wanderjahren zusammenhängt, ist von der Loslösung von Platon geprägt, die sich unter anderen in der Kritik an Platons Ideenlehre ausdrückt. In der letzten Phase, seiner Meisterzeit, hat er die Metaphysik um die vermeintlich empirischen Bücher VII, VIII, IX und XII 8 erweitert und Schriften wie Parva Naturalia und De anima verfasst.
Wie Christof Rapp, der Berliner Spezialist für die Geschichte der antiken Philosophie, in seinem Beitrag
Rapp, Christof: Der Erklärungswert von Entwicklungshypothesen. Das Beispiel der Aristoteles-Interpretation, in: van Ackeren, Marcel/Müller, Jörn (Hrsg.): Antike Philosophie verstehen (380 S., Ln., € 74.90, 2006, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt)
darlegt, war Jaegers entwicklungsgeschichtlicher Ansatz für die Aristoteles-Interpretation des 20. Jahrhunderts von herausragender Bedeutung. Verschiedene Autoren versuchten den Entwicklungsgedanken auf Teilbereiche des aristotelischen Werks anzuwenden: Jägers Schüler Solmsen rekonstruierte die Entwicklung der aristotelischen Logik anhand der Analytiken, der Topik und der Rhetorik. Nuyens entdeckte drei Phasen der aristotelischen Seelenlehre, im Laufe derer sich Aristoteles Schritt für Schritt von den Lehren seines Meisters entfernt haben soll. Andere Autoren, wie z. B. von Arnim, über-nahmen zwar einerseits Jaegers Ansatz, verwickelten sich aber andererseits mit ihm in Kontroversen um die Zuordnung einzelner Schriften und vermeintlicher Schichten. Dann gab es Autoren, die sich explizit um die Widerlegung der Jaegerschen Entwicklungsgeschichte bemühten, wie etwa Dirlmeier, der anhand der Ethiken zu zeigen versuchte, dass Aristoteles zu allen Zeiten in einem bestimmten Sinne Platoniker geblieben sei.
Offenbar hatte Jäger mit der Forderung, die Persönlichkeit des Aristoteles zu berücksich-tigen und damit die Interpretation mit Leben zu füllen, den Geschmack seiner Zeit getroffen. Zugleich wurde aber auch das von Jae-ger „scholastisch“ genannte Interpretationsschema als verbraucht angesehen. Man muss deshalb Rapp zufolge den Erfolg Jägers als vorläufigen Höhepunkt einer ohnehin beste-henden Tendenz sehen.
In der Platon-Forschung hatte die Beschäfti-gung mit der Chronologie zu einer relativ unkontroversen Grobeinteilung der Werke in frühe, mittlere und späte Dialoge geführt. Bei
der Aristoteles-Forschung, so das Fazit Rapps, hat die entwicklungsgeschichtliche Forschung à la Jaeger nicht einmal eine gesi-cherte Werkchronologie erbracht. Fast keiner von Jaegers Versuchen, bestimmte Werkteile einer bestimmten Entstehungsschicht zuzuordnen, blieb ohne begründeten Wider-spruch. Dies führte dazu, dass schließlich das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des ent-wicklungsgeschichtlichen Ansatzes stark nachließ. Dieses im Vergleich zur Platon-Forschung enttäuschende Ergebnis ist zum Teil durch den Bearbeitungsstand aristotelischer Schriften bedingt: Aristoteles hat mehrere Manuskripte in einem redaktionell unfertigen Zustand hinterlassen. In einigen Fällen fand die Zusammenstellung zu Werken erst nach seinem Tod statt, in andern Fällen ist mit mehreren Überarbeitungsschritten zu rechnen. Die Anwendung der schichtenanalytischen Methode auf diese schwierige Ausgangslage führte zu einem eigentümlich in-flationären Anwachsen der Schichtenzahl: Wo die Pioniere dieses Verfahrens noch mit zwei Schichten ausgekommen sind, entdeck-ten spätere Interpreten schon vier oder noch mehr Schichten, die sich dann nicht mehr mit den drei von Jaeger angenommenen Phasen in Deckung bringen ließen.
