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FORSCHUNG

Ethik: Tugendhats Ethik in der Diskussion

Ernst Tugendhats Ethik in der Diskussion

Immer wieder verworfene Konzeptionen

In immer wieder neuen Anläufen hat sich Ernst Tugendhat seit Ende der 70er Jahre mit dem Problem der ethischen Begründung auseinandergesetzt. Die jeweiligen Konzeptionen wurden in Teilen immer wieder verworfen, um einen neuen Anlauf zu unternehmen. Aus der Sicht von Julian NidaRümelin verteidigte Tugendhat in der Starnberger Zeit (19751980) eine semantischen Begründungskonzeption gegen die pragmatische von Jürgen Habermas. Bereits 1980 hielt er diese aber für unhaltbar, da „man aus der bloßen Bedeutung eines Wortes und d. h. aus einem bloß analytisch verstandenen Apriori nichts moralisch Substantielles herleiten kann“. Julian NidaRümelin vermutet, Tugendhat habe die Thematik der ethischen Begründung als politisch engagierter Bürger entdeckt. Es ging ihm dabei darum, die ethische Begründung einer rationalen Klärung im Sinne einer aufgeklärten Moral zuzuführen, was zu einer Betonung der ethische Intuition führte. Ende der 70er Jahre wurde er aber durch die in der Habilitationsschrift seiner Schülerin Ursula Wolfs daran geübte Kritik zurückgeworfen und es dauerte über 15 Jahre, bis er wieder Boden unter die Füße bekam: Ende der 90er Jahre kehre er zu einem universalistischen und in der Anwendung auf die normative politische Theorie egalitären Kontraktualismus zurück.

Anton Leist konstatiert eine ähnliche Entwicklung in Tugendhats Denken. Seit dem Scheitern seines frühen, rein sprachanalytischen Versuchs zur Ethik versuche Tugendhat ein teils kontraktualistisches, teils gefühlstheoretisches Begründungsverständnis so zu kombinieren, dass es universalistischen Moralansprüchen gerecht werde. Zu seinem Rationalismus gehört eine ursprüngliche, aber in letzter Zeit nachlassende Orientierung an der Analyse moralischer Sätze mit der daran geknüpften Erwartung, aus metaethischen Überlegungen zur Form moralischer Sätze ließe sich verbindlicher etwas über Moral ausfindig machen als anhand sozialer oder individueller Verhaltensweisen. Zu seiner Ontologie gehöre eine anhaltende Auseinandersetzung mit dem naturalistischen Kontraktualismus, der Einbezug sozialer Sanktionen, moralischer Gefühle, moralischen Selbstbewusstseins, sozialer Achtung und Anerkennung sowie eine Abgrenzung von Kants Vernunfttheorie.

Eine Diskussion der Ethik von Ernst Tugendhat von verschiedenen Gesichtspunkten aus unternimmt der Band

Scarano, Nico/Suárez, Mauricio: Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen. 335 S., kt. € 24.90,, € 2006.—, C.H. Beck, München

wobei die Erwiderungen von Tugendhat stammen.

Tugendhats bislang letzter Ansatz

Die meisten von uns können nicht sagen, worauf ihre moralischen Überzeugungen beruhen. Tugendhat sieht dies in seinem Essay „Das Problem einer autonomen Moral“, seiner neuesten, in diesem Band veröffentlichten Publikation zum Thema, als Ursache einer moralischen Desorientierung. Diese gründet darin, dass die Moral früher, in unserer wie in anderen Kulturen, stets religiös oder durch die Tradition begründet war. Eine solche Moral kann heute nicht mehr überzeugen. Auf der anderen Seite hat man sich nicht auf eine autonome Moralbegründung geeinigt. Das heutige Moralbewusstsein bewegt sich zwischen einer religiösen und einer aufgeklärten Moralvorstellung. Tugendhat geht noch einen Schritt weiter: Wir sind uns heute nicht nur darüber im unklaren, wie man eine aufgeklärte Moral verstehen muss, sondern auch darüber, was unter Moral im allgemeinen zu verstehen ist.

Viele Philosophen glauben, die Moralphilosophie habe als Kriterium für die Richtigkeit ihrer Aussagen das faktische moralische Bewusstsein. Sie sehen eine Moraltheorie dann als richtig an, wenn sie sich mit den Tatsachen des faktischen moralischen Bewusstseins in Übereinstimmung befindet. Aber – so entgegnet Tugendhat – das faktische moralische Bewusstsein von heute sei eben das Bewusstsein, das in einem Gemisch von religiösen und autonomen Vorstellungen bestehe. Und dieses sei nicht genetisch vorgegeben, genetisch vorgegeben sei dagegen die Fähigkeit, moralische Normen lernen und wechselseitig nach ihrer Begründung fragen zu können. Deshalb haben wir uns an keiner vorgegebenen Moral zu orientieren. Aber wenn wir einen Begriff von autonomer Begründung hätten, dann wäre eine Moral auto¬nom dann, wenn sie autonom begründet wäre. Gesucht ist also ein Begriff von moralischer Autonomie, bei dem man sagen kann: Das Moralische ist etwas, das ich selbst will.

Was eine Moral zu einer Moral macht, ist der Begriff des moralischen Verpflichtetseins. Ein Verstoß gegen dieses Verpflichtetsein führt zu Empörung bei anderen und Schuldgefühl bei sich selbst. Dieses System konstituiert, was man die spezifische Sanktion bei der Verletzung der moralischen Normen nennen kann. Ohne diese Sanktionen kann man Tugendhat zufolge nicht verstehen, was unter moralischem Verpflichtetsein zu verstehen ist. Das Gewissen hat sich in einem Zusammenspiel intersubjektiver Wertungen und Forderungen internalisiert: Man fürchtet nicht nur die faktische Geringschätzung, sondern auch die mögliche Geringschätzung, und man möchte sich nicht selbst als verachtenswert ansehen müssen. Damit haben wir ein brauchbares Kriterium dafür, wie wir die moralischen Überzeugungen einer Person von ihren anderen Wertüberzeugungen unterscheiden können. Das Kriterium ist, ob sie, wenn nicht entsprechend gehandelt wird, mit den moralischen Gefühlen reagiert.

Julian NidaRümelins Einwände

Julian NidaRümelin entgegnet Tugendhat, weder befänden wir uns in einer Phase moralischer Desorientierung, bzw. einer moralischen Krise. noch gebe es ein spezifisches Problem der Begründung aufgeklärter Moral. Die Tatsache, dass die meisten zwar bestimmte moralische Überzeugungen haben, aber oft nicht sagen können, worauf diese beruhen, sollte uns nicht weiter beunruhigen. Die meisten, vielleicht alle Menschen in so gut wie allen uns bekannten Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart waren und sind davon überzeugt, dass man seine Versprechen halten, dass man gegenüber Wohltätern dankbar sein und dass man nicht mutwillig ohne Grund einen Menschen beschädigen sollte. Diese normativen Überzeugungen entsprachen und entsprechen einem komplexen Institutionengefüge, das die jeweilige Praxis der Interaktion bestimmt. Für NidaRümelin sind es weder externe noch interne Sanktionen, die eine solche Regel begründen. Es ist vielmehr die Fähigkeit, abweichendes von konformen Verhalten kohärent, d.h. in hinreichend übereinstimmender Weise zu unterscheiden und zwar durch die Personen, die für die Institution ausschlaggebend sind. NidaRümelin glaubt nicht an
eine Erfindung der Moral durch die Religion, weder im historischen noch im normativen Sinn. Auch beruht die Idee der Begründung der Moral aus einem Prinzip aus seiner Sicht auf einem philosophischen Irrtum, der in der philosophischen Ethik mit erstaunlicher Hartnäckigkeit fortwirke. Eine moderne aufgeklärte Ethik bedarf eines solchen Fundaments, dass das verloren gegangene Glaubensfundament ersetzt, nicht.

Tugendhat stellt eine enge Verbindung zwischen ethischer Begründung einerseits und moralischer Motivation andererseits her und zwar über den Begriff des individuellen Interesses. Eine Person ist motiviert, einer Norm zu folgen, wenn es in ihrem eigenen Interesse liegt, dass diese Norm gilt. Dieses Konzept entspricht dem, was man „Kontraktualismus“ nennt. Tugendhat wurde später klar, dass dieses Konzept nicht aufgeht, und das war einer der Gründe, warum er in den Drei Vorlesungen davon abrückte. Im Dialog in Leticia kehrt er jedoch zu diesem Ausgangspunkt zurück, um ihn so zu modifizieren, dass unter Einbeziehung moralischer Gefühle eine „moderne“ Moralbegründung möglich wird. NidaRümelin hält eine derartige EthikKonzeption für im doppelten Sinne rationalistisch: erkenntnistheoretisch in der Ableitung aller moralischen Normen aus einem als evident angenommenen Prinzip und inhaltlich, insofern die Begründung in letzter Instanz auf das Eigeninteresse rationaler Individuen rekurriert. Der moralisch angemessene Umgang mit Tieren, aber auch mit denjenigen, die nicht kooperationsfähig sind, weil sie zu jung, zu alt oder schwachsinnig sind, muss in einem solchen Verständnis von Ethikbegründungen ausgeklammert bleiben. NidaRümelin hält den Ansatz für einen Irrweg: Die Frage, ob ich eine Norm begründen kann, ist eine ganz andere als die, ob es in meinem eigenen Inter¬esse ist, dieser Norm zu folgen.

Für NidaRümelin ist eine Norm schon dann, aber nicht nur dann begründet, wenn sie niemandem schadet, aber einigen nützt. Eine vernünftige Person akzeptiert das Kriterium der ParetoInklusivität: Wann immer sich eine Besserstellung einiger erreichen lässt, ohne dass andere schlechter gestellt werden, sollte dies realisiert werden. Wenn einzelne Normen dazu beitragen, dann sind diese Normen begründet. ParetoInklusivität ist für ihn eine Minimalbedingung rationaler ethischer Urteile. Gerechtigkeit verlangt aber mehr als ParetoInklusivität, die ihrerseits lediglich Neidfreiheit voraussetzt. Für NidaRümelin gehört es zu den minimalen Rationalitätsstandards moralischer Urteilsbildung, dass die eigene Interessenlage keine konstitutive Rolle dafür spielt, was einer Person als gerecht oder ungerecht gilt. So kann jemand, der leistungslos zu Vermögen kommt, etwa durch Erbschaft, durchaus zu der Auffassung gelangen, dass dies ungerecht ist. Der zentrale Irrtum nicht nur der Konzeption von Tugendhat, sondern aller kontraktualistischen Theorien, liegt darin, diese Fähigkeit, einen unparteiischen moralischen Standpunkt einnehmen zu können, nicht zu sehen.

Ursula Wolf: Ein Herz für Tiere

Im Gegensatz zu NidaRümelin ist die TugendhatSchülerin Ursula Wolf der Ansicht, Tugendhat komme in seiner neuesten Konzeption den Tieren weit entgegen, da er zwei Quellen einer autonomen Moral annehme: das Eigeninteresse und einen gefühlsmäßigen Altruismus, das natürliche Mitleid.

Indem das Mitleid moralisch gutes Handeln fördert, daher zur moralischen Tugend avanciert und so verallgemeinert wird, gerät ein Element in Tugendhats kontraktualistische Moral, das sie in seiner inhaltlichen Reichweite weit überschreitet. Denn während die kontraktualistische Moral auf den Kreis derer beschränkt ist, die sich wechselseitig auf Normen verpflichten können, erstreckt sich die generalisierende Einstellung des Mitleids auf alle leidensfähigen Wesen, also auch auf Tiere. In den Vorlesungen zur Ethik (1993) hatte Tugendhat den auf Tiere ausgreifenden Altruismus noch aus der Moral ausgegliedert (und war darob von seiner Schülerin getadelt worden). Denn für Ursula Wolf ist es unzweifelhaft, dass die Beziehung des Menschen zu individuellen Tieren eine Vielfalt von moralischen Relationen hat – nicht nur wegen deren Leidensfähigkeit, sondern auch, weil es zwischen Menschen und Tieren Formen der Kommunikation, Interaktion und Kooperation gibt. Zu dieser Vielfalt von Relationen gehört das Prinzip, kein Leiden zuzufügen und im Notfall zu helfen; die Fürsorgepflicht gegenüber abhängigen Wesen; die Erfüllung von Vertragspflichten; die Erfüllung von Erwartungen, die aus gemeinsamem Leben und Handeln entstehen: also Relationen, die auch in den Beziehungen zwischen Menschen Geltung haben. Einen einheitlichen Gesichtspunkt für die diversen moralischen Themen sieht Wolf nicht in einem einheitlichen Handlungsprinzip, sondern allenfalls in der allen betroffenen Wesen gemeinsamen Eigenschaft der Leidens oder Empfindungsfähigkeit. Für Wolf lässt sich ohne Verweis auf das Mitleid (neben anderen moralischen Quellen) nicht deutlich machen, wie moralisches Handeln überhaupt möglich ist.

Nico Scarano sieht eine gewisse Zirkularität

Nico Scarano sieht das moralische Gefühl der Empörung als systematischen Ausgangspunkt von Tugendhats formalem Begriff der Moral. Von hier aus werden dann schrittweise die anderen Aspekte verständlich gemacht: zunächst das Schuldgefühl als eine Art internalisierte Empörung, dann die moralischen Normen als gesellschaftliche Regeln, die sich durch ihre besonderen Sanktionsformen auszeichnen, daraufhin die moralischen Überzeugungen als deren subjektive Entsprechungen auf Seiten der moralischen Akteure und schließlich der spezifische Begründungsbegriff. Aus dem damit umrissenen formalen Moralbegriff ergeben sich allerdings noch keine Folgerungen für die spezifischen Inhalte der Moral. Für Scarano hängt das gesamte Begriffsnetz zur Beschreibung der Moral vom Ausgangspunkt ab: dem Gefühl der Empörung. Tugendhat rekurriert immer wieder auf dieses Gefühl – worin nach Scarano eine gewisse Zirkularität besteht. Die Forderung nach Sanktionen widerspricht der pädagogischen Einsicht, nicht bei jeder moralischen Verfehlung Sanktionen anzudrohen und eine gewisse Toleranz zu lehren – eine Haltung, die in einer tiefgreifend pluralistischen Gesellschaft unverzichtbar ist. Scarano plädiert für eine Zusatzbedingung zu Tugendhats Konzeption: Jedes Gesellschaftsmitglied sollte nicht nur einen Grund haben, eine bestimmte Norm zu befolgen, der Grund sollte vielmehr so stark sein, dass ihm im Konfliktfall der Vorrang gegenüber den Eigeninteressen zukommt.