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DISKUSSION

Erkenntnistheorie: Was für eine Erkenntnistheorie brauchen wir?

Aus Heft 3/2011 


Ein Gespräch zwischen Günter Abel, Peter Baumann, Ansgar Beckermann und Andrea Kern

Worum geht es in der Erkenntnistheorie?

Ansgar Beckermann
: Das ist doch klar: Um Erkenntnis. Es besteht ein Konsens, dass es dabei um drei Bereiche geht: um die Natur von Erkenntnis, die Quellen der Erkenntnis und die Grenzen von Erkenntnis. Man kann dies auch als Fragen formulieren. Beim ersten Bereich: Worum bemühen wir uns eigentlich, wenn wir uns um Erkenntnis bemühen? Beim zweiten: Mit welchen Methoden können wir Erkenntnis erreichen? Und beim dritten: Gibt es vielleicht Bereiche, in denen wir keine Erkenntnisse erreichen können? Oder ist es so, wie der Skeptiker sagt, dass wir überhaupt keine Erkenntnis erlangen können?

Andrea Kern: Die Erkenntnistheorie steht nicht im luftleeren Raum. Sie ist motiviert durch Überlegungen, die die Möglichkeit von Erkenntnis in Frage stellen. Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich deswegen – unter anderem – immer wieder mit dieser skeptischen Herausforderung. Skeptizismus und Erkenntnistheorie sind zwei Seiten einer Medaille.

Wie sollen wir mit diesem Skeptizismus umgehen?

Günter Abel: Ich denke, wir werden darauf verzichten müssen, den Skeptizismus definitiv und abschließend überwinden zu wollen. Vielmehr sollten wir den Skeptizismus als Antreiber sehen, der uns tief in die Erkenntnisproblematik hineintreibt. Wenn wir glauben, vermeintlich sichere Antworten zu haben, zwingt er uns, diese zu begründen und zu rechtfertigen.

Peter Baumann: Der Skeptizismus ist für die Erkenntnistheorie sicher wichtig und man kann nicht Erkenntnistheorie im Allgemeinen betreiben, ohne jemals auf den Skeptizismus zu reagieren. Aber wird er nicht auch oft überschätzt? Man kann viele Fragen innerhalb der Erkenntnistheorie behandeln, ohne Fragen, die der Skeptizismus aufwirft, zu berühren. Ich denke dabei etwa an die Frage, wie die Wahrnehmung funktioniert.

Andrea Kern: Das glaube ich nicht. Da würde man in die Irre gehen. Der Skeptizismus hat eine wichtige erkenntnisfördernde Funktion in der Erkenntnistheorie. Die Klärung der grundlegenden Begriffe – des Begriffs der Wahrnehmung und des Begriffs der Erkenntnis – hängt davon ab, dass wir in der Lage sind zu verstehen, wie wir Erkenntnis haben können. Die skeptischen Überlegungen beziehen ihre Kraft und ihren Biss daraus, dass sie diese Möglichkeit in Frage stellen. Das heißt: Wenn ich eine gelingende Erkenntnistheorie betreiben und eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Umfang und den Quellen von Erkenntnis haben will, muss ich auch eine befriedigende Antwort auf das skeptische Problem haben. Ich kann das Problem nicht offen lassen. Das lässt allerdings offen, was es denn heißt, dem Skeptiker eine befriedigende Antwort zu geben. Und es kann durchaus sein, dass eine solche Antwort den Skeptiker nicht befriedigt. Aber ich selbst habe den Anspruch, auf diese Probleme eine Antwort zu geben. Wenn ich sie offen lasse, habe ich die Frage nach der Erkenntnistheorie nicht beantwortet.

Günter Abel: Für mich ist es ein Fortschritt – und das scheint mir der kardinale Unterschied zu sein – dass wir als primäres Ziel nicht mehr die Widerlegung der Skepsis propagieren, sondern versuchen unter den gegebenen Rahmenbedingungen eine zufriedenstellende Antwort zu geben, und das muss – da stimme ich Ihnen zu – natürlich auch eine sein, mit der ich zufrieden bin. Insofern ist das ein verändertes Szenario.

