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ESSAY

Schneiders, Werner: Aufklärung – eine europäische Aufgabe?

Aus Heft 4/2011

Die deutsche Sprache kennt das autochthone Verbalsubstantiv Aufklärung nicht zufällig in zwei verschiedenen, aber zusammenhängenden Bedeutungen. Zunächst (schon vor 1700) meint Aufklärung eine gezielte, nicht selten sogar programmatische Aktion, nämlich den Versuch, Sachverhalte zu klären sowie Begriffe zu berichtigen und diese Klärung weiterzugeben. Aufklärung in diesem noch sehr formalen Sinn ist soviel wie Erkenntnis und Erkenntnismitteilung, insofern Aufklärung seiner selbst und Aufklärung anderer (reflexive und transitive Aufklärung). Einen ersten inhaltlichen Aspekt bekommt sie durch ihre kritische, gegen Verdummungen und Verblendungen aller Art (Vorurteile, Aberglauben usw.), aber auch gegen hochemotionale oder sogar verbohrte Leichtgläubigkeit (Schwärmerei, Fanatismus usw.) gerichtete Tendenz. Dann aber bedeutet Aufklärung (schon vor 1800) im historischen Rückblick auch die konkrete geschichtliche Bewegung des 18. Jahrhunderts, die sich dem Ziel der Verbesserung der Welt durch Aufklärung verschrieben hatte, aber auch die ganze durch diese geistige und gesellschaftliche Bewegung bestimmte Epoche. Mit anderen Worten, der spezifische, historische Aufklärungsbegriff (die Aufklärung des 18. Jahrhunderts) ist sekundär, der universale, programmatische Aufklärungsbegriff (Aufklärung als kritische geistige Tätigkeit) primär, und in diesem universalen und formalen, basalen Sinn steht Aufklärung jederzeit an und kann in unterschiedlichen Schüben aktuell werden.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die Aufklärung im engeren Sinn des Wortes, war insofern nur eine bestimmte Ausprägung der Aufklärungsidee, aber in ihrer geschichtlichen Gestalt ist sie bis heute noch vielfach wirksam. Und so wie in nahezu allen Reflexionen über Aufklärung beide Perspektiven involviert sind, so ist auch jeder Versuch einer Aufklärung nach der Aufklärung, wie auch der wiederholte Versuch einer Aufklärung über Aufklärung, durch die Erinnerung an die Aufklärung, die sich als erste diesen Namen gegeben hat, mitbestimmt. Dann ergeben sich z.B. folgende Fragen: Wie stellt sich uns die Aufklärung des 18. Jahrhunderts heute dar? Welcher Art sind die Grundprobleme aller Aufklärung? Gibt es, auf dem Hintergrund der europäischen Aufklärung, gegenwärtig besondere Aufgaben einer zeitgemäßen Aufklärung?

Aufklärung als historisches Phänomen

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts verstand sich selbst ausdrücklich als Aufklärung des Verstandes bzw. der Vernunft. Faktisch wollte und war sie jedoch weit mehr, das Verständig- oder Vernünftigwerden sollte fast nur ein Mittel zur Erreichung weitreichender Ziele sein. Die „Verbesserung des Verstandes“ sollte der „Verbesserung des Willens“ dienen, d.h. die Menschen sollten durch Vernunfteinsicht moralischer und dadurch glücklicher werden. Doch ging es auch, wenn nicht explizit, so doch implizit, um Freiheit, innere und äußere Freiheit, nämlich individuelle Freiheit, um Glaubensfreiheit, Denkfreiheit und zuletzt auch politische Freiheit, zunächst und vor allem jedoch um die Befreiung bzw. Selbstbefreiung vom „Joch“ der überlieferten Denkmechanismen und insofern um innere Freiheit. Dies alles aber war, wenn überhaupt, nur gegen innere und äußere Widerstände zu erreichen. Daher war die Aufklärung wesentlich oppositionell oder negativ, also vor allem Kritik. Aufklärung als Kritik aber ist notwendigerweise, auch wenn sie keineswegs alle Überlieferungen in Frage stellt, mehr zukunfts- als traditionsorientiert; sie wendet sich mit Nachdruck gegen alle unhinterfragt überlieferten Vorstellungen, die sie für falsch hält, und diese sind nicht selten veraltet und erstarrt. Als geistige und gesellschaftliche Reformbewegung war die Aufklärung eine Kulturrevolution, die offensichtlich in vielen Ländern an der Zeit war.

Die Aufklärung als geschichtliche Bewegung entstand gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Reaktion auf die Misere der Zeit. Die Politik war durch absolutistische Tendenzen geprägt, die Religion durch endlose konfessionelle Streitigkeiten und Kriege. Die aufblühende moderne Wissenschaft hingegen schien die Entdeckung sicherer Wahrheit zu ermöglichen und so für die Etablierung eines Reiches der Vernunft ein Modell zu liefern. Auf diesem Hintergrund entstand die Aufklärung nahezu gleichzeitig gegen Ende des 17. Jahrhunderts in den sogenannten europäischen Kernländern (England, Frankreich, Deutschland) und breitete sich später in andere Länder aus. Überall geht es mehr oder weniger um die gleichen Ziele: Vernunft und Freiheit, Glück und Moral, genauer gesagt, Glück durch Tugend. Überall geht es mehr oder weniger gegen die gleichen Feinde: Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus. Es geht um eine vernünftige Religion und eine vernünftige Daseinsordnung, daher z. B. um Toleranz und die natürlichen Rechte des Menschen. Und der Weg dazu ist das klare und richtige Denken, vor allem aber das Selbstdenken, das individuelle freie und selbständige Denken. Rationalität und Authentizität des Individuums sind, wenn die Welt in Ordnung kommen soll, unabdingbar. So wird in einer Art anthropologischer Wende die Dominanz der Theologie gebrochen.


