STICHWORT
Dagmar Borchers : | |
Über ein ethisches Problem aus dem Kontext der Neurowissenschaften Erfolgreich und glücklich mit Pillen? Ein Problem der Neuroethik Akademiker stehen, wie viele andere Berufsgruppen auch, unter einem enormen Erfolgsdruck – Leistungsdruck, Stress, Hektik. Da liegt es nahe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und aufkommende Panikgefühle mit einschlägigen Medikamenten zu bekämpfen. „Viele Studenten haben gesundheitliche Probleme“, vermeldet SPIEGELOnline vom 2. Januar 2008, „das ergab eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK) unter rund 130.000 Studenten im Alter von 20 bis 34 Jahren. Mehr als ein Drittel gab an, sich nur schwer konzentrieren zu können, unter Nervosität, Kreuz, Rücken, Nacken oder Schulterschmerzen zu leiden. Mehr als ein Viertel hat Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen. 16 Prozent sagten, dass sie innerhalb des vergangenen Jahres depressive Verstimmungen hatten. Fast 10 Prozent der Medikamente, die den Studenten verschrieben wurden, waren der Untersuchung zufolge Psychopharmaka.“ Während es noch einleuchten mag, diese Medikamente gegen die oben genannten Störungen und Schmerzen einzunehmen, halten es nur wenige Menschen für vollkommen unproblematisch, wenn die gleichen Medikamente genutzt werden, um Prüfungsvorbereitungen dadurch zu erleichtern, dass man sein Schlafbedürfnis reduziert oder seine Aufmerksamkeit und Konzentration oder seine Merkfähigkeit steigert oder um die Prüfungsergebnisse zu verbessern, indem man seinen Stimmungspegel positiv beeinflusst. Aber genau das geschieht offensichtlich in erheblichem Umfang: Untersuchungen haben gezeigt, dass immer mehr Menschen, speziell Schüler und Jugendliche in den USA, Psychopharmaka wie Prozac oder Ritalin nicht im Kontext einer medizinischen Behandlung oder Therapie einnehmen, sondern um sich kognitiv oder emotional in Top Form zu bringen. Das Süddeutsche Magazin weiß zu berichten: „Die Pharmaindustrie hat sich diese Sicht längst zu Eigen gemacht und drückt mit aller Macht LifestyleMedikamente auf den Markt, die eher Lebensgewohnheiten als Krankheiten beeinflussen. Natürlich ist auch gute Laune auf Rezept zu haben. Mehr als 20 Milliarden USDollar geben die Konzerne jährlich für die Entwicklung von ‚MindDopingPräparaten’ aus, die den Hormonhaushalt feinjustieren sollen. Viele Medikamente werden längst außerhalb ihres Indikationsbereiches verschrieben. Mittel, die ursprünglich zur Behandlung von Alzheimer oder Alterdemenz entwickelt wurden, verbessern nun auch das Gedächtnis von Gesunden. Und Medikamente zur Linderung schwerer Depressionen verwandeln normaltemperierte Gemüter in ultraselbstbewusste Egobooster. Der amerikanische Pharmariese Eli Lilly schickte im vergangenen Jahr Gratispröbchen des Antidepressivums Prozac an private Haushalte. Warum nicht einfach mal ausprobieren, „wie schön sich das anfühlt, wenn die Neuronen im Gehirn daran gehindert werden, das so genannte Glückshormon Serotonin wieder abzubauen?“ Ja, warum eigentlich nicht? Der Fortschritt in den Neurowissenschaften in Hinblick auf vertiefte, detaillierte Erkenntnisse über die Funktion des Gehirns, insbesondere der Beteiligung spezieller Areale bei der Lösung bestimmter Aufgaben hat dazu geführt, dass neurologische und psychische Krankheiten heute schneller und präziser diagnostiziert und mit Hilfe verbesserter bzw. neuartiger Medikamente besser therapiert und behandelt werden können. Die Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten gehört ohne Zweifel zu den positiven und begrüßenswerten Errungenschaften der zeitgenössischen neurowissenschaftlichen Forschung. Tatsache ist allerdings, dass hier, wie auch in anderen Fällen, die zur medizinischen Behandlung bzw. Therapie entwickelten Psychopharmaka wie z. B. Ritalin oder Prozac auch eingenommen werden, um kognitive Fähigkeiten wie etwa die Konzentration oder die Gedächtnisleistungen zu steigern oder die persönliche Stimmungslage zu verbessern. Da diese Verwendungsweisen außerhalb der von den Produzenten ursprünglich beabsichtigten medizinischen Verwendung stattfinden, bezeichnet man diesen Gebrauch auch als „offlabelEinsatz“. Dabei geht es eben nicht um die Behandlung gesundheitlicher Defizite, sondern um die Verbesserung jener kognitiven Fähigkeiten und emotionalen Zustände, die man durch gezielte medikamentöse Einwirkung auf bestimmte Areale des menschlichen Gehirns steuern kann, über das normale Maß hinaus – und genau das bezeichnet man als „Neuroenhancement“. Neuroenhancement ist dabei eine spezielle Variante all derjenigen Maßnahmen, die auf eine Ausweitung oder Steigerung menschlicher Fähigkeiten zielen, zu denen u. a. auch Schönheitsoperationen oder das Doping im Sport gehören und die man allgemein als „Enhancement“ bezeichnet. „Enhancement“, „usually used in bioethics to characterize interventions designed to improve human form or functioning beyond what is necessary to sustain or restore good health“, ist trotz dieser recht einleuchtenden Kurzcharakterisierung von Eric T. Juengst kein unumstrittener und klar definierter Begriff. Im Gegenteil: Um seine adäquate Explikation hat sich innerhalb der Bioethik eine breite Diskussion entwickelt. Die Frage, welche Maßnahmen als Neuroenhancement zu bezeichnen sind und wie man sie ethisch zu beurteilen hat, ist heute eine Frage der Neuroethik als neu etablierter Teilbereich der Angewandten Ethik, die sich mit den Methoden und Resultaten der prosperierenden Neurowissenschaften auseinandersetzt. Die ethische Diskussion um das Neuroenhancement: Fragen & Methoden Bei der ethischen Diskussion um das Neuroenhancement ist zwischen Fragen, die das Enhancement allgemein und jenen Überlegungen, die ausschließlich das Neuroenhancement als Spezialfall betreffen, zu unterscheiden. In der das Enhancement generell betreffenden Diskussion, die auch für das Neuroenhancement einschlägig ist, geht es um all jene Ansätze, die versuchen, Enhancement gegenüber Behandlungen in dem Sinne abzugrenzen, dass ersteres medizinisch nicht notwendig ist, letztere hingegen aus einer medizinischen Perspektive gerechtfertigt werden können. Die Idee ist dabei, Enhancement als dasjenige zu charakterisieren, was außerhalb der angemessenen Grenzen der Medizin liegt. Diese Kontroverse dreht sich mithin auch um die Grenzen der medizinisch notwendigen Behandlung. Als medizinisch notwendig soll all das gelten, was unter die Rubrik „Behandlung“ fällt; als nicht medizinisch notwendig all jene Eingriffe, die als „Enhancement“ bezeichnet werden. Der Terminus „Enhancement“ hat hier eine abgrenzende Funktion: Er markiert, zusammen mit seinem Gegenspieler, der „Behandlung“, die Grenzen medizinischer Zuständigkeit und damit den Bereich medizinischer Versorgung, auf den man möglicherweise einen Anspruch haben kann. Im Bemühen, Enhancement von medizinisch sinnvollen bzw. not¬wendigen Behandlungen abzugrenzen, sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, welches Kriterium diese saubere Unterscheidung leisten könne. Damit ist man auf die interessante, aber nicht unbedingt neue Frage verwiesen, wie man „Gesundheit“ definiert und was in Hinblick auf die körperlichen und mentalen Merkmale des Menschen als „normal“ zu gelten hat. Ein Beispiel für einen Lösungsvorschlag ist der von James Sabin und Norman Daniels entwickelte Maßstab, den sie als „species typicalfunctioning“ bezeichnen. Er beschreibt „the natural functional organization of a typical member of the species“ und definiert eine Art Standard in Hinblick auf menschliche Funktionen. Als „Enhancement“ bzw. „Neuroenhancement“ sind dann jene Interventionen definiert, die die körperlichen und mentalen Fähigkeiten des Menschen über das normale Maß hinaus erweitern. Natürlich ist auch dieser philosophisch, medizinisch und wissenschaftstheoretisch avancierte Ansatz nicht ohne Schwierigkeiten – begrifflichen in Hinblick auf seine Trennschärfe und ethischen in Hinblick auf seine Konsequenzen. Die begriffliche Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Neuroenhancement liegt nun darin, dass es insbesondere für psychosoziale Fertigkeiten und Qualitäten schwer ist, einen allgemein akzeptierten, speziestypischen Durchschnitt auszumachen – hier zeigt die Geschichte der menschlichen kulturellen Entwicklung, dass nicht ausschließlich die biologischen