Eine wichtige Methode der Erkenntnistheorie ist die Begriffsanalyse. Was tun wir, wenn wir Begriffsarbeit betreiben?

Peter Baumann
: Man stellt sich erst Fälle vor oder reagiert auf wirkliche Situationen; man überlegt sich, ob das bereits Wissen darstellt oder ob es sich lediglich um eine bloße wahre Meinung handelt und was das involviert. Dann geht die Überlegung zwischen verschiedenen Aspekten der Theorie und Auffassungen, die vielleicht nur auf den ersten Blick plausibel sind, hin und her und man revidiert gegebenenfalls seine Auffassungen. Zum Teil ist dies die Suche nach einem reflexiven Equilibrium, zum Teil handelt es sich um eine Überprüfung von Hypothesen und semantischen Intuitionen. Es sind aber durchaus noch andere Überlegungen im Spiel. Man benutzt bei der philosophischen Analyse eine Vielfalt von verschiedenen Herangehensweisen. Es gibt nicht die eine Methode der Analyse.


Ansgar Beckermann: Es gibt Begriffe, bei denen den allermeisten Menschen klar ist, was sie bedeuten und bei denen viele auch eine explizite Definition angeben können. Ein Quadrat beispielsweise ist ein gleichseitiges Rechteck. Mit einigem Nachdenken sind die allermeisten in der Lage, eine solche Definition zu geben. Aber es gibt eine Reihe von Begriffen, bei denen wir auch bei einigem Nachdenken nicht in der Lage sind, eine solche explizite Definition anzugeben und zwar, obwohl wir der Meinung sind, es müsste sie eigentlich geben. Das klassische Beispiel in der Erkenntnistheorie ist der Begriff des Wissens. Man kann sich überlegen, ob es notwendige und hinreichende Bedingungen gibt, die etwas erfüllen muss, damit etwas ein Fall von Wissen ist. Aber eine klassische Definition d können wir bei Begriffen wie Wissen nicht erwarten.

Trotzdem – ich nehme hier einen Gedanken von Peter Baumann auf – können wir natürlich versuchen, Zusammenhänge zwischen dem Begriff des Wissens und anderen Begriffen zu untersuchen, indem wir fragen: Was muss zwingend der Fall sein, damit man sagen kann, dass jemand etwas weiß? Gibt es eventuell auch hinreichende Bedingungen? Das Ziel dabei ist, eine explizite Definition zu finden. Peter Baumann hat ausgeführt, wie man dabei vorgehen kann. Eine Methode besteht darin, sich verschiedene Fälle anzuschauen und zwar Fälle, die offenkundig Fälle von Wissen sind und Fälle, bei denen es sich offenbar nicht um Wissen handelt. Dann fragt man sich: Was fehlt in den Fällen, in denen kein Wissen vorliegt? Und was haben die Fälle gemeinsam, in denen wir ohne weiteres sagen, hier liegt Wissen vor? Vielleicht gibt es kein für alle Fälle gemeinsames Merkmal, aber auf diese Weise lassen sich wesentliche Gesichtspunkte herausarbeiten.

Welchen Stellenwert hat die Begriffsanalyse in der Erkenntnistheorie?

Ansgar Beckermann
: Ich glaube nicht, dass Begriffsanalyse in der Erkenntnistheorie eine wichtige Rolle spielt, und das aus zwei Gründen: Erstens ist es meiner Meinung nach kein wichtiges, aber auf jeden Fall kein vordringliches Thema der Erkenntnistheorie, den Begriff des Wissens genau zu erfassen. Zweitens glaube ich, dass andere Fragen, zum Beispiel: Mit welchen Methoden können wir Erkenntnis erlangen, sich auf dem Weg der Begriffsanalyse nicht beantworten lassen.