Genauer betrachtet stellte sich die voraufklärerische geistige und gesellschaftliche Situation in den verschiedenen Ländern allerdings sehr unterschiedlich dar und folglich auch die darauf reagierende Aufklärung. Während sich Großbritannien nach der Glorious Revolution von 1688 relativ konfliktfrei und kontinuierlich geistig und gesellschaftlich entwickeln konnte, herrschten in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert noch enorme religiöse und politische Spannungen. Frankreich, das sich seit dem Beginn der Neuzeit nach blutigen Kämpfen zu einem großen konfessionell geeinten Nationalstaat entwickelt hatte, war zumindest äußerlich eine – im Bund mit der katholischen Kirche – zentral und absolutistisch regierte Monarchie, die keine Ketzer duldete. Hier bestand die fortschrittliche geistige Elite zum größten Teil aus oppositionellen Literaten, die zwar gegebenenfalls ihren Mäzenen, nicht aber dem Staat unmittelbar verpflichtet waren. Sie dachten und schrieben in innerer oder äußerer Emigration. Deutschland hingegen, d. h. der Sprachraum, den man im Nachhinein als Deutschland bezeichnen kann, war in zahllose mehr oder weniger autonome Herrschaftsbereiche mit unterschiedlichen politischen Strukturen und unterschiedlichen konfessionellen Verhältnissen zersplittert und fast nur durch die Sprache als Kulturraum geeint. Dabei spielten die vielen kleinen Universitäten, die ihre Existenz dem Ehrgeiz und dem Bedürfnis der vielen kleinen Fürstentümer verdankten, eine führende Rolle. Die Aufklärer waren, zumindest zunächst, in aller Regel gelehrte Beamte, vor allem Universitätsprofessoren, die meist nur vorsichtige Reformen anstrebten. Diese und andere nationale Verschiedenheiten zwischen Deutschland und Frankreich mussten auch die Aufklärung – als eine der Zukunft verpflichtete Antwort auf eine geschichtliche Situation – bestimmen, und dies macht sich nicht zuletzt in den Politik- und Philosophiekonzeptionen bemerkbar.

Philosophie- und Politikkonzeptionen

In Frankreich denken die Politiktheoretiker (ähnlich wie in England) von vornherein großräumiger, kenntnisreicher und grundsätzlicher; sie kritisieren die absolutistische Monarchie und entwickeln neue Staatsideale. Montesquieu, der zeitweise Parlamentspräsident von Bordeaux und stark von Locke beeinflusst war, äußert sich zwar nur vorsichtig zu den politischen Zuständen seines Landes, neigt aber deutlich zu einer konstitutionellen Monarchie mit Gewaltenteilung. Er glaubt allerdings nicht, dass jede Regierungsform gleichermaßen für jedes Land und jede Zeit geeignet ist; die Regierungsform muss zur Natur und zur Geschichte des Landes passen. Damit geht er schon deutlich über den abstrakten Gedanken eines Gesellschafts- oder Staatsvertrages hinaus. Dieser steht zwar bei Rousseau, der durch seine Genfer Herkunft mit der Idee des republikanischen Stadtstaates vertraut war, noch im Mittelpunkt seiner Staatsphilosophie, wird aber durch die Idee einer normativen nationalen Willensgemeinschaft mit neuem Inhalt gefüllt. Für Rousseau, der die mit der französischen Zentralmonarchie verbundene Luxuskultur verachtet, ist der Mensch zwar frei geboren, zur Zeit aber nur noch ein Gefangener der depravierten Verhältnisse. Eigentlich sollte seine natürliche Freiheit in eine bürgerliche Freiheit und damit in eine echte Volksgemeinschaft übergehen. So denken die beiden prominentesten Politikphilosophen der französischen Aufklärung, indem sie praktisch-prinzipiell denken, auch schon über die Aufklärung hinaus.

