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Arendt: Über das Böse | |
HANNAH ARENDT Über das Böse Im Jahr 1965 hielt Hannah Arendt an der New School for Social Research eine vierteilige Vorlesung „Some Questions of Moral Philosophy“ gehalten. Sie ist maschinenschriftlich ausgearbeitet und bildet einen Teil des Nachlasses. Jerome Kohn, der Verwalter des Hannah Arendt Bluecher Literary Trust, hat sie in dem Sammelband Hannah Arendt, Responsibility and Judgment als wichtigstes Teilstück aufgenommen, Ursula Ludz hat sie ins Deutsche übersetzt, Franziska Augstein hat ein Nachwort beigesteuert: Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. 200 S., Ln. € 19.90, 2006, kt. Serie Piper, 2007, € 9.—, Piper, München Hannah Arendt wollte mit dieser Vorlesung den amerikanischen Studenten etwas von den Problemen nahe bringen, die sie, die aus Europa vertriebene Jüdin und politische Theoretikerin der totalen Herrschaft, nach ihren Erfahrungen als Berichterstatterin beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem beschäftigten. Diese Erfahrung und die anschließende Debatte um ihr Buch Eichmann in Jerusalem hatten sie zutiefst erschüttert und verunsichert. Die Vorlesung diente also auch der Selbstverständigung. Sie wolle, so beginnt Arendt, den Schwerpunkt auf jene Fragen richten, die individuelles Betragen und Verhalten betreffen, auf die wenigen Regeln und Normen, aufgrund derer Menschen gewöhnlich Recht von Unrecht unterscheiden. Es sind dies die Regeln, die zu Hilfe gerufen werden, um Andere und sich selbst zu beurteilen oder zu rechtfertigen und die für jede normale Person entweder als Teil göttlichen oder natürlichen Gesetzes selbstverständlich gültig waren. Und zwar solange, bis all dies ohne große Vorwarnung über Nacht zusammenbrach. Wie unheimlich und wie erschreckend schien es plötzlich zu sein, dass ausgerechnet Begriffe wie Moral niemals etwas anderes gemeint haben sollten als Gebräuche und Gewohnheiten. Nietzsches Suche nach „neuen Werten“ war ein klares Zeichen für die Entwertung dessen, was seine Zeit „Werte“ und man früher richtiger „Tugenden“ nannte. Nietzsche bezeichnete sich als Moralist; die einzige Norm aber, die er anzubieten hatte, war das Leben selbst. Aber das Leben als höchstes Gut anzusetzen ist, was die Ethik angeht, fragwürdig. Nietzsche hat bestimmt nicht gewusst, dass durch menschliches Verhalten je die Existenz der Menschheit als ganzer aufs Spiel gesetzt werden könnte, und hinsichtlich dieses Grenzfalles könnte man in der Tat behaupten, dass das Leben, das Überleben der Welt und der menschlichen Spezies, das höchste Gut sei. Doch das würde nichts anderes bedeuten, als dass Ethik oder Moral einfach zu existieren aufhörten. Auch wenn es Nietzsche nicht wusste: Bei seinem Vorschlag handelt es sich nicht um die Proklamation „neuer Werte“, sondern um die Negation der Moral als solcher. Hannah Arendt sieht Nietzsches bleibende Größe darin, dass er zu zeigen wagte, wie schäbig und bedeutungslos Moral geworden war. Bei der moralischen Verurteilung der NaziVerbrechen wird übersehen, dass das, was moralisch wirklich zur Debatte steht, nicht das Verhalten der Nazis ist, sondern das derjenigen, die sich nur „gleichschalteten“ und nicht aus Überzeugung handelten. Es ist nicht schwer zu verstehen, wie jemand sich entscheiden mag, „ein Schurke zu werden“ (Shakespeare) – in jeder Gemeinschaft gibt es eine Reihe von Kriminellen, und was diese Menschen in der Hitlerzeit taten, war entsetzlich. Doch damit werden für Arendt noch keine ethischen Probleme aufgeworfen, sondern erst dort, wo die Moral auch bei den gewöhnlichen Leuten zerbrach, bei Leuten, die sich, solange moralische Normen gesellschaftlich anerkannt waren, niemals hätten träumen lassen, dass sie an dem, was sie zu glauben gelehrt worden waren, hätten zweifeln können. Und als sich Hitlers Niederlage abzeichnete, kehrte man ganz schnell zur Normalität zurück. Für Arendt bedeutete dies den totalen Zusammenbruch einer „moralischen“ Ordnung gleich zweimal hintereinander. Nach dem Krieg sah man eine Beteiligung am HitlerRegime nicht als Grund, jemanden von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Die Folge davon war die Unfähigkeit zivilisierter Gerichtsverfahren, die jüngste Vergangenheit juristisch in Begriffe zu fassen. Man argumentierte, die Mörder des NSRegimes hätten sich in keiner Weise von normalen Mördern unterschieden und hätten aus den gleichen Motiven gehandelt. Das Gerichtsverfahren gegen die Kriegsverbrecher zwang nun aber dazu, das Thema unter moralischem Gesichtspunkt zu betrachten. Heraus kam, dass diese Leute keine gewöhnlichen Verbrecher waren, sondern ganz normale Zeitgenossen, die mit mehr oder weniger Enthusiasmus Verbrechen begangen hatten, einfach weil sie taten, was man von ihnen verlangte. Diese Prozesse führten weiter dazu, dass man sich allgemein eindringlich mit der besonderen Schuld befasste, welche diejenigen anteilig trugen, die nicht als Verbrecher eingestuft werden konnten, aber dennoch in dem Regime ihre Rolle spielten, oder all jener, die nur den Mund hielten und die Dinge, wie sie waren, zuließen, als sie eine Stellung innehatten, in der sie hätten reden können. In dem Moment, wo die Moral zusammenbrach, spielten auch die religiösen Grundsätze keine Rolle mehr. Niemand fürchtete nun mehr einen rächenden Gott oder mögliche Strafen im Jenseits. Und jene wenigen im Rahmen der Kirche und in anderen Lebensbereichen, die es ablehnten, sich an Verbrechen zu beteiligen, beriefen sich nicht auf religiöse Glaubenssätze. Die Tradition der Moralphilosophie von So¬krates bis Kant ist sich darin einig, dass es für den Menschen unmöglich ist, vorsätzlich schlechte Dinge, das Böse um des Bösen willen zu tun. Es wird angenommen, dass jedes menschliche Wesen im Besitz dessen ist, was Kant „das moralische Gesetz“ an sich genannt hat. Moralische Sätze sind immer für selbstverständlich gehalten worden, und schon früh bemerkte man, dass sie nicht bewiesen werden können, dass sie axiomatisch sind. Hinter dem „Du sollst“ steht ein „Oder sonst“, die Androhung einer Sanktion, die von einem rächenden Gott durchgesetzt wird bzw. vom Konsens der Gemeinschaft oder vom Gewissen, d. h. die Drohung mit Selbstbestrafung, was wir üblicherweise Reue nennen. Im Falle Kants droht das Gewissen mit SelbstVerachtung, im Falle des Sokrates mit Selbstwiderspruch. Die sehr wenigen, die im moralischen Zusammenbruch von NaziDeutschland vollkommen heil und schuldlos blieben, hatten nie so etwas wie einen großen moralischen Konflikt oder eine Gewissenskrise durchgemacht. Diese hatten nie daran gezweifelt, dass Verbrechen auch dann, wenn sie von der Regierung legalisiert waren, Verbrechen blieben und dass es besser war, sich unter allen Umständen an diesen Verbrechen nicht zu beteiligen. Diese Menschen waren jedoch in der Welt, in der Macht zählt, ohnmächtig. Für Arendt weicht philosophisches wie religiöses Denken in gewisser Weise dem Pro¬blem des Bösen aus. Nach unserer Tradition wird der Mensch versucht, Böses zu tun, und er muss sich anstrengen, um Gutes zu tun. So ist bei Kant per definitionem alle Neigung Versuchung, die einfache Neigung, Gutes zu tun, ebenso wie die Versuchung, Böses zu tun. Arendt hält es demgegenüber für eine einfache Tatsache, dass Menschen minde¬stens ebenso oft versucht sind, Gutes zu tun, wie sie sich anstrengen müssen, Böses zu tun. Ich als einer bin nicht schlicht einer, sondern habe ein Selbst. Dieses Selbst macht sich, indem es mit mir spricht, hörbar. In diesem Sinne bin ich, als Einer, ZweiinEinem, und es kann Harmonie oder Disharmonie mit dem Selbst geben. Wenn ich handle, bin dadurch mein eigener Zeuge. Ich kenne den Täter, und bin dazu verdammt, mit ihm zusammenzuleben. Bestimmte Dinge kann ich nicht tun, weil ich danach nicht mehr in der Lage wäre, mit mir selbst zusammenzuleben. Die Moralphilosophie befasst sich zwar mit den „größten Gegenständen“, hat aber nie einen Namen gefunden, der ihrem hohen Anspruch Ausdruck verlieh. Der Grund liegt darin, dass die Philosophen sie nicht als eine separate Abteilung wie Logik, Kosmologie oder Ontologie betrachten konnten. Die moralische Vorschrift entsteht aus der denkenden Tätigkeit, aus dem stummen Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst und ist damit eine eher präphilosophische Bedingung der Philosophie selbst, die das philosophische Denken mit allen anderen nicht fachspezifischen Denkweisen gemein hat. Die Philosophie (und die Literatur) kennt den Schurken nur als jemanden, der verzweifelt ist und dessen Verzweiflung ihn mit einem gewissen Adel umgibt. Die größten Übeltäter sind aber jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann sie nichts zurückhalten. Das Denken an vergangene Angelegenheiten bedeutet für menschliche Wesen, sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und sich so zu stabilisieren. Das größte Böse ist aber nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten. Die Mörder im Dritten Reich führten nicht nur ein mustergültiges Familienleben, sie verbrachten ihre Freizeit gerne damit, Hölderlin zu lesen und Bach zu hören, und damit ist bewiesen, dass Intellektuelle ebenso einfach in Verbrechen hineingezogen werden können wie jeder andere auch. Aber die Sache bei diesen hochkultivierten Mördern ist die, dass nicht ein einziger von ihnen ein anhörenswertes Musikstück komponierte oder ein Gedicht schrieb, dass es wert wäre, dass man sich daran erinnerte. Denken und Erinnern sind die menschliche Art und Weise, Wurzeln zu schlagen, den eigenen Platz in der Welt, in der wir alle als Fremde ankommen, einzunehmen. Was wir Person oder Persönlichkeit nennen, entsteht aus diesem wurzelschlagenden Denkprozess. Ein denkendes Wesen weiß mit sich zu leben, es gibt sich Grenzen zu dem, was es sich zu tun erlauben darf, und diese Grenzen werden nicht von außen aufgezwungen, sondern selbst gezogen. Das extrem Böse ist nur dort möglich, wo diese selbstgeschlagenen und gewachsenen Wurzeln fehlen. Arendt lobt die Sokratische Moral: Sie ist hauptsächlich damit befasst, Böses zu vermeiden, während die auf das Vermögen des Willens gegründete christliche Ethik sich ganz darauf ausrichtet, Gutes zu tun. Hannah Arendt verfasste 1928 eine Arbeit über den „Liebesbegriff bei Augustin“ und veröffentlichte diese 1929 als Dissertation. In dieser Schrift finden sich bereits grundlegende Begriffe von Arendts Denken: der Weltbegriff, das Dasein, die vita socialis, und der Begriff der Verantwortung. Frauke Annegret Kurbacher hat den Band mit einem einleitenden Essay neu herausgegeben: Arendt, Hannah: Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation. 200 S., € 29.80, 2008, Olms, Hildesheim Neben den Text in seiner 1929 veröffentlichten Gestalt enthält der Band Übersetzungen der zahlreichen lateinischen und griechischen Begriffe und Textstellen sowie ein Sach und Personenregister. |