Günter Abel: Ich würde einen Unterschied machen zwischen der Begriffsarbeit, die Herr Beckermann im ersten Teil seines Votums beschrieben hat, und der Begriffsanalyse im engeren Sinne. Man kann das zugespitzt formulieren: Wenn wir Begriffsanalyse betreiben, versuchen wir den Begriff in eine Liste von semantischen Merkmalen zu zerlegen. Das ist die eine Strategie, und hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt: Die abendländische Metaphysik hat über weite Strecken geglaubt, dass diese Liste der analysierbaren semantischen Merkmale zu einem definitiven Abschluss kommt. Definitiv in der Sache und allgemein verbindlich. Dass heißt, dass jedermann, der mit Verstand ausgestattet ist, diese Schlusslinie sehen muss. Die Erfahrung, die wir nun im Laufe der Zeit gemacht haben, ist die, dass das nicht der Fall ist. Es war dies der Traum der älteren Metaphysik, aber wir müssen feststellen: Es gibt keine definitiv abschließbare Liste dieser semantischer Merkmale. Und damit ist die allgemeine Verbindlichkeit im strikten Sinne in kritisches Visier geraten.

Dies muss nun auf die Frage der Wissensproblematik angewandt werden. Hier würde ich den Akzent auf die Grenzen der Begriffsanalyse legen und diese von den Grenzen des Wissensbegriffes, die Herr Beckermann angesprochen hat, unterscheiden. Grenzen der Arbeit mit Begriffen im Felde des Wissens zeigen, dass wir – salopp gesprochen – immer nur drei bis vier Schritte in der Begriffsanalyse vorankommen. Dann werden die Verhältnisse so komplex und sind mit so vielen Komponenten durchsetzt, dass wir feststellen müssen, dass wir mit reiner Begriffsanalyse das Phänomen des Wissens nicht einfangen können. Das ist eine veränderte Problemsituation.

Peter Baumann: Ich bin mit Herrn Beckermann einig, dass Begriffsanalyse nicht alles ist. Ich glaube, man sollte insgesamt die Hoffnung aufgeben, dass man ein Werkzeug finden kann, mit dem man alles machen kann.

Eine Frage, die in der letzten Zeit sehr vernachlässigt worden ist, ist die normative Frage, auf welche Weise man die Erkenntnis suchen bzw. wie man danach fragen soll. Das ist ein Thema, das sich vor allem im 17./18. Jahrhundert findet, das aber durch die Begriffsanalyse in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an den Rand gedrängt wurde. Es ist dies eine generelle Frage, die mit den Methoden der Begriffsanalyse nicht bearbeitbar ist. Insofern gibt es eine Pluralität von Projekten in der Erkenntnistheorie, und ich bin mir nicht sicher, ob man diese vereinheitlichen kann.

Andrea Kern: Begriffsanalyse in diesem engen Sinn verstanden ist in der Philosophie ein wenig ertragreiches Geschäft. Umgekehrt kann man aber auch sagen, dass richtig verstandene Philosophie Begriffsarbeit ist. Wir suchen uns dabei ein Verständnis von Begriffen zu erarbeiten. Nach deren Klärung sollten wir am Ende erkennen, dass dieses Verständnis des Begriffs eine gewisse Notwendigkeit für uns beinhaltet. Es sollte klar werden, weshalb wir uns an einer Erklärung des Verständnisses dieses Begriffs abgemüht haben.

Man kann sich fragen, warum wir uns um den Begriff des Wissens und nicht um den des Polizeibeamten bemühen. Es geht dabei um die sog. notwendigen Begriffe, von denen wir durch die Tradition der Philosophie ein Vorverständnis haben. Ich denke, ein Ergebnis jeder Arbeit an den Begriffen muss es sein, aufzeigen zu können, dass und weshalb wir versucht haben, diesen Begriff zu verstehen: weil es eben kein für uns beliebiger Begriff war, sondern dass der Begriff für uns eine Notwendigkeit hat. Das Verständnis des Begriffes, das wir erarbeitet haben, darf also nicht darin bestehen, das Alltagsverständnis zu rekonstruieren, sondern darin, aufzuzeigen, wie man diesen Begriff verstehen muss.