In Deutschland gibt es vor Kant keine politischen Denker vom Range eines Montesquieu oder Rousseau. Die Politik als ‚Wissenschaft’ ist ein Teil der überlieferten praktischen Philosophie und wird an den Universitäten weitgehend noch in der peripatetischen Tradition als größtenteils lebensfernes Lehrfach abgehandelt; ihre abstrakte schulmäßige Erörterung hat meist wenig Beziehung zur politischen Wirklichkeit, d.h. zu den jeweiligen konkreten Verhältnissen. Wohl aber zeigt sich in Deutschland in der vielfach bearbeiteten Naturrechtslehre, in der nach einer verbindlichen Ordnung des Lebens gesucht wird, ein oftmals vorsichtig verhülltes Interesse an den Problemen einer vernünftigen Staatsordnung. Der Staat wird naturrechtlich legitimiert, aber auch limitiert; er hat eine moralische Grundlage, und seine Bürger haben wie auch sein Regent moralische Pflichten, die, wenigstens zum Teil, in Rechtspflichten umgewandelt werden können. Durch diese Behandlung der Staatslehre im Rahmen einer Lehre vom richtigen Recht, die durch die Erörterung der Politik in der Klugheitslehre ergänzt wird, werden die Fragen des Staats und der Politik zu ‚moralischen’ Rechtsfragen, wodurch dann, im Zuge der Ausarbeitung der Theorie, indirekt ein Reformdruck auf die Praxis erzeugt wird. Im übrigen werden später auch in Deutschland die Einflüsse von Montesquieu und Rousseau wichtig.

Auch für das Verständnis bzw. Selbstverständnis der Philosophie war die unterschiedliche Ausgangssituation der Aufklärung in Deutschland und Frankreich von entscheidender Bedeutung. In Deutschland, dem Land der Universitäten, war die Selbstreflexion der Philosophie eine Angelegenheit von Professoren; sie fand hauptsächlich in Lehrbüchern, und zwar meist im Rahmen der Logik, als eine Art Prolegomenon, statt. Allerdings schlagen in diesem Prozess der Selbstverständigung mehr und mehr auch wesentliche Motive der Aufklärung, sowohl rationalistische wie emanzipatorische Motive, durch. Philosophie wurde, vereinfacht gesagt, zunächst (z. B. bei Thomasius) unter Rückgriff auf alte Definitionen als Hilfsdisziplin der höheren Wissenschaften und insbesondere als Vorstufe oder Magd der Theologie verstanden, zugleich aber auch schon in praktischer Hinsicht, relativ unabhängig von aller Offenbarungstheologie, als dem zeitlichen und dem ewigen Wohl dienlich. Philosophie ist Ursachenforschung oder Prinzipiendenken, aber auch Frage nach dem Guten. Wenn sie dann (zuerst bei Wolff) als Erkenntnis alles Möglichen aus bloßer Vernunft begriffen wird, beginnt sie sich deutlich von ihrer religiösen Abhängigkeit zu befreien, um zuletzt (bei Kant) als lehrbare und lernbare Wissenschaft von den wesentlichen Zwecken des Menschen eine neue anthropologische Autonomie zu beanspruchen.

Während es den Gelehrten in Deutschland vorrangig um den Philosophiebegriff geht, gilt in Frankreich, wo die Aufklärer von Anfang an freie Schriftsteller waren, das Interesse eher dem Philosophen als Person. Wäh-rend in den akademischen Philosophiedefinitionen der deutschen Universitätsprofessoren das Subjekt der Philosophie, der Philosoph, völlig zugunsten des Objekts oder Themas der Philosophie zurücktritt und der Philosoph fast nur allgemein, z. B. als Mensch, der das Glück sucht, in Erscheinung tritt, interessiert sich der engagierte Literat in Frankreich nachdrücklich für die eigene Existenz, nämlich für den Philosophen, der als empirisches oder sogar materielles Lebewesen und darüber hinaus als politischer Intellektueller gesehen wird. Hier emanzipiert sich der philosophe aus den akademischen Diskussionen und tritt als Figur des öffentlichen Lebens auf. Der Philosoph ist Gesellschaftsmensch, und er denkt im Interesse der Gesellschaft mit Vorliebe über gesellschaftliche Probleme nach. Er ist der berufene Kritiker der Gesellschaft, wie sie ist, und damit auch der Propagator der Gesellschaft, wie sie sein sollte. Er ist Aufklärer, nämlich militanter Philosoph. Sein Denken kreist vor allem um den Menschen.

Trotz aller gravierenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern und trotz des darin – bei allem kosmopolitischen Anspruch – begründeten nationalen Charakters der Aufklärung ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ein gesamteuropäisches Phänomen. Sie versucht, vor allem mit Hilfe der Philosophie, wie noch nie seit der Entwicklung engagierten und kritischen Denkens in der Antike, mit Irrtümern und Vorurteilen, Verblendungen und Verdummungen aufzuräumen. Aber sie setzt nicht nur auf wahres und klares Denken, sie will auch, dass die Menschen frei und selbst denken. Überall geht es ihr um Vernunft und Moral, Glück und Freiheit. Dabei wird sie unweigerlich, trotz mancher pessimistischer Ahnungen (auch von einer Dialektik aller Aufklärung), von einem gewissen Fortschrittsoptimismus getragen, nämlich von der Hoffnung auf eine Zunahme von Vernunft und Freiheit. In diesem Sinne war die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ein prinzipiell gesamteuropäisches historisches Phänomen.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlahmt allerdings der Elan der Aufklärung, jetzt erstarken die immer vorhandenen gesellschaftlichen und emotionalen Widerstände zu programmatischen Gegenbewegungen. Die neuen Feinde der Aufklärung verachten die Aufklärung als naiv und borniert, sie bekämpfen deren angeblich platten Radikalrationalismus im Namen einer neuartigen Gefühlskultur (die allerdings nicht zuletzt durch die emanzipative Energie der Aufklärung möglich geworden war). Sie bekämpfen das Fortschrittsdenken im Namen eines neuen reflektierten Traditionalismus und Konservativismus (der allerdings erst durch die Aufklärung ermöglicht worden war) und bleiben dem Fortschrittsdenken dennoch verpflichtet, nicht zuletzt durch die Entwicklung einer modernen Geschichtsphilosophie. Außerdem wurde die Aufklärung als Reformbewegung in vielen Kreisen durch das Ereignis der Französischen Revolution, die als Versuch einer Machtergreifung der Aufklärer angesehen werden konnte, diskreditiert. Aufklärung konnte nicht nur als naiv und borniert erscheinen, sondern auch als gefährlich, staats- und religionsfeindlich. Am Ende galt Aufklärung als endgültig gescheitert. Aber natürlich war sie in ihrer geschichtlichen Ausformung auch in manchen Hinsichten überflüssig geworden, weil sie vielfach bis in die gesellschaftliche Praxis (z. B. im Rechtswesen) hinein erfolgreich gewesen war. Die Bewertung der Aufklärung bleibt jedenfalls ambivalent, von der eigenen Weltanschauung abhängig. So oder so, positiv wie negativ, sind wir allerdings alle Kinder der Aufklärung und müssen auch mit deren Folgelasten fertig werden.