Rapp sieht im Drei-Phasen-Modell denn auch die entscheidende Schwäche in Jaegers Konzept. Theoretische Errungenschaften brauchen ihre Zeit, und es ist nicht zu erwarten, dass Aristoteles die Grundzüge der syllogistischen Logik einfach so über Nacht eingefallen sind.
Manche Kritiker bestreiten sogar, dass es überhaupt eine signifikante Entwicklung in Aristoteles’ Denken gegeben hat, oder sie kritisieren, dass die Entwicklungsfragen für die Sachfragen nichts bringen und das übermäßige Interesse an Entwicklungsfragen die eigentlich philosophisch interessanten Fra-gen in den Hintergrund drängen. Es waren vorwiegend die Schulen, die insbesondere an Sachfragen interessiert sind – in Großbritan-nien war es die durch die analytische Philosophie beeinflusste Aristoteles-Forschung, in Deutschland die hermeneutische, durch Heidegger und Gadamer inspirierte Aristoteles-Deutung –, die starke Vorbehalte gegen jede Art von Entwicklungshypothesen vorbrachten.
Werner Jaeger wollte durch eine globale These über Aristoteles’ philosophische Entwicklung ein Schema bereitstellen, das auf verschiedene Werkgruppen und Disziplinen anwendbar ist. Deshalb operierte sein Schema auch mit allgemeinen Vorstellungen wie „Metaphysiker“ oder „Empiriker“. Rapp moniert, falls es etwa eine Entwicklung innerhalb der aristotelischen Logik gegeben hätte, wäre dieses Schema darauf nicht anwendbar. Rapp hält Entwicklungshypothesen durchaus für ein brauchbares Forschungsinstrument, allerdings müsse dabei klar sein, dass sich für verschiedene Teilbereiche wie Logik, Ethik oder Naturphilosophie unterschiedliche Probleme stellen und dass zur Lösung dieser Probleme unterschiedliche Arten von Entwicklungsprozessen in Betracht gezogen werden müssen. Wenn überhaupt ein Fortschritt in Fragen der Entwicklung der aristotelischen Philosophie zu erwarten ist, dann nur für Entwicklungshypothesen, die auf thematischen Sektoren des aristotelischen Werkes beruhen. Das ist in der Tat auch passiert. So geht der bedeutendste jüngere Versuch einer umfassenden Entwicklungsgeschichte des aristotelischen Denkens, J. M. Rist, The Mind of Aristotle, 1989, in mehreren sektoralen Anläufen vor. Mit gutem Grund kann man die Entwicklungsbetrachtung auf Teilprojekte anwenden. So diskutiert man für die Erste Philosophie, ob sich Aristoteles’ Auffassung vom Unbewegten Beweger verändert habe, oder für die Ethik, ob es eine allgemeine Lust-Konzeption gebe. Feinkörnige Entwicklungsgeschichten haben den Vorzug, dass sie auftretende Konsistenzprobleme gleichsam „vor Ort“ und ohne spekulative Schlüsse auf größere Sinneinheiten behandeln. Umgekehrt kann aber nicht jede Inkonsistenz durch eine Entwicklung erklärt werden: Wenn Aristoteles in zwei verschie-denen Abhandlungen zu verschiedenen Ergebnissen derselben Frage kommt oder denselben Begriff auf unterschiedliche Weise gebraucht, dann kann das auch Gründe haben, die nichts mit einer Entwicklung zu tun haben. So können z.B., wie das G.E.L. Owen bei der Behandlung inkompatibler Lust-Abhandlungen zeigt, an der einen Stelle die Gegenstände der Lust, an der anderen der Vorgang der Lust-Empfindung beschrieben worden sein.