Günter Abel: Ich würde einen Unterschied machen zwischen Begriffsanalyse im Sinne des zerlegenden Geschäfts in semantische Merkmale und der grundbegrifflichen Klärung.

Andrea Kern: Ja, unbedingt.

Günter Abel: Mit dem zweiten Projekt kann man auch deutlich die Grenzen des ersten Projektes markieren. Die grundbegriffliche Klärung ist unverzichtbar. Nicht nur in der Philosophie selber, sondern auch an allen Schnittstellen, wo die Philosophie in das Gespräch mit anderen Wissenschaften kommt.

Ansgar Beckermann: Die Rolle der Be-griffsanalyse in der Philosophie wird doch häufig überschätzt.

Andrea Kern: Dass die Begriffsanalyse in dem von Herrn Abel genannten ersten Sinn unproduktiv ist, da stimme ich ganz zu.

Ansgar Beckermann: Begriffsanalyse ist im wesentlichen ein Mittel zur Klärung bestimmter Ausdrücke, etwa um Fragen, die diese Ausdrücke enthalten, vernünftiger behandeln zu können. Es gibt ein wunderbares Buch von Kurt Flasch mit dem Titel Kampfplätze der Philosophie, in dem Flasch u. a. den Konflikt zwischen Augustinus und Julian von Aeclanum beschreibt. Julian macht des öfteren den Vorschlag, den Streit dadurch zu überwinden, dass man zuerst die grundlegenden Begriffe klärt: Gerechtigkeit, Sünde, Willensfreiheit. Augustinus selbst hatte Sünde 391/92 definiert als willentliche Handlung oder Unterlassung, die die Gerechtigkeit verbietet. Julian nützt diese Definition, um gegen Augustinus einzuwenden: Ein neugeborenes Kind hat noch keinen freien Willen, wie kann es eine Sünde begangen haben? Dieses Verfahren, Begriffe zu analysieren, ist manchmal bei der Beantwortung von Sachfragen sehr hilfreich. Aber z.B. in der Religionsphilosophie allein dadurch zu vernünftigen Antworten zu kommen, dass wir uns etwa auf die Analyse des Begriffes Gottes beschränken, halte ich für aussichtslos.

Was heißt in der Erkenntnistheorie Naturalismus?

Günter Abel
: Naturalismus in der Erkenntnistheorie heißt, dass man alles, was man in Sachen Erkenntnis sagt, in das naturwissenschaftliche Weltbild einbetten können muss. Das markiert zugleich den Unterschied zwischen Naturalismus und Physikalismus. Denn das Genannte impliziert noch keine szientistische Beschreibung, es muss lediglich in das naturwissenschaftliche Weltbild passen. Allerdings gibt es schärfere Varianten, die Wissen selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung machen wollen. In diesem Fall müssen wir Wissen als eine natürliche Art sehen, die gewissermaßen ein Objekt der wissenschaftlichen Begierde ist. Dies wäre ein Beispiel für Wissen als epistemisches Projekt aus naturwissenschaftlicher Perspektive.

Hier kommen natürlich sofort kritische Punkte. Man kann sich fragen, ob diese beiden Strategien zufriedenstellend sind. Zwar markieren sie wichtige Aspekte, aber sie sind nicht erschöpfend und vielleicht nicht einmal primär zur Charakterisierung des Phänomens, das wir in einem weiten Sinne mit Wissen meinen.