Aufklärung als prinzipielles Problem

Wie ist Aufklärung möglich? Wie ist es möglich, zur Besinnung zu gelangen, Verdummungen oder Verblendungen zu durchschauen, für die Wahrheit offener zu werden? Wie ist es möglich, eine kritische Mentalität zu erzeugen oder zu verbreiten, Menschen zur Besinnung zu bringen oder nachdenklich zu machen? Sind nicht schon die nächsten Ziele der Aufklärung, Vernunft und Freiheit, unerreichbare Ideale, verführerische Illusionen?

Auf den ersten Blick scheint Aufklärung kein besonderes Problem darzustellen. Aufklärung ist der gezielte Versuch, verdeckte Tatsachen oder Wahrheiten aufzudecken, sie im Gegenzug zu den vorhandenen Täuschungen ans Licht zu ziehen oder sie ins rechte Licht zu rücken. Aufklärung ist der Versuch, engagiert für die Ausbreitung von Vernunft und Freiheit zu arbeiten. Natürlich sind Vernunft und Freiheit selbst noch diskussionsbedürftige Begriffe, aber um die Ziele der Aufklärung zustimmungsfähig erscheinen zu lassen, genügt offensichtlich ein nicht unerreichbarer Minimalkonsens. Vernunft (theoretische Vernunft), könnte als das Vermögen verstanden werden, Zusammenhänge, z. B. Voraussetzungen und Konsequenzen, zu beachten. Vor allem aber ist Vernunft (praktische Vernunft) nicht ohne grundsätzliche Offenheit für das Gute oder Richtige zu verstehen. Allgemeine Freiheit als unverzichtbares Postulat ergibt sich daraus, dass ich nur absurderweise wollen könnte, dass alle Menschen außer mir wie Sklaven oder Tiere gehalten werden sollten, meine Marionetten sein sollten. Mit anderen Worten: Selbstbestimmung, in welchem Rahmen auch immer, gehört zum Wesen des Menschen. Vernunft und Freiheit lassen sich eigentlich nicht nicht-wollen. Ohne ein Minimum von Vernunft und Freiheit sind auch Glück und Moral nicht erreichbar.

Aufklärung, Aufklärung seiner selbst und Aufklärung von anderen, geschieht überall und jederzeit, über alles Mögliche und auf allen Ebenen, nämlich als Erkenntnis und Erkenntnismitteilung. An sich muss jeder Mensch nicht nur als aufklärungsbedürftig, sondern auch als aufklärungsberechtigt, vor allem aber auch als aufklärungsfähig gelten, d. h. als fähig, sich selbst und andere aufzuklären, und natürlich auch, sich von anderen aufklären zu lassen. Allerdings gibt es faktisch zahllose unterschiedliche Arten und Grade von Aufklärung. Menschen sind z. B. mehr oder weniger aufklärungswillig bzw. aufklärungsresistent. Ganze Gesellschaften können sich, zumindest zeitweise, gegen Kritik geradezu immunisieren. Und nicht überall finden sich Menschen, die ernsthaft daran interessiert sind, andere entgegen allen Widerständen gründlich aufzuklären. Mit anderen Worten, erste grundsätzliche Probleme gibt es sowohl auf Seiten der Aufklärer wie auch ihrer Adressaten. Folglich auch in der Beziehung zwischen beiden oder in der Aufklärung als Aktion, jedenfalls immer dann, wenn es um wesentliche Fragen geht. Und natürlich muss Aufklärung als eine geschichtliche Reaktion auf eine geschichtliche Situation in immer anderen Gestalten auftreten.

