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FORSCHUNG

Henrich: Dieter Henrich denkt die Welt vom Subjekt aus


Dieter Henrich denkt die Welt vom Subjekt aus und gelangt zur AllEinheit

Mit dem Ausdruck „Subjektivität“ kann man einfach nur die Eigenschaft meinen, kraft derer etwas zu einem Subjekt wird. Subjektivität bezeichnet dann die Verfassung, ein Subjekt zu sein. In einer anderen Verwendung bezeichnet man alle Meinungen und Zustände als subjektiv, denen keine Tatsachen in einer Welt entsprechen, von der man denkt, dass sie ganz unabhängig von den Gedanken aller Subjekte über sie existiert. Dieter Henrich verwendet in seinem Buch

Henrich, Dieter: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. 380 S., Ln., € 24.80, 2008, Suhrkamp, Frankfurt

Subjektivität vor allem in einem dritten Sinn: als die Prozesse, in denen das Subjekt sich zu einer erweiterten Gestalt entfaltet und dabei seiner selbst inne wird. Im elementarsten dieser Prozesse ist der Mensch als Subjekt auf dem Weg zu einer Verständigung über sich und über das, was sein Leben ausmacht.

Das Wissen von sich

Der Gebrauch von „ich“ setzt ein indirektes, ein reflektiertes Verhältnis zum eigenen Wissen von sich voraus. Indem das Kind in das Wissen von sich gelangt, realisiert es sein Personsein. Diese wissende Selbstbeziehung hat eine komplexe Verfassung. Denn im Wissen von sich kann man das, wovon man etwas weiß, und das Wissen dessen, dass man selbst es ist, worüber man etwas weiß, nicht voneinander trennen. Aber auch was ich bin, kann nicht in dem aufgehen, was das Wissen von mir selbst ausmacht. Denn das Wissen von sich ist nicht ein allgemeiner Sachverhalt, es kommt nicht dadurch zustande, dass irgendein anonymes Wissen erschlossen wird, sondern ich stehe für mich ursprünglich und allein in wissender Selbstbeziehung. In seinem FürsichSein ist das Subjekt mit sich ganz allein, aber es ist zugleich eines, zu dem, wie es weiß, andere in Beziehung stehen können, und das im Gedanken von sich den Gedanken einer Beziehung auf andere mit sich führt. In sein eigenes FürsichSein können andere hingegen nicht eintreten.

Ein Subjekt, das nicht von sich weiß, kann überhaupt nicht als Subjekt gelten. Das Wissen von sich ist immer mitgemeint, wenn von einem Subjekt die Rede ist. Entsprechend schließt sich das Denken an die Grundtatsache der Subjektvorstellung an. Dieses Denken ist gegenläufig: Zum einen gewinnt es seine Orientierung durch Rückfrage nach dem Grund der Subjektivität, zum anderen werden in der Erkenntnis, die wir von der Welt gewinnen, Einzelne identifiziert und in ihrem Verhältnis zueinander erklärt. Dazu muss die Ordnung eines Ganzen (etwa die in Raum und Zeit) angenommen werden, innerhalb derer Einzelne zu identifizieren und als Unterschiedene aufeinander zu beziehen sind. Dieser Ordnungszusammenhang lässt sich nicht denken, ohne dass unbestimmt viele Einzelne vorausgesetzt werden.

Auch der Ausgriff auf das Ganze ist ein doppelter und ein gegenläufiger: Er geht einerseits auf das Ganze einer als gegeben zu denkenden Welt, und er geht andererseits auf ein Ganzes, das nur im Denken zu erschließen ist. Im ersten Ausgriff ist die Tendenz angelegt, die Subjektivität selbst aus dem Weltganzen herausfallen zu lassen und sie zum Verschwinden zu bringen. Im zweiten steht die Selbstverständigung über Subjektivität als Zielvorstellung ständig im Blick: im Gedanken von einem Ganzen, in dem sie als einbegriffen gedacht werden kann und in dem sie ihren Grund hat. Das Streben nach Erweiterung und Vertiefung der Welterkenntnis und ein weltübersteigendes, sogar weltabgewandtes Denken gehören zueinander und gehen nach Henrich in gleicher Weise aus der Subjektivität des Menschen hervor. Daraus folgt für ihn, dass man die beiden letztlich auch nicht voneinander ablösen kann. Entsprechend vollzieht sich das Leben des Menschen in Ambivalenzen, in Antinomien und einander widerstrebenden Tendenzen. Dies macht aber auch deutlich, warum der Mensch in seiner Selbstverständigung keine Aussicht auf eine Gewissheit hat, die jener Gewissheit gleichkommt, die in seinem Wissen von ihm selbst gelegen ist.