Es gibt des weiteren eine Art von Naturalismus, die mir sehr sympathisch ist: Wissen nicht als etwas zu betrachten, das in einem eigenen Reich eigener Prägung zu suchen ist, sondern als etwas, das genuin zu uns als Menschen gehört. Naturalisierung des Menschen wäre dann gewissermaßen eine Naturalisierung von Wissen in diesem Sinne unter Einschluss der These, dass diese nicht auf eine szientistische Verkürzung hinausläuft.

Peter Baumann: Es gibt ganz verschiedene Begriffe und Konzeptionen von Naturalismus. So ist nach Quines Vorstellung Erkenntnistheorie ein Aspekt der Kognitionspsychologie und sonst nichts. Ein Problem, das man damit haben kann, besteht darin, dass es normative Fragen gibt, die es wert sind, in der Erkenntnistheorie behandelt zu werden. Dazu gehören etwa Fragen zum Wert von Wissen. Von solchen Fragen kann man sich nicht so leicht vorstellen, dass sie von der Kognitionspsychologie behandelt werden können. Dazu gehört auch Descartes Meinung, dass es Regeln gibt, wie man seinen Verstand gebrauchen soll – auch das ist beispielsweise ein Thema, von dem man sich
schwer vorstellen kann, dass es naturalisierbar ist.

Günter Abel: In allem was mit Wissen zu tun hat, besonders aber was mit der Artikulation oder der Zuschreibung und der Kommunikation von Wissen zu tun hat, besteht eine Art Überschuss einer bestimmter Art, ein transzendierendes Element, das nicht einfach in die Matrix und die Beschreibungsmuster derjenigen Instrumente gefasst werden kann, die dem Naturalismus zu Gebote stehen. Wissen gehört zwar zum Menschen, aber es besteht ein asymmetrisches Verhältnis: Wir können Wissen nicht mit den neurologischen Assembles, die unter unserer Schädeldecke aktiv sind, wenn wir Wissen aktualisieren oder kommunizieren, einfangen bzw. identifizieren.

Ansgar Beckermann: Der Terminus „Naturalisierung“ gerade in Zusammenhang mit der Erkenntnistheorie geht meines Wissens auf Quines Epistemology naturalized zurück. Quine geht es in diesem Aufsatz auch um die Frage, ob es so etwas wie eine eigene Methodologie der Philosophie gibt, die unabhängig und anders ist als die Methodologie der Naturwissenschaften. Quine ist häufig so verstanden worden, dass er gerade an dieser Stelle sagt, dass es so etwas nicht gibt. Das hat damit zu tun, dass er auch der Begriffsanalyse sehr skeptisch gegenübersteht, weil seiner Meinung nach die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Aussagen nicht haltbar ist. Als mögliche für die Philosophie genuine Methode fällt die Begriffsanalyse bei ihm aus und andere Methoden sieht er nicht. Deshalb ist seine These: Wir haben eigentlich nur eine Methode, uns in der Welt zurechtzufinden und das ist die wissenschaftliche Methode.

Andrea Kern: In der Moralphilosophie haben wir eine analoge Unterscheidung in Bezug auf zwei Arten des Naturalismus. Nach der einen finden Fragen der Moralphilosophie in letzter Instanz ihre Antwort in einer Beschreibung der Natur des Menschen. Die Natur des Menschen wird hier zum Gegenstand der biologischen Forschung. Dem entspricht in der Erkenntnistheorie der Vorschlag Quines, den Gegenstand der Erkenntnistheorie mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erforschen. Die zweite Art ist eine eher aristotelische Konzeption, nach der die Frage nach den Quellen moralischer Normen ebenfalls in der Natur des Menschen gesucht, aber darunter etwas anderes verstanden wird, nämlich das rationale Wesen, das u. a. mit Tugenden ausgestattet ist. In der Moralphilosophie wird diese zweite Art des Naturalismus ausgiebig diskutiert, interessanterweise ist diese in der Erkenntnistheorie – bislang jedenfalls – kaum zur Sprache gekommen.

Was bedeutet in der Erkenntnistheorie Pragmatismus?

Peter Baumann: Das kann Verschiedenes bedeuten. Es kann sich etwa auf den amerikanischen Pragmatismus – Peirce, Dewey – beziehen, es kann aber auch die Vorstellung beinhalten, dass, wenn man sich mit Wissen beschäftigt, man auch die Frage aufwerfen sollte, wozu wir eigentlich diesen Begriff des Wissens brauchen. Die Tatsache, dass wir diesen Begriff des Wissens haben, hängt mit der Art, wie wir leben und uns durch die Welt bewegen, zusammen.

Günter Abel: Damit wird die erkenntnistheoretische Problematik nicht mehr in einem abgeschotteten Raum theoretischer Reflexion behandelt, vielmehr wird berücksichtigt, dass wir es mit Menschen, mit handelnden Akteuren, die Fähigkeiten haben, zu tun haben. Von daher steht die Frage im Raum, ob es eine Kontinuität, eine Genealogie, eine Entwicklungsgeschichte gibt zwischen dem Umstand, dass wir handelnde Geister sind und dass wir Epistemologie betreiben können.

Andrea Kern: Ich komme zurück, auf die von mir genannte zweite Art von Naturalismus. Diese wurde bislang noch nicht deutlich genug entwickelt. Es ist dies eine Konzeption, die den Begriff epistemischer Fähigkeiten ins Zentrum stellt und Fragen der Art klärt: Was heißt es, Wissen zu haben? Welches sind die Formen der Erkenntnis? Das beinhaltet, dass auch auf die Träger dieser Fähigkeiten reflektiert wird und der Frage nachgegangen wird, wie diese Fähigkeiten erworben und individuiert werden. Dazu gehört auch die Frage, was es heißt, mit diesen Fähigkeiten erfolgreich zu sein oder in der Ausübung dieser Fähigkeiten zu scheitern. Das bringt den Träger dieser Fähigkeiten als natürliches Wesen in den Blick, der dann plötzlich als konstitutiv für den in der Erkenntnistheorie diskutierten Gegenstand erscheint. In der traditionellen Erkenntnistheorie kam dies alles nicht in den Blick, dort kamen nur geistige Zustände vor.

Hier kommt der Begriff der epistemischen Fähigkeiten ins Spiel. Wie ist er zu verstehen?

Andrea Kern: Es gibt eine Tradition in der Philosophie, in der Fähigkeiten im Zentrum stehen. Es ist die Tradition, die eine Verbindung zwischen Aristoteles und Wittgenstein herstellt. In der Erkenntnistheorie ist der Begriff der Fähigkeiten lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen worden. Erst in den letzten Jahren gibt es im Zuge der Tugendtheorie der Erkenntnis eine Renaissance dieses Begriffs und es ist zu erwarten bzw. zu hoffen, dass wir uns in den nächsten Jahren damit zu beschäftigen haben.

Günter Abel: Ich sehe das genau so. Aber woran liegt das? Meiner Ansicht nach daran, dass eine Erweiterung der klassischen Optik dadurch stattgefunden hat, dass erkenntnistheoretische Momente nicht mehr als isolierte Momente stehen. Die Aufmerksamkeit wird dadurch auf nicht mehr im engeren Sinne sprachliche Komponenten gelenkt. Die Tatsache, dass dies noch nicht ausgearbeitet ist, hängt damit zusammen, dass der Übergang in diese Dimension noch nicht zu einer dominanten Linie geworden ist.

Peter Baumann: Auf der einen Seite kann man durchaus sagen, Fähigkeiten, Handlungen und Praxis seien grundlegend und man kann diese mit Wittgenstein in Verbindung bringen. Auf der anderen Seite hat kürzlich Jerry Fodor betont, dass diese Vorstellung von der Priorität des Handelns verfehlt ist: Man kann Handlungen und Fähigkeiten nicht verstehen, ohne zu verstehen, wie Personen denken und wie Repräsentation und Kognition funktioniert.

Andrea Kern: Das ist ein Missverständnis.

Peter Baumann: Ob das ein Missverständnis ist und wenn ja, inwiefern, können wir hier einmal dahingestellt lassen. Es gibt jedenfalls verschiedene Vorstellungen davon, was das Wichtigste ist und was man sich zuerst vornehmen müsste. Ich sehe hier Probleme, die Prioritäten richtig zu setzen.

Andrea Kern: Es gibt zwar eine Art von Pragmatismus, die sagt: wir können die Wahrheit nicht erkennen, also kümmern wir uns nur noch um das Handeln. Aber das ist eine Form von Pragmatismus, die man nicht mehr ernst nimmt. Aber hier handelt es sich um einen anderen Vorschlag, nämlich zu sagen: Wir brauchen einen Grundbegriff des Handelns nicht nur für die Handlungs-, sondern auch für die Erkenntnistheorie. Für die traditionelle Erkenntnistheorie ist damit eine gewisse Herausforderung verbunden, nämlich die Zurückweisung einer Kriteriologie der Erkenntnis.

Wo liegt die Zukunft der Erkenntnistheorie?

Günter Abel: Ein zu enges Verständnis von Erkenntnistheorie ist zu öffnen auf die vorhin von mir genannten Punkte. Es muss eine Pluralität von gleichermaßen legitimen Wissensformen ins Spiel gebracht werden. Das stört nicht den Einheitsgedanken, den wir mit der Rede von Wissen verbinden. Dabei wird es wichtig sein, dass wir uns auf die Mechanismen der Interaktionen dieser Wissensformen konzentrieren und dass nichtpropositionale Wissensformen eine stärkere Stellung bekommen. Aber letztere sehe ich nicht als fundierend, auch sehe ich das Verhältnis von Handlung und Wissen nicht als Stufenmodell, das also das eine die Voraussetzung des anderen ist. Vielmehr muss ich, wenn ich in eine Handlung eintrete, wissen: jetzt ist die Situation, dass ich eintrete. Wissen ist also schon hier im Spiel.

Ansgar Beckermann: Offenbar hat sich, wie Peter Baumann schon gesagt hat, die Agenda der Erkenntnistheorie in den letzten zweihundert Jahren sehr verschoben. Im 17./18. Jahrhundert ging es darum, auf welche Weise und in welchem Umfang man Wissen, und insbesondere auch darum, ob wie man Apriori-Wissen erwerben kann. In den letzten Jahrzehnten wurde die erkenntnistheoretische Diskussion durch die Analyse des Wissensbegriffes dominiert. Ich würde mir wünschen, dass man wieder zu den klassischen Fragen zurückkehrt.

Ich habe eine gewisse Sympathie für den Naturalismus im Sinne Quines, und ich bin skeptisch im Hinblick auf die These, dass es eine eigene Methode der Philosophie gibt. Es gibt natürlich das Problem, wie wir mit normativen Fragen umgehen sollen, die man nicht mit wissenschaftlichen Methoden beantworten kann. Ich denke, man sollte die Philosophie und auch die Erkenntnistheorie nicht abschaffen, aber Philosophen sollten zumindest mit den Naturwissenschaften ins Gespräch kommen und diesen helfen, ihre Probleme zu lösen – und vielleicht können sie dann auch uns helfen.

Was die von Herrn Abel angesprochene Öffnung betrifft: die Beschränkung auf propositionales Wissen war möglicherweise eine unglückliche Einengung. Mir scheint allerdings die Frage offen zu sein, wie stark die Gemeinsamkeiten oder Abhängigkeiten zwischen Wissen wie und Wissen dass sind. Aber die Untersuchung solcher Zusammenhänge scheint mir für die Zukunft eine fruchtbare Fragestellung zu sein.

Andrea Kern: Natürlich können wir ein Gespräch mit den Naturwissenschaften führen, aber mir ist nicht klar, wohin das führt. Es handelt sich doch um zwei ganz verschiedene Projekte. Einverstanden bin ich damit, dass die ganze Diskussion zwischen Rationalismus und Empirismus und der darauf folgende Vorschlag Kants in der eng geführten Diskussion der Erkenntnistheorie der letzten Jahre zu kurz gekommen ist. Was ich mir wünsche, ist, dass man die fähigkeitsorientierte Konzeption des Wissens ausarbeitet, um dann aus dieser neuen Perspektive die alten Fragen wieder aufzunehmen.

Peter Baumann: In der Erkenntnistheorie gibt es auch langweilige Themen, die breit diskutiert werden…

Zum Beispiel?

Peter Baumann: Ich denke da z. B. an einige Aspekte der Diskussion im Anschluss an Gettiers berühmten Aufsatz. Es gibt wirklich Themen, die ich spannender finde. Aber es gibt auch Themen, von denen mir gar nicht klar ist, ob man sie aussichtsreich behandeln kann. Die Frage nach den Grenzen des Wissens ist so eine Frage. Aber ich möchte, was Ansgar Beckermann gesagt hat, unterstreichen: Es tut der Philosophie im Allgemeinen und der Erkenntnistheorie im Besonderen nicht gut, abgeschlossen zu sein. Oft wird die Philosophie in abgeschlossenen Hinterzimmern betrieben. Ich erhoffe mir, dass die Philosophen mehr hinauskommen und mit den Wissenschaftlern reden. Auch glaube ich nicht, dass die Unterschiede zwischen beiden Gruppen so tief sind, wie oft gesagt wird.

Andrea Kern: Das ist zu allgemein gesprochen, dass wir mit den anderen Wissenschaftlern sprechen sollen. Es kommt sehr genau darauf an, mit welchen Wissenschaftlern, und das hängt wiederum davon ab, welche philosophische Konzeption wir haben.

Peter Baumann: Ein Beispiel: In der Wissenschaftstheorie, die von der Erkenntnistheorie so verschieden gar nicht ist, gibt es eine Diskussion über die Idee des Modells. Modelle spielen aber auch bei manchen Wissenschaftlern eine große Rolle. Da läge es doch nahe, etwa einmal zu den Psychologen zu gehen und mit ihnen darüber zu reden, was sie unter mentalen Modellen verstehen.

Günter Abel: Das ist aber ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Wir haben hier an der Technischen Universität ein Cluster Intelligenzforschung im Visier. Die Philosophen sind dabei mit den kognitiven Psychologen und den Kognitionswissenschaftlern zusammen. Ein zentrales Thema ist die neurokomputationale Modellierung des menschlichen Geistes. Die Naturwissenschaftler haben manchmal bei dem Thema Modellierung krude Vorstellungen (etwa, was Modelle sind und welche Funktionen Modellierungen haben), und diese haben deshalb ein höchst vitales Interesse daran, den philosophischen Imput (etwa in Sachen Modellierung) ins Spiel zu bringen. Von dieser Situation her gesehen ist die Situation für die Philosophie gegenwärtig viel besser als in den Jahrzehnten vorher. Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, in einen leeren Raum hineinzureflektieren.

DIE GESPRÄCHSTEILNEHMER:

Günter Abel ist Professor für theoretische Philosophie an der TU Berlin, Peter Baumann ist Professor für Philosophie am Swarthmore College in Swarthmore (USA) Ansgar Beckermann ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld, Andrea Kern ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig Das Gespräch wurde von Stefan Tolksdorf (TU Berlin) organisiert.

Das Gespräch erfolgte anlässlich der 1. Berliner Meta-Erkenntnistheorie Tagung zur Zukunft der Erkenntnistheorie am 10. September 2010 am Innovationszentrum Wissenschaftsforschung der TU Berlin

Die Beiträge der Tagung erscheinen in publizierter Form in: Dirk Koppelberg / Stefan Tolksdorf (Hrsg.): Erkenntnistheorie – wie und wozu?, Mentis, Paderborn, 2011.