Wenn jeder Mensch erkenntnisbedürftig und auch mehr oder weniger lernfähig ist, dann kann er sich selbst aufklären, und er kann sich aufklären lassen – Aufklärung im weitesten Sinne des Wortes verstanden. Allerdings wissen die meisten Menschen anscheinend gar nicht, wie aufklärungsbedürftig sie sind. Unwissenheit schützt sich selbst durch Unwissenheit, d. h. allein schon durch ihren Mangel an Selbsterkenntnis. Aber der Mensch kann sich auch seiner Unwissenheit bewusst sein oder werden, sich ihrer sogar schämen und sich dann dennoch oder gerade deshalb gegen jede unerbetene Wissenszumutung wehren. Aufklärung als gründliche Erkenntnis, vor allem als Selbsterkenntnis, setzt ein Minimum an Offenheit für die Wirklichkeit bzw. Wahrheit voraus, eine echte Bereitschaft zur Einsicht in die Möglichkeit des eigenen Irrens, kurz, eine gewisse innere Freiheit und einen guten Willen. Fanatische Glaubenskrieger sind in der Regel aufklärungsresistent. Als innere, geistige Selbstbefreiung könnte Aufklärung, nämlich Aufklärung seiner selbst, sogar eine gewisse moralische Anstrengung erfordern. Neue Wahrheiten können nämlich doppelt unangenehm sein, nicht nur, weil sie vielleicht als solche, d. h. aufgrund ihrer Inhalte, schmerzhaft sind, sondern auch, weil sie das, was bisher für wahr gehalten wurde, als unwahr offenbaren, und damit auch mein falsches Bewusstsein offenlegen. Auch wer im Prinzip aufklärungswillig ist, muss noch nicht konkret aufklärungsfähig sein. Aufklärung als Kritik ist immer auch zerstörerisch; sie zerstört immer irgendeinen Schein, auch wenn sie ihn nur durch einen neuen ersetzt, und stört so mein selbstzufriedenes Selbstbewusstsein. Jedenfalls gibt es meist viele, oft nur schwer durchschaubare Interessen (Vorlieben, Abneigungen usw.), sich gegen jede wesentliche Aufklärung zu immunisieren. Außerdem werden die eigenen Interessen, wesentliche Wahrheiten nicht zur Kenntnis zu nehmen, nicht selten von irgendwelchen Personen oder Institutionen unterstützt, die sich ebenfalls schon in der Wahrheit zu sein wähnen und andere vor dem Licht der Kritik schützen wollen, wenn nicht sogar die Menschen dumm halten wollen. So oder so gibt es zahllose innere und äußere Widerstände gegen Aufklärung.

Allerdings gibt es auch auf Seiten der Aufklärer bzw. derer, die Aufklärer sein wollen oder glauben, Aufklärer sein zu können, immer wieder Defizite. An sich ist jeder berechtigt, jeden anderen (ebenso wie sich selbst) aufzuklären, nicht selten sogar verpflichtet, anderen Menschen seine Erkenntnisse mitzuteilen. Aber natürlich sind nicht alle Menschen, auch wenn im Prinzip alle berechtigt sind, andere Menschen aufzuklären, gleichermaßen fähig, andere über wesentliche Wahrheiten zu belehren oder gar als Lehrer der Menschheit aufzutreten. Dazu müssten sie sich eigentlich erst einmal selbst zureichend aufgeklärt haben, wovon Aufklärer natürlich in der Regel ausgehen; sie müssten zumindest partiell oder punktuell geistig weiter sein als andere und dies auch wissen bzw. zu wissen beanspruchen. Um aufklären zu wollen, bedarf es einer Selbstermächtigung, die nach außen fast unvermeidlich als Arroganz erscheinen muss. Im Grunde geriert sich allerdings jeder, der irgendeinem anderen irgendeine eigene Erkenntnis mitteilen will und sich insofern als Aufklärer versteht, als klüger.
Aufklärer müssen aber nicht nur über eine an Hochmut grenzende Selbsteinschätzung verfügen, sie müssen auch den Mut haben, mit ihren Wahrheitsansprüchen an andere heranzutreten. Aufklärung ist meistens gefährlich, und zwar doppelt gefährlich. Zunächst für den Aufklärer selbst, der nicht selten unerwünscht ist. Die etablierten, d. h. gängigen und nicht selten institutionell sanktionierten Meinungen (Weltanschauungen, Ideologien usw.) werden sich immer gegen Kritik wehren, mit welchen Mitteln auch immer. Insbesondere aber ist Aufklärung für den, der aufgeklärt werden soll und sich gegebenenfalls sogar aufklären lässt, gefährlich, denn Aufklärung ist wesentlich zerstörerisch. Die Inhalte der etablierten Vorstellungen von Gott und der Welt dürften in aller Regel mehr (wenn auch fraglichen) Gehalt haben, als die Kritik je haben kann und folglich zunächst mehr Halt bieten als die zumeinst dürren Wahrheiten der Aufklärer, die, weil im Prinzip immer kritisch, wesentlich negativ sind. Die selbsternannten Aufklärer müssen sich daher fragen und fragen lassen, welche Wahrheit, genauer gesagt, womöglich auch nur vermeintliche Wahrheit, sie als Ersatz für die im gegebenen Fall vermeintlich vorhandene Wahrheit anbieten. Aufklärung ist keine Ersatzreligion, die eine tradierte Religion ersetzen könnte, sie ist zunächst nur eine Aufforderung und ein Versuch zu nüchternem Selbstdenken. Und es wird immer Menschen geben, die nach Wundern und anderen metaphysischen Bestätigungen für die von ihnen geglaubte Wahrheit verlangen, mit Wunder- und Heilslehren aber kann keine Aufklärung konkurrieren. Aufklärung ist in der Regel armselig und langweilig, geradezu trostlos. Wem also dürfen wir welchen Glauben nehmen, welche Traditionen dürfen wir noch welcher Zukunft opfern? Die Folgekosten von Aufklärung könnten enorm sein. Die Art der Aufklärung wird jedenfalls immer strittig bleiben, d.h. selbst ein Thema der Aufklärung, einer selbstreflektierten Aufklärung, bleiben. Vielleicht gibt es auch eine superstitio tolerabilis.