Das, was eine Person ausmacht, kann als Mitte gesehen werden zwischen dem Subjekt, das im Wissen von sich steht, und seinem Dasein als belebter Körper in der Welt. Die Verkörperung ist eine wesentliche Eigenschaft von Subjekten: der Körper als organisches System positioniert das Subjekt an einer bestimmten Stelle und in einer bestimmten Bahn der Weltordnungen von Raum und Zeit. In seiner Verkörperung setzt das Subjekt Aktivitäten in Vollzug, über die sein FürsichSein anderem FürsichSein als anderes zugänglich wird. Sprache im weite¬sten Sinne hat darin eine wesentliche Funktion.

Dass das Wissen von sich eintritt, ist ein Ereignis, das aus einem nur ihm gemäßen Grund, ansonsten aber gänzlich spontan und ohne Erklärung aus ihm vorliegenden Ereignissen eintritt. Diesem Wissen muss ein verkörpertes Dasein korrespondieren, in dem das FürsichSein als solches Ausdruck finden kann. Zwischen beiden Implikationen der Subjektivität spannt sich der Komplex all dessen, was wir im bewussten Leben als Person zu verstehen haben. Sie entfaltet sich in der Beziehung des verkörperten Einzelnen zu den Bereichen seiner Welt, in die sie zugleich einzuwirken vermag. Dies bildet sich in einem Selbstbild aus.

Die Entfaltung des sittlichen Bewusstseins

Mit der Entfaltung einen sittlichen Bewusstseins ist die Person als Ganze samt dem Umkreis ihres Lebens und Handelns in der Welt in einer erweiterten Perspektive auf sich selbst bezogen. Die Voraussetzungen dafür müssen in der Verfassung der Subjektivität selbst liegen. Gegen jegliches Interesse kann die Aneignung nicht erfolgen. Gleichwohl widerstreitet die Verfassung der Normen jeglicher Begründung aus einem Interesse heraus. Eine Motivation für Handlungen, die von der moralischen Norm ausgehen, scheint nur über Gefühle verständlich zu werden, die sich dem klugen Eigeninteresse entziehen. Kant hat die Problematik, die damit aufgebracht ist, für eine der schwierigsten in der ganzen Philosophie gehalten: „Man soll das Gute durch den Verstand erkennen, und doch davon ein Gefühl haben.“ Da sich die Verbindung zwischen Rationalität und Sittlichkeit nicht umstandslos aus der Rationalität aufklären lässt, wird es unumgänglich, Rationalität und Subjektivität auf andere Weise miteinander in Beziehung zu setzen. Henrich verbindet das sittliche Bewusstsein intern mit dem Wissen von einer moralischen Grundnorm. Diese muss als etwas verstanden werden, was das Subjekt selbst angeht und seiner durchaus rationalen Tendenz, aus kalkuliertem Eigennutz zu handeln, Einhalt gebietet.

Die Versuche der Begründung von Ethik verwickeln sich in ein Dilemma. Aus einer allgemeinen Vernunftform lässt sich die sittliche Normativität nicht herleiten. Deswegen muss man davon ausgehen, dass die sittliche Form für unsere Handlungen nur faktisch in Geltung ist. Damit scheint es notwendig, das sittliche Bewusstsein auch auf die Natur des Menschen zurückzuführen. Dieses Dilemma hat die gesamte Geschichte der philosophischen Ethik in Unruhe gehalten. Henrich zufolge hat man davon auszugehen, dass seine Voraussetzungen im Grundgeltungsbereich des Denkens liegen. Diese Gedanken münden in einen metaphysischen Gedanken: Der Grund, der unser Leben ermöglicht und das Ganze, dem auch dieser Grund zugehört, werden in eine Beziehung zu der Welt gesetzt, in der die Menschen leben und als Grund einer Sinnordnung in ihr verstanden. Dies lässt uns die Mächtigkeit der religiösen Dimension in der Geschichte der Menschheitskulturen verstehen. Die Religionen verbinden immer eine Sittenlehre und eine allgemeine Religionslehre miteinander.

Subjektivität im Mitsein

Von der Subjektivität der einzelnen Menschen her lässt sich ein Übergang zum Mitsein der Subjekte gewinnen. Dabei ist die Sprache das wichtigste Medium. Das Personalpronomen „ich“ ist in das System der singulären Ausdrücke eingebunden, in dem als nächstes das „du“ und das „wir“ zugeordnet sind. Überall dort, wo „ich“ gebraucht wird, steht die Existenz einer Sprachgemeinschaft außer Zweifel.

Wo Tatsachen aufgeboten werden, von denen es heißt aus ihnen bilde sich das Selbstverhältnis eines bewussten Lebens heraus, da kann man immer aufweisen, dass dieses Selbstverständnis in ihnen bereits gelegen und für ihre innere Konstitution und ihre Verständlichkeit auch unentbehrlich ist. Das bewusste Leben vollzieht sich in einer vieldimensionalen Dynamik, und diese Dynamik ist mit einer Vielzahl von anderen Elementen in vielen Fällen sogar notwendig verbunden.

Henrich interpretiert die Subjektivität des Menschen als eine letzte und dennoch nicht aus sich selbst begründete Tatsache und skizziert dabei eine Alternative zum naturalistischen Selbstbild. Dabei wird die Frage der Subjektivität nach ihrem eigenen Grund in Gedanken umgesetzt, die darauf ausgehen, den Prozess der Subjektivität als Folge dieses Grundes zu verstehen und die zudem in diesem Prozess von der Subjektivität als Verständigung über sich selbst wirksam werden können. Mit dem Naturalismus hat Henrichs Unternehmen gemeinsam, dass sie Subjektivität nicht als selbstgenügsam ansehen, sondern als durchgängig bedingt. Den Unterschied sieht Henrich darin, dass die Extrapolation des Grundes in Gedanken das Selbstbild der Subjektivität nicht unterläuft, sondern es, nach vorangehender Klärung, fundiert und damit nicht zur Aufhebung, sondern zur begründeten Selbstzuschreibung von Selbsttätigkeit führt.

Die Subjektivität in sozialen Ordnungen

In jeder Weise des Mitseins ist eine Ordnung impliziert – von der symbiotischen Intimität bis zum unbestimmten, aber universalen Gedanken eines Inbegriffs aller Subjekte. Diese Ordnungen des sozialen Handelns sind unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten: nach der Verflechtung der Interaktionsweisen, in denen sie sich ausbilden und stabilisieren und nach Funktionen, durch die sie erfüllt werden. Henrich sieht hinter dem, was Handlung heißt, die Prozesse der Subjektivität. Alle sittliche Ordnung geht vom Bewusstsein der Einzelnen aus.

Das Wissen von sich, welches das Subjekt konstituiert, lässt sich nicht aus sich selbst begreifen. Denn seine Analyse zeigt, dass jedes seiner Elemente, auf das sich die Analyse konzentrieren kann, die Selbstbeziehung im Wissen des Subjekts bereits zur Voraussetzung hat. Verlangt die Selbstbeziehung nach der Voraussetzung eines Grundes, dann muss dieser Grund dem entsprechen, was die Selbstbeziehung ausmacht. Insofern er Grund der Form und der Wirklichkeit des Selbstbewusstseins in einem ist, kann er keiner der vier Arten des Grundes entsprechen, die Aristoteles voneinander unterschieden hat. Ein solcher Grund ist der Erkennbarkeit entzogen. Er muss in einer Weise gefasst werden, von der im normalen Erkenntnisprozess kein Gebrauch gemacht werden kann. Dazu müssen die Gedanken vom Grund des Subjektes und von einem Ganzen, das Subjekte einschließt, zusammengeführt werden. Das extrapolierende Denken vollzieht sich dann als synthetisierendes Denken. Es gilt, die Weise, in der Subjekte sind und die Einheit, in der sie als Einzelne koexistieren, als einen einzigen Zusammenhang zu denken. Jenseits dieser Grenze kann die Unterscheidung zwischen der Form der Welt und ihren Gehalten, die für die natürliche Welt Voraussetzung ist, nicht mehr in der gleichen Weise fortbestehen: Form und Gehalt der Welt sind als untrennbar voneinander gedacht, und die Welt wird als AllEinheit verstanden.