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FORSCHUNG

Geschichtsphilosophie: Die Entstehung der spekulativen Geschichtsphilosophie

GESCHICHTSPHILOSOPHIE

Die Entstehung der spekulativuniversalistischen Geschichtsphilosophie

Das Aufkommen des Nachdenkens über Geschichte im 18. Jahrhundert

Das Nachdenken über Geschichte war lange Zeit kein Bestandteil universitären Philosophierens. Der Geschichtsphilosophie fehlte deshalb zunächst eine ihr eigene, spezifische Form. Gehör verschaffte sie sich anfangs an den Rändern, in methodischen Einleitungen und in kritischen Fußnoten historischer Werke.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann sich die Frage nach dem Woher und Wohin steigender Beliebtheit zu erfreuen. Deren Repräsentanten waren in Deutschland aber nicht Philosophen von Profession, sondern Verwaltungsbeamte (Isaak Iselin), Theologien (Johann Gottfried Herder) oder allenfalls Dichter (Gotthold Ephraim Lessing) und Geschichtsprofessoren (Friedrich Schiller). Außerhalb der Universitäten entstand eine philosophische Publizistik, die unter dem später abschätzig klingenden Namen „Popularphilosophie“ gerade auch geschichtliche Kontingenz zum Gegenstand philosophischer Reflexion erhob. Erst jetzt setzte eine zögerliche Integration in die akademisch institutionalisierte Philosophie ein. Aber noch Immanuel Kants schreibt Beiträge zur geschichtsphilosophischen Debatte nicht als systematische Gesamtdarstellungen, sondern als Essays und Zeitschriftenaufsätze – eine vorsichtige Zurückhaltung ist hier greifbar. Denn noch der Wittenberger Philosophieprofessor Johann Jacob Ebert (17371805) schloss in seinem weitverbreiteten philosophischen Lehrbuch mit größter Selbstverständlichkeit das Geschichtliche als das menschlich Kontingente aus dem Bereich der Philosophie aus.

Der in Greifswald und Freiburg lehrende Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer hat in seiner Habilitationsschrift

Sommer, Andreas Urs: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuni¬versalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, 584 S., Ln. € 57.50, 2006, Schwabe Philosophica VIII, Schwabe, Basel

die Vorgeschichte und Entstehung der spekulativuniversalistischen Geschichtsphilosophie hinsichtlich Personen und Topoi eingehend untersucht.

In Frankreich sind es vornehmlich die als „philosophes“ firmierenden hommes de lett¬res, in Schottland dagegen universitär bestallte Historiker, die geschichtsphilosophische Impulse geben, bei letzteren häufig in Geschichtsbüchern oder in Abhandlungen anthropologischen Inhalts versteckt.

Erst mit der Romantik und dem Deutschen Idealismus wird Geschichtsphilosophie zum Hauptgegenstand umfangreicher eigenständiger akademischphilosophischer Werke. Dabei ist jedoch, wie Sommer ausführt, der Kollektivsingular „Geschichtsphilosophie“ problematisch, da wir es mit Reflexionen von unterschiedlichem Ausführungsgrad zu tun haben.

Geschichtstheologie versus Geschichtsphilosophie

Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie sind trotzt ihrer Verwandtschaft nicht vergleichbare Größen. Geschichtstheologie als Substanz und Strukturprinzip der Offenbarungsreligion der Offenbarungsreligionen ist im christlichen Abendland eine fundamentale Denkvoraussetzung nicht nur für den Glauben, sondern für die Selbstpositionierung des Menschen überhaupt. Geschichtsphilosophie als ein konfessionell entpflichtetes Nachdenken über das Woher und Wohin der Geschichte wird demgegenüber erst in einem Augenblick möglich, wo die selbstverständliche Denkvoraussetzung der Geschichtstheologie ihre Integrationskraft einzubüßen begann – ein Prozess, der mit der gegenseitigen Neutralisierung konkurrierender Ausgestaltungen von konfessionell orientierten Geschichtstheologien und der Entdeckung von geschichtstheologisch nicht integrierbaren geschichtlichen Welten eingesetzt hat. Erst da, wo Geschichtstheologie als Denkvoraussetzung problematisch wird, kann sich eine von Offenbarungsvorgaben abgelöste Frage nach dem Sinn der Geschichte artikulieren; erst da wird Geschichtsphilosophie möglich.

Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts gibt es für die Geschichtstheologie um Besitzstandwahrung, um die Verteidigung einer vormals selbstverständlichen Deutungshoheit der Theologie über den Gesamtablauf der Geschichte. Die konfessionellen Konflikte des 16./17. Jahrhunderts, das Auftreten kontradiktorischer Deutungsmodelle der Kirchengeschichte und der Vormarsch der historischen Kritik hatten zu einer Erosion der heilsgeschichtlichen Gewissheit geführt. Die Geschichtstheologie antwortete mit einer moderaten Adaption der neuen philologischhistorischen Methoden.

Pierre Bayle (16471706)

Es wird erzählt, nach dem Tod von Louis XIV. hätten sich vor der Pariser Bibliothèque Mazarine regelrecht Schlangen von Wissbegierigen gebildet, um das bis dahin verbotene Dictionnaire historique et critique (1696/97) konsultieren zu dürfen. Dieses drei oder vier Foliante starke Lexikon erlebte danach einen regelrechten Siegeszug in Frankreich. In 500 untersuchten Privatbibliotheken des späten 18. Jahrhunderts war es 288 Mal vorhanden, weitaus häufiger als jedes andere zeitgenössische Buch. Dieses von Pierre Bayle konzipierte Lexikon machte das bislang in Sachen geistiger Innovativität unverdächtige Genre Lexikon zum Schauplatz tiefschürfender philosophischer und theologischer Debatten. Im Dictionnaire werden die kurzen Haupttexte der Artikel zwar als abgesicherte Wissensbestände präsentiert, in den meist viel umfangreicheren Anmerkungen hingegen prallen die Gegensätze der Quellen unvermittelt aufeinander. Die Entscheidung, die jedes Lexikon dem Leser abnimmt, nämlich darüber zu belehren, war richtig und was falsch ist,  stellt Bayle oft diesem selbst anheim. Damit unterwandert das Werk die gängigen Ordnungskriterien bei gleichzeitiger Anwendung strenger historiographischer Maßstäbe, die die Zuverlässigkeit historischen Wissens neu zu begründen sich anschicken.

Bayle erschüttert auf diese Weise die barocke Organisation des Wissens, was im gei¬stigen Leben des 18. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlässt. Das koordinierte, aber nicht mehr unter Allgemeinbegriffen subordinierte Wissen bietet keine Sicherheiten religiöser oder metaphysischer Art mehr. Auch verflüchtigen sich die lebensorientierenden IdentifikationsAngebote der traditionellen exemplaHistorie – Bayle will die moralischreligiöse Überlastung geschichtlicher Faktenbestände zugunsten der Eigenwertigkeit des historisch Faktischen aushebeln. Die historischen Wahrheiten, die wir bei Bayle finden, transportieren keine moralischen, reli¬giösen oder metaphysischen Gewissheiten mehr. Naturerscheinungen werden aus der Geschichte ebenso ausgeklammert wie Wunder. Geschichte wird ganz zur Angelegenheit von Menschen. Dieser erscheint als Spielball seiner Leidenschaften, der sein Handeln vernünftigen Prinzipien nicht unterzuordnen vermag. Und tröstliche Aussichten auf einen künftigen gesamtgeschichtlichen Zustand fehlen. Bei Bayle kann und soll die Philosophie Geschichte nicht so arrangieren, dass dabei ein Sinnganzes entsteht.

Für die profanwissenschaftliche und philosophische Reflexion über Geschichte galten fortan die von Bayle gesetzten kritischmethodischen Standards als unhintergehbar.
Henry St. John, Viscount of Bolingbroke (16781751)

In seinen Letters on the Study and Use of History erörtert Bolingbroke, wie die Sachverwalter der Religion Geschichte für ihre Zwecke instrumentalisieren. Er evaluiert die Möglichkeiten, historische Erkenntnis zur individuellen Charakterbildung einzusetzen. Gleichzeitig verfährt er mit dem historischen Material ausgesprochen kritisch, indem er es strengen Glaubwürdigkeitskriterien unterwirft. Zudem verzichtet er auf universalgeschichtliche Großentwürfe. Das Historikergeschäft wird bei ihm zur autoritativen Gerichtsinstanz in moralischen Dingen aufgewertet: erst mit der Drohung im Nacken, die Geschichte werde mein Fehlverhalten unnachsichtig verurteilen, werde ich mich um ein sittlich einwandfreies Handeln bemühen. Mit der exemplaHistorie teilt er die prinzipielle Theoriefeindlichkeit, die sich mit einer von Lockes Empirismus inspirierten Abwehr metaphysischer Systeme paart.

Giambattista Vico (16681744)

Vico wird gerne als Gründungsvater moderner Geschichtsphilosophie gesehen. Indessen verkennt man dabei leicht, dass die Wissenschaft, die Vico neu begründen wollte, eher als eine umfassende Theorie menschlicher Kultur gedacht war denn als Begründung einer philosophischen Teildisziplin. Zu Lebzeiten war der neapolitanische Rhetorikprofessor verkannt´, und die verspätete Wahrnehmung seiner denkerischen Leistung verhinderte ein Einwirken auf die aufklärerische Geschichtsphilosophie. Selbst die gelegentliche Nennung Vicos am Ende des Jahrhunderts, bei Hamann, Herder und Goethe dokumentiert keinen nennenswerten Niederschlag in der deutschen Geistesgeschichte.

Bei Vico ist es keine lebenspraktische Nützlichkeit, die wie bei den Humanisten und noch bei Bolingbroke die Beschäftigung mit Kultur und Geschichte rechtfertigt, sondern die Entdeckung, dass dies die Sphären sind, in denen der Mensch beheimatet ist. Vico fügt die geschichtliche Mannigfaltigkeit a priori in ein Ordnungsschema ein, das ihm eine Beurteilung der einzelnen geschichtlichen Gegenstände von einem metahistorischen Standpunkt aus erlaubt. Damit kann er jene Rückversicherung liefern, die die zeitgenössischen Naturwissenschaften auf ihrem Erkenntnisfeld, der nichtmenschlichen Natur, ebenfalls zogen, Ordnung. Für Vico ist die Geschichte kein Gewirr wissenschaftsunfähiger Episoden, sondern eine intelligible, geordnete, von Mensch und Vorsehung gemeinsam gestaltete Welt. Er schlägt im Rückgriff auf ewige, nicht historisierbare Wesenheiten wie Providenz und Geschichtsverlaufsstrukturen eine wissenschaftlichphilosophische Ordnung der geschichtlichen Welt vor, die das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgebrochene historische Bewusstsein philosophisch zu beruhigen versucht.

Die Geologie als beunruhigende Instanz

Es war die sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts als Wissenschaft konstituierende Geologie, die den Glauben an die Verlässlichkeit des Alten Testamentes auf die Probe stellte. Die Geologie eröffnete Aussichten in zeitliche Tiefendimensionen, die mit dem literal verstandenen Schöpfungsbericht ebenso wenig zu vereinbaren waren wie mit der gängigen Beschränkung des Weltalters auf knapp 6000 oder 7000 Jahre. Allerdings: Wenn man sich schon auf die Reise in unbekannte und ungesicherte Gefilde begibt, dann will man auf eine Letztabsicherung nicht verzichten. In Kants Allgemeiner Naturgeschichte gewährt die Idee einer gottgewirkten Ordnung eine solche Absicherung.

GeorgesLouis Leclerc, Comte de Buffon (17071788) schlägt, um eine Kollision der Erdgeschichte mit den hergebrachten religiösen Überzeugungen zu vermeiden, eine aufklärerische Interpretation des Schöpfungsberichtes vor : Er sieht darin eine dichterische Umschreibung der naturgeschichtlichen Wahrheiten. Für Georg Christoph Lichtenberg (17421799) ist es gerade die Tatsache, dass wir über den Weltenplan und das Wirken einer allfälligen Vorhersehung nicht hinreichend unterrichtet sind, aus der wir die Motivation zu tugendhaften Tun zu schöpfen haben. Er setzt dabei als selbstverständlich voraus, dass das irdische Geschehen insgesamt einer höheren „Leitung“ unterworfen ist, in die dem Menschen aber die Einsicht verwehrt bleibt. Und für Anne Robert Jacquet Turgot (17271781) hat Gott sich der von ihm gestifteten christlichen Religion bedient, um das Glück aller Menschen zu erwirken. Konnte aber Leibniz noch vertrauen, mittels Ontologie und natürlicher Theologie die Vollkommenheit der Schöpfung aufzuweisen, muss Turgot auf das konkrete geschichtliche Handeln Gottes rekurrieren, um nicht bloß die allmähliche und sich geschichtlich vollziehende Vervollkommnung der Schöpfung herauszustellen, sondern überdies auch noch die positive Offenbarung vor deistischen Angriffen in Deckung zu bringen. Allerdings ist der geschichtliche Fortschritt, von dem Turgot kündet, nicht mehr wie seit Bacon wissenschaftlicher, sondern moralischer Natur. Damit befriedigt er ein Zeitbedürfnis: Er antwortet auf die moralisch orientierte und historisch fundierte Kritik am Christentum eines Voltaires, und er nimmt Montesquieus Beobachtung auf, das Christentum übe einen positiven Einfluss auf die weltliche Moral und gemäßigte antidespotische Regierungsformen aus.

Isaak Iselin (17281782)

1764 erschien das Buch Philosophische Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit des Basler Ratschreibers Isaak Iselin, das diesem Ruhm als Aufklärer brachte. Mit der Erquickung „menschenfreundlicher Seelen“ durch den Ausblick in eine bessere Zukunft brachte es ihm aber zugleich den Ruf des naiven Fortschrittsgläubigen ein. Es handelt sich dabei um den eigentlichen pastoralen Topos der sich hier etablierenden spekulativuniversalistischen Geschichtsphilosophie. Iselins Buch beschränkt sich dabei darauf, den Wegen nachzugehen, die die Vervollkommnung bisher genommen hat. Er möchte dies gleichwohl als Aufforderung verstanden wissen, an jenem Fortschritt, den er in der Geschichte meint ausmachen zu müssen, tatkräftig mitzuarbeiten. Damit einher geht die Entdeckung der Kultur und Sozialgeschichte, die eine Abwertung der bis dahin historisch hauptsächlich behandelten Staatsaktionen, Schlachten und Fürstengenealogien impliziert. Die Geschichtsphilosophie, die er entwirft, dehnt ihre Kompetenz auf das Wissen all des Möglichen aus und verleibt die im Geruche bloßer Kontingenz stehende Geschichte der praktisch orientierten, philosophischen Reflexion ein. Sein ehrgeiziges Projekt zielt auf eine Synthese von Philosophie und Geschichte und bedeutet eine Abkehr vom rationalistischen Konstruktivismus der Wolffischen Schule und eine entschiedene Öffnung hin zur Empirie. In der Gestalt von Geschichtsphilosophie beginnt die Philosophie bei Iselin über das Kontingente selbst nachzudenken, nicht nur über die möglichen Dinge, insofern sie möglich sind. Geschichtsphilosophie wird damit zuständig, im sinnlos Scheinenden Sinn zu stiften.

Iselins Programm ist ein Vicos Bemühungen verwandter Versuch, die Schulphilosophie in Tuchfühlung mit der realen Welt zu bringen, die als eine geschichtliche Welt verstanden wird, und gleichzeitig das Reich der Geschichte philosophiefähig zu machen.