Aus allen diesen und noch vielen anderen Gründen sollte man nicht zuviel von irgendwelchen Aufklärungsversuchen erwarten, vielleicht sind die meisten Menschen faktisch aufklärungsresistent, also letztlich unverbesserlich. Aufklärer müssen sich im Klaren darüber sein, dass ihre Aufklärung diejenigen, die Aufklärung am nötigsten hätten, wahrscheinlich am wenigsten erreicht. Vermutlich ersetzen die meisten sogenannten Aufklärer auch nur ein Vorurteil durch ein anderes und nur mit etwas Glück durch ein vernünftigeres. Der Erfolg weitreichender Aufklärung ist jedenfalls ungewiss, das Ergebnis von Aufklärung fraglich. Aufklärung muss aber auch schon deshalb scheitern, weil Unaufgeklärtheit (Unwissen und Verblendung) immer wieder nachwächst. Es gibt keine endgültige Aufklärung. Aufklärung ist Sisyphos; sie ist unvollendbar, weil sie immer von neuem beginnen muss. Andererseits ist Aufklärung offensichtlich immer möglich und vor allem nötig, sachliche Klarheit und kritische Nachdenklichkeit sind unverzichtbar, und vielleicht sogar verbreiteter, als viele Möchtegernaufklärer meinen; denn Selbstverblendung oder Selbstverdummung sind zwar, wie offensichtlich, nicht unmöglich, aber auch oftmals schwer durchzuhalten. Geistiges Wachwerden dürfte im Prinzip jederzeit möglich sein, also auch geistiges Wecken. Insofern ist Aufklärung ein permanentes Problem. Aufklärung scheitert zwar immer, kann aber im Prinzip nicht aufhören.

Aufklärung erfolgt selten unter günstigen Vorzeichen. Auf der einen Seite gibt es Interessen, vor allem Ängste aller Art, nicht zuletzt die Angst vor der Wahrheit. Auf der anderen Seite gibt es nicht selten Fehleinschätzungen aller Art, insbesondere übertriebene Erwartungen und Ansprüche. Aufklärung mit Augenmaß ist immer wieder ein echtes Problem. Als Kritik ist sie unvermeidlich desillusionierend, und es fragt sich, wem welche Aufklärung in der jeweiligen Situation zuzumuten ist. Daher darf man zwar von den Aufklärern Reflexion und Selbstkritik erwarten, aber es ist offenbar, dass, weil jede Erkenntnis von irgendwelchen Voraussetzungen ausgeht, auch Aufklärung immer wieder in der Gefahr steht, selbst dogmatisch zu werden. Vielleicht muss es, zunächst oder auch für immer, genügen, die Wahrheitssuche zu fördern und, statt neue Wahrheiten zu verkünden, die letztlich unaufhebbare Unvernunft des Menschen etwas reflektierter oder selbstkritischer zu machen. Denn was ist die Alternative zur Aufklärung? Ist nicht auch die sogenannte Gegenaufklärung, die Aufklärung über die Mängel und Grenzen der Aufklärung, noch eine Aufklärung (wenn auch deren Schwundstufe)? Aufklärung scheint so oder so unverzichtbar zu sein. Aufklärung als Zwangstherapie und Schwertmission wäre allerdings ein Widerspruch in sich. Aufklärung kann immer nur Angebot und Appell sein. Selbstaufklärung ist die schwerste Arbeit.

Aufklärung als europäische Aufgabe?

Die Grundprobleme der Aufklärung sind so aktuell wie kaum je zuvor. Zwar sind möglicherweise einige alte Vorurteile seltener, einige Schwärmereien obsolet geworden. Dennoch ist unverkennbar: Die Welt ist voller Schwachsinn. Vernunft und Freiheit sind wie immer höchst gefährdet. Wie soll sich also Aufklärung weiter entwickeln, wie ist die Verbreitung einer kritischen oder besonnenen und gründlichen Mentalität möglich? Theoretisch können sich zwar alle Menschen aufklären lassen, theoretisch können sogar alle Menschen (sich selbst und andere Menschen) aufklären. Faktisch gibt es jedoch immer wieder Menschen, die weder sich selbst noch andere aufklären können und sich auch nicht aufklären lassen können bzw. wollen. So stehen sich auch heute geistig selbstgenügsame und nachdenkliche, dogmatisch indoktrinierte und kritisch selbstdenkende Menschen (oder ganze Menschengruppen) verständnislos gegenüber. Und daher fragt sich: Welche Rolle spielt Europa in diesem Zusammenhang? Wo hat es im Hinblick auf die Aufklärung seinen wahren geschichtlichen Ort und wie kann es sich mit Blick auf die Zukunft positionieren?