Grundlagen diesen Durchschnitt definieren, sondern via Kultur stets eine Ausweitung bspw. unserer moralischen Anteilnahme versucht wurde. Es mag sein, dass die Biologie Obergrenzen angeben kann, aber nicht unbedingt einen Durchschnitt. Das bedeutet, dass ausgerechnet für den Bereich, in dem Neuroenhancement eine wichtige Rolle spielt, nämlich dem der psychosozialen Fähigkeiten (etwa zur Überwindung von Schüchternheit oder sozialen Schwierigkeiten anderer Art) der „speciestypicalfunctioning“Standard nicht greifen würde. Hinzu kommt das eher praktische Problem, dass, je nachdem wie man den Standard definiert, Menschen, die darüber liegen, per definitionem keine Berechtigung zum (Neuro)Enhancement hätten, all jene, die darunter liegen, aber automatisch einen Anspruch darauf anmelden könnten. Auch das könnte im Einzelfall ungerecht sein. Insgesamt kann man konstatieren, dass die Abgrenzungsdebatte bisher noch nicht zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt hat und sowohl die philosophische Klärung des Begriffs „Neuroenhancement“ als auch die ethische Reflektion über die verschiedenen Formen von Neuroenhancement weiterhin ansteht. Neuere Studien kritisieren diesen Ansatz entweder grundsätzlich oder im Detail und entwickeln alternative Definitionsvorschläge vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen „Behandlung“, ggf. „Vorsorge“ (oder „Prävention“ als dritter Kategorie) und „Enhancement“. Wie Eric Parens, Leon Kass sowie Talbot, Wolf und Schöne–Seifert überzeugend deutlich gemacht haben, ist es aber zu einfach, durch eine vermeintlich klare Trennung zwischen Therapie und Enhancement die ethische Frage beantworten zu wollen. Nicht jede Therapie ist moralisch unproblematisch und durch die Prinzipien des Wohltuns bzw. des Nichtschadens gedeckt. Ärztliche Behandlung kann gerade im Kontext der psychiatrischen Behandlung durchaus in problematischer Weise gegen das moralische Prinzip der Autonomie verstoßen. Talbot und Wolf machen zudem darauf aufmerksam, dass der Krankheitsbegriff zu unbestimmt sei, als dass an ihm eine Grenzziehung zwischen ethisch richtigem und falschem Handeln aufgehängt werden könnte. Stattdessen schlagen sie vor, über die Ziele des offlabelEinsatzes sowie über dessen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft zu diskutieren und anhand einer solchen Folgenabschätzung eine ethische Bewertung vorzunehmen. Eine Folgenabschätzung aus Sicht des Akteurs hat einerseits nach Risiken und Nebenwirkungen zu fragen, andererseits aber auch nach weiteren Auswirkungen auf das kurz und langfristige Wohlbefinden. Aus Sicht der Gesellschaft geht es neben Fragen der Fairness (Konkurrenzsituationen) und der Verteilungsgerechtigkeit (Allokation) auch darum zu klären, wie sich die Gesellschaft insgesamt verändern würde, wenn die ‚private’ Einnahme von Psychopharmaka allgemeine Praxis werden würde. Die zweite Debatte betrifft also die mit dem Enhancement im allgemeinen und dem Neuroenhancement im besonderen verbundenen „Träume von Perfektion und Glück“, wie es bei Leon Kass und William Safire heißt, und betrachtet die mit dem Neuroenhancement angestrebten Ziele sowie Neuroenhancement als Mittel. Neuroenhancement präsentiert sich vor diesem Hintergrund u. a. als eine Variante des alten Bestrebens, die menschliche Natur zu perfektionieren – die Frage ist, ob es sich dabei um eine ganz neue, von anderen Versuchen wie etwa dem Genuss von Alkohol oder Kaffee oder anderen bewusstseinserweiternden Drogen substanziell unterschiedene oder nur um eine noch besser wirkende Maßnahme zur Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten und des emotionalen Wohlbefindens handelt. Was ist eigentlich ethisch verwerflich bzw. problematisch am Neuroenhancement, wenn man anderen Menschen damit nicht schadet? Warum soll ausgerechnet mit diesen Maßnahmen eine problematische Grenze in Hinblick auf eine Verbesserung der menschlichen Natur erreicht sein? Auch hier sind grundsätzliche normative Fragen angesprochen, die Ethiker auch in anderen Zusammenhängen schon reflektiert haben: Handelt es sich beim Neuro¬enhancement um Hybris, um einen mangelnden Respekt gegenüber dem Gegebenen, der menschlichen Natur wie sie ist? Sind wir zu einem solchen Respekt verpflichtet? Und wenn ja, warum eigentlich? Vielen Menschen geht es allerdings nicht um Perfektion, sondern um persönliches Glück, wenn sie Psychopharmaka außerhalb einer Therapie konsumieren. Damit geraten u. a. die Motive der Akteure ins Zentrum des ethischen Interesses: Welche Interessen liegen dem Neuroenhancement zugrunde? Sind die dahinter stehenden Wünsche und Bedürfnisse frei von sozialen und gesellschaftlichen Zwängen? Handeln die Akteure selbstbestimmt? Und inwiefern lassen sich die unter dem Einfluss von Psychopharmaka erzielten Leistungen den Akteuren zurechnen? Welchen Einfluss haben sie auf die Persönlichkeit, die Identität als Person und die Authentizität ihrer Handlungen und Empfindungen? Insgesamt geht es dabei darum, zu eruieren, ob die Akteure im Sinne eines reflektionsstabilen, langfristigen Interesses gut beraten sind, Neuroenhancement zu betreiben. Es ist evident, dass die Antworten, die Moralphilosophen auf diese Fragen geben, je nach moraltheoretischem Hintergrund und individuellen Akzentsetzungen stark variieren und sich auch hier kein Konsens abzeichnet – außer dem, dass alle Diskussionsteilnehmer Exzesse (etwa Neuroenhancement als Weltflucht) ablehnen. Zwischen dem Neuroenhancement und anderen Varianten des Enhancements lassen sich vielerlei Vergleiche anstellen und diverse Querverbindungen ziehen. Die Methoden der ethischen Betrachtungen zu diesem Thema bestehen denn auch vornehmlich darin, Einzelfallbetrachtungen vorzunehmen, Vergleiche zwischen verschiedenen akzeptierten und bisher nicht akzeptierten Formen der Verbesserung menschlicher Fähigkeiten anzustellen, Differenzen und Differenzierungen herauszuarbeiten und Klassifikationen zu entwickeln. Auch Gedankenexperimente spielen eine wichtige Rolle – zum einen deswegen, weil sie uns ggf. helfen können, unsere Intuitionen zu klären, zum anderen aber auch deshalb, weil Überlegungen zum Neuroenhancement als gesellschaftliche Praxis trotz zunehmender Tendenz immer noch spekulativ sind und über die Wirkungsweise der einschlägigen Medikamente und den prinzipiellen Möglichkeiten ihres offlabelEinsatzes noch keine gesicherten Erkenntnisse bestehen. Fazit Die Diskussion um das Neuroenhancement nimmt innerhalb der Neuroethik einen prominenten Platz ein. Sie führt uns zu grundle genden Fragen, die die Bioethik auch an anderen Stellen beschäftigen, etwa nach der angemessenen Beschreibung der menschlichen Natur und der Frage, ob und in welchem Maße deren Perfektion bzw. Verbesserung ethisch problematisch sein könnte, nach der Unterscheidung zwischen künstlichen und natürlichen Mitteln und der Definition von Gesundheit und normalen menschlichen Funktionen. Die Diskussion führt uns auch zur Frage „Was macht eigentlich glücklich?“ zurück, die Moralphilosophen ebenfalls schon lange vertraut ist. Sie bringt aber auch neue Aspekte mit sich, z. B., was genau eigentlich ethisch problematisch an einem offensiven Vertrieb von Psychopharmaka für die Verbesserung unserer Fähigkeiten wäre, gegeben es gäbe keine schädlichen Nebenwirkungen. „Warum nicht das Fahrrad gegen das Auto tauschen?“ fragt Bettina SchöneSeifert und illustriert damit genau den entscheidenden Punkt. Es ist diese intellektuelle Gemengelage, die die Debatte um das Neuroenhancement so spannend macht. UNSERE AUTORIN: Dagmar Borchers ist Juniorprofessorin für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen. Literatur zum Thema (Auswahl): Ach, Johann/Pollmann, Arnd (Hrsg.) (2006): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse. 335 S., kt., € 27.90, 2006, Transcript Verlag, Bielefeld. Kass, Leon (Hrsg.): Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness. A Report of the President’s Council on Bioethics. 400 S., pbk., $ 10.95, 2003, New York: Dana Press, New York. Parens, Eric (Hrsg.): Enhancing Human Traits. Ethical And Social Implications; 251 S., $ 49.95, 1998, Georgetown U., Washington, D.C. SchöneSeifert, Bettina/Ach, Johann/Opolka, Uwe (Hrsg): Neuroenhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen. Ca. 256 S., kt., € 38., Frühjahr 2008, Mentis, Paderborn. |