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FORSCHUNG

Interkulturelle Philosophie: Wilhelm Lütterfelds sieht im Begriff der gegenseitigen Anerkennung einen Grundbegriff

aus Heft 5/2008, S.93-95

 

INTERKULTURELLE PHILOSOPHIE

Wilhelm Lütterfelds sieht im Begriff der gegenseitigen Anerkennung einen Grundbegriff der interkulturellen Philosophie

Es sind die traditionellen kulturellen Identitäten, die durch die komplexen und heterogenen Prozesse der Globalisierung mehr oder weniger stark bedroht, unterminiert und nivelliert werden. Wie der Passauer Philosoph Wilhelm Lütterfelds in seinem Aufsatz

Lütterfelds, Wilhelm: Die Anerkennung fremder Kulturen und ihre Paradoxien, in: Schüttauf / Brudermüller (Hrsg.): Globalisierung – Probleme einer neuen Weltordnung, 2007, Königshausen und Neumann

darlegt, lautet die entscheidende Frage dabei, wie die gleichzeitige Universalisierung von bestimmten Lebensformen und Weltbildern mit einer Bewahrung der eigenen kulturellen Identität vereinbar ist.

Offensichtlich sind die Globalisierungsprozesse, die von den Naturwissenschaften und der Technik ausgehen, interkulturell weniger konfliktträchtig, als dies bei anderen kulturellen Segmenten (wie den sozialen Lebensformen, den moralischen Überzeugungen und Rechtssystemen und insbesondere den Weltanschauungen und dem religiösen Glauben) der Fall ist. Hier finden sich die Grundwerte einer Kultur, die das Denken und Handeln der Menschen, ihre Überzeugungen und Lebensformen, in entscheidender Weise prägen. In dem Maße, wie die eigenen kulturellen Grundüberzeugungen in Frage gestellt werden, droht die Gefahr, dass sie ihre identitätstiftende Funktion in den Kulturen verlieren. Wenn die Praxis der gegenseitigen kulturellen Abschottung infolge des Globalisierungsdrucks zum Scheitern verurteilt ist, dann scheint der Begriff der gegenseitigen Anerkennung des kulturell An¬deren ein Schlüsselbegriff für die Auflösung der interkulturellen Probleme zu sein.

Kulturanthropologische und kulturphilosophische Untersuchungen haben in vielfältiger Weise darauf aufmerksam gemacht, dass es transkulturelle, universale Gehalte des Humanen gibt – wie etwa die anthropologischen Konstanten der menschlichen Lebensform, die „gemeinsame menschliche Handlungsweise“ (Wittgenstein) oder auch überkulturelle religiöse Prägungen und Verankerungen von Weltbildern. Die einzelnen kulturellen Lebensformen lassen sich dann als jeweils spezielle, individuelle und kontingente Arten der Realisierung der universell humanen Lebensform auffassen, die sich in deren Vielfalt und Reichtum konkretisiert und eine wechselseitige Ergänzung erfährt.

Diese transkulturellen universalen Gehalte des Humanen können aber nur immer aus der eigenzentrischen Perspektive der eigenen Kultur heraus verstanden, konkretisiert, inhaltlich bestimmt und abgegrenzt werden. Wir gehen immer von unserem eigenen kulturellen „Sprachspiel“ aus, wenn wir uns auf „Sprachspiele“ fremder Kulturen beziehen. Das hat für das Problem der Anerkennung fremder Kulturen weitreichende Folgen: Nun gerät in den Pluralismus der Kulturen eine bestimmte Konfliktstruktur. Denn die je eigenen Geltungs und Wahrheitsansprüche sind das einzige Beurteilungskriterium für die Legitimität von fremden kulturellen Selbstverständnissen, die den eigenen entgegengesetzt sind. Für die Hermeneutik des interkulturellen Verstehens bedeutet dies, dass man den Anderen einer fremden Kultur nur insoweit versteht, als man sich in ihm wieder findet. Man kann den Anderen nur insoweit anerkennen, als seine kulturellen Überzeugungen dem eigenen kulturellen Selbstverständnis gleich oder zumindest ähnlich sind. Der Gleichheitsmaßstab einer transkulturellen, neutralen, „objektiven“ Instanz ist dadurch radikal ausgeschlossen. Denn er ist der Maßstab der eigenen Kultur.

Alle Versuche argumentativer Überzeugung des kulturell Anderen in einem rationalen transkulturellen Diskurs müssen Lütterfelds zufolge aus zwei Gründen notwendigerweise scheitern:

 Die fundamentalen Weltüberzeugungen einer Kultur und ihrer Lebensformen sind einer neutralen rationalen Rechtfertigung und Begründung entzogen oder eben nur zirkulär durch sich selber zu fundieren.

 Alle Argumente für die Richtigkeit und Wahrheit oder Falschheit der kulturellen Geltungsansprüche basieren auf diesem rechtfertigungslosen Fundament – was nicht heißt, dass es zu Unrecht akzeptiert wird. Aber dadurch setzen die Argumente im interkulturellen Dialog gerade das voraus, was sie begründen möchten, nämlich den rechtmäßigen Objektivitäts, Geltungs, und Wahrheitsanspruch der eigenen kulturellen Überzeugungen.

Deshalb tritt in einem solchen Diskurs anstelle der rationalen Überzeugungsversuche häufig die Praxis der „Überredung“. Wenn es um die Prinzipien eines kulturellen Selbstverständnisses geht, dann wird diese Ausein¬andersetzung vor allem über Strategien der Macht ausgetragen. Verzichtet man auf diese negativen Folgen der Auseinandersetzung im interkulturellen Diskurs, dann bleibt auf der Basis der Universalisierung der Geltungs und Wahrheitsansprüche des eigenen kulturellen Selbstverständnisses nur die Praxis der Duldung des kulturell Anderen.

Die Anerkennung des kulturell Anderen kann bestenfalls auch nur die Anerkennung einer Koexistenz radikal anderer Kulturen sein, und dies ist Lütterfelds zufolge das einzige gemeinsame transkulturelle Bewusstsein. Aber auch eine solche Praxis der Anerkennung ist im wesentlichen defizitär, kann man doch nicht mehr angeben, welches fremde kulturelle Selbstverständnis darin anerkannt wird.

Sind kulturelle Lebensformen jedoch dadurch definiert, dass zu ihrem Selbstverständnis der Unterschied zu anderen, fremden Kulturen gehört und dies wiederum wesentlich für ihre kulturelle Identität ist, die Unterstellung transkulturelleranthropologischer Konstanten des Humanen ebenso empirisch wie begrifflich unverzichtbar ist, dann ist ein Anerkennungsbegriff des kulturell Anderen auszubilden, der beidem Rechnung trägt. Damit entsteht jedoch im Pluralismus der Kulturen und ihrer Lebensformen unvermeidlich der Konflikt der Geltungs und Wahrheitsansprüche der kulturellen Überzeugungen, der den unterschiedlichen und gegensätzlichen kulturellen Lebensformen in deren Universalisierung entspringt. Ein neutraler Pluralismus von verschiedenen, einander entgegengesetzten Geltungs und Wahrheitsansprüchen ist begrifflich unmöglich: Geltung und Wahrheit sind keine selbstwidersprüchlichen Phänomene, wenn und soweit sie sich auf denselben Sachverhalt beziehen. Damit wird das Anerkennungsproblem entschieden verschärft. Denn den kulturell Anderen dann als gleich anzuerkennen, bedeutet auch und vor allem, die Geltungs und Wahrheitsansprüche seiner kulturellen Überzeugungen als gleichberechtigt anzuerkennen, obwohl sie den eigenen radikal entgegengesetzt sind, ihnen widersprechen und sie massiv in Frage stellen.

Für Lütterfelds ist eine Entschärfung nur um den Preis möglich, dass man eine Selbstrelativierung der universalen Geltungs und Wahrheitsansprüche der eigenen kulturellen Überzeugungen in Kauf nimmt. Freilich muss diese Selbstrelativierung auch für die vielen rivalisierenden, sich gegenseitig ausschließenden kulturellen Lebensformen samt ihren universalen Geltungs und Wahrheitsansprüchen eingefordert werden. Anerkennung impliziert dann immer auch ihre eigene Negation mit, nämlich Anerkennungsverweigerung, Selbstsuspendierung, Selbstrelativierung und Selbstnegation. Gegenseitige Anerkennungspraxis ist also paradox, und gerade darin sieht Lütterfelds eine Chance: Es entsteht ein gemeinsames Bewusstsein der paradoxen interkulturellen Anerkennung, das nicht nur zu einem gemeinsamen Verständnis der unvermeidlich defizitären Anerkennung des eigenen kulturellen Selbstverständnisses durch den kulturell Anderen führen kann, sondern das auch die negative Seite dieses Defizits abschwächt, weil letzteres keiner Seite anzulasten ist. Auf diese Weise sieht Lütterfelds eine interkulturelle Gleichheit hergestellt. Die Lösung des Anerkennungskonflikts besteht dann im gemeinsamen Wissen um seine immer unbefriedigende Auflösbarkeit. In einem derartigen gemeinsamen Wissen sieht Lütterfelds interkulturell beide Seiten symmetrisch anerkannt.