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war in einem mehrfachen Sinne eurozentrisch. Sie war selbstbezogen europäisch aus dem einfachen Grunde, weil sie in Europa entstanden und ursprünglich in Europa zuhause war. Europa, im Sinne einer Kulturgemeinschaft, einer geschichtlich geprägten Denk- und Gefühlskultur, also eines geistigen Kontinents, ist das Mutterland der Aufklärung. Aber auch hier war sie nicht gleichermaßen verbreitet, sondern hauptsächlich in West- und Mitteleuropa, und selbst die sogenannten Kernländer der Aufklärung waren sich nicht einig darüber, was die wahre Aufklärung sei und wer die wahre Aufklärung sein eigen nennen könnte. Manchen galt sogar eine einzige Stadt wie Paris als die wahre Kapitale der Aufklärung. Und da den Europäern im 18. Jahrhundert und noch lange danach Europa als Mittelpunkt der zivilisierten Welt galt, war die Aufklärung auch ideologisch europafixiert. Ganze Länder und Kontinente galten dem aufklärungsstolzen (wie auch dem aufklärungskritischen) Europa bis ins 20. Jahrhundert als nicht zivilisations- und daher auch als nicht aufklärungsfähig bzw. nicht aufklärungswürdig. Dennoch wurde Aufklärung auch exportiert, nicht nur aus dem Zentrum in andere europäische Länder, der Kulturtransfer war im 18. Jahrhundert nicht zuletzt auch Aufklärungsexport. Und dieser geschah zumindest zum Teil wissentlich und willentlich. Die europäischen Aufklärer glaubten, obwohl selbst national geprägt und meist patriotisch gesinnt, eine kosmopolitische Mission zu haben, sie sahen sich als Lehrer oder Ärzte der Menschheit. Aber soll Europa, falls es heute überhaupt aufgeklärter als andere Kontinente ist und falls es die Verbreitung von Vernunft und Freiheit noch anstrebt, immer noch auch andere Länder oder Kontinente mit alter oder auch neuer europäischer Aufklärung konfrontieren?

Aufklärung ist in Europa immer wieder, wenn auch keineswegs immer unter diesem Namen, trotz aller Gegenbewegungen als wesentliche Aufgabe erfahren worden. Immer wieder hat es Anläufe zu einer radikalen Selbstbesinnung und Neuorientierung, Versuche eines Umsturzes der herrschenden Weltanschauung im Namen von Vernunft und Freiheit gegeben. Insofern hat Aufklärung, die nicht zuletzt Kritik von obsolet gewordenen Traditionen ist, in Europa selbst eine gewisse Tradition. Aber hat Europa deshalb auch schon eine besondere Aufklärungskompetenz oder sogar ein nicht nur historisches Aufklärungsprivileg? An sich oder im Prinzip dürften, wie gesagt, eigentlich alle Menschen aufklärbar und aufklärungsfähig sein. Jeder Mensch kann wesentliche Erkenntnisse, sachkritische und selbstbefreiende, welt- und lebensbestimmende Erkenntnisse, gewinnen und weitergeben, also reflexive und transitive Aufklärung zumindest versuchen. Insofern gibt es kein Aufklärungsprivileg. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass z. B. Vernunft und Freiheit nicht – nicht einmal als Werte, Ideale oder Postulate – für alle Menschen den gleichen Rang besitzen, dass es sogar ausgesprochen aufklärungsresistente Menschen und Menschengruppen gibt, dass es immer wieder besondere Zentren und Zeiten engagierter Aufklärung gibt. Menschen, auch ganze Länder oder Völker, sind nicht überall gleichermaßen aufklärungsinteressiert. Individuelle und kollektive Situationen, geistige und gesellschaftliche Entwicklungsstufen, Ideologien und Interessen sind nicht selten grundverschieden. Deshalb dürfte es, zumindest für Europäer, eine legitime Frage sein, ob Europa der Aufklärung in besonderem Maße verpflichtet ist, ob Europa ein Hort der Aufklärung ist, ob Aufklärung eine besondere europäische Aufgabe, eine Herausforderung oder Verpflichtung, darstellt – nicht im Sinne einer geistigen Kolonialisierung, sondern als mögliche Hilfe bei der immer noch nötigen Selbstfindung der Menschen.

Wenn Aufklärung, also kritische Erkenntnis und Erkenntnismitteilung (oder, wenn man so will, Nachdenklichkeit und Selbstbesinnung), etwas ist, was im Prinzip jederzeit von jedem Menschen verlangt und bis zu einem gewissen Grade auch geleistet werden kann, dann ist Aufklärung, um es nochmals zu wiederholen, im Grunde überall und jederzeit nötig und möglich. Theoretisch kann jeder jederzeit sich selbst und jeden anderen aufklären. Faktisch allerdings nicht. Außerdem muss das, was jeweils wirklich an Aufklärung nötig ist, immer strittig bleiben, und was wirklich möglich ist, kann nicht theoretisch, sondern nur durch die Tat, d. h. wirksames Wollen und Handeln, erwiesen werden. Wer sich selbst aufklären will, d.h. sich aus den möglicherweise vorhandenen Fesseln von Verblendung und Verdummung, nicht zuletzt von Selbstverblendung und Selbstverdummung, befreien will, muss sich anstrengen, geistig und auch moralisch anstrengen. Und wer aufklären will oder meint, aufklären zu müssen, muss sich selbst als aufgeklärt bzw. aufgeklärter als andere behaupten und sich so zum Aufklärer ermächtigen (auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen).

Ob Europa in diesem Zusammenhang noch eine besondere Rolle zukommt, kann sich nur durch das, was aufgrund des Selbstverständnisses seiner Menschen gewollt und getan wird, erweisen. Vielleicht ist Europa als Heimat der Aufklärung, also aufgrund seiner Geschichte, zur Aufklärung besser geeignet oder sogar prädisponiert, vielleicht gibt es hier immer noch ein größeres Potential an eigenständiger gründlicher und besonnener Wahrheitssuche. Und vielleicht lässt sich diese kritische Mentalität, so schlecht die Chancen auch stehen mögen, sogar verbreiten – so wie es die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zumindest begonnen hatte. Zwar kann die Aufklärung des 18. Jahrhunderts heute nur noch sehr bedingt als ein Modell für die Problemlösungen, die inzwischen nötig sind, dienen; sie ist vor allem das klassische Fallbeispiel und insofern ein namengebendes Paradigma für Aufklärung. Zwar sind die Aufklärungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts alle problematisch genug; vermutlich waren sie – trotz oder auch wegen ihrer eigenen Illusionen – destruktiver als alle anderen je zuvor. Aber in Europa gibt es anscheinend immer noch ein kritisches Nachdenken über die wesentlichen Fragen der menschlichen Existenz, insofern auch immer wieder eine traditionsbewusste Aufklärung, Streit um die wahre Aufklärung und Hoffnung auf Vernunft und Freiheit. Es bedarf keiner besonderen Europhilosophie, um sich hier zur Aufklärung berufen oder verpflichtet zu fühlen. Aber es ist auch durchaus möglich, dass Europa endgültig zum Museumsdorf wird.

Europa hat nicht nur Probleme im eigenen Haus. Europa hat, indem es die Welt zu erobern und zu kolonisieren versuchte, mit mehr oder weniger Erfolg, auch seine Kultur in alle Welt verbreitet, nicht nur seine Religion, nicht nur Wissenschaft und Technik, sondern, zumindest in Ansätzen, auch den kritischen Geist der Aufklärung. Nun aber kommt das, was Europa in seine Außenwelt exportiert hat, als gefährliche Gegenwelt auf es selbst zurück. Denn die zunächst in Europa entstandene Wissenschaft und Technik hat sich längst verselbständigt, ihre weltanschaulichen Entstehungsbedingungen hinter sich gelassen und nimmt jetzt außerhalb Europas sogar bedrückend gigantische Formen an. Aber auch die Verbreitung eines ‚westlichen Geistes’ hat sich als nicht ungefährlich erwiesen. Damit werden nämlich in vielen Ländern nicht nur neue Bedürfnisse, z. B. politische Demokratiebewegungen, provoziert, die Mentalität der sogenannten westlichen Welt stößt auch immer wieder auf sehr emotionale, stark traditionalistische, vor allem religiöse Gegenbewegungen. Und diese reichen jetzt bis nach Europa zurück und bedrohen dessen freiheitliche Ordnung, weil sie sich immer wieder in terroristischen Aktionen entladen. Insofern besteht auch ein existentielles Interesse an der Verbreitung von Aufklärung, von kritischer Mentalität. Etwas mehr Selbstanfechtung wäre zweifellos überall hilfreich, denn überall in der Welt sterben und töten Menschen für ihre Wahnvorstellungen.

Allerdings hat jeder, der aufklären will, auch eine Verantwortung für den, den er aufklären will. Welche alten (vermeintlichen) Irrtümer sind zu bekämpfen, wem sind welche neueren (vermeintlichen) Wahrheiten jetzt und hier zuzumuten? Diese Aufforderung zur Vorsicht und Verantwortung, zu maßvoller (nicht: prinzipiell gemäßigte) Aufklärung, wenn man so will, wird noch dringender, wenn es um das Verhältnis der europäischen Aufklärung zu den ‚nicht-westlichen’ Ländern oder Kontinenten geht. Mit welchem Recht dürfen wir, wie schon Wissenschaft und Technik, europäische Zivilisation oder Kultur, auch Aufklärung in alle Welt exportieren: sowohl die Ideen der Aufklärung (Vernunft und Freiheit, Menschenrechte und Toleranz usw.) als auch die Aufforderung zum individuellen, selbstkritischen und selbständigen Denken? Das Dilemma ist klar, es ist ein altes, nun aber potenziertes, nicht mehr nur europäisches Dilemma. Einerseits gilt: Wer Aufklärung will, muss im Prinzip Selbständigkeit für alle Menschen wollen. Andererseits gilt: Mit welchem Recht dürfen wir Menschen, die immer noch in sehr festen geschichtlich gewordenen Bindungen leben, möglicherweise in Bindungslosigkeit stürzen? Die Folgen könnten für die gesamte Menschheit katastrophal werden.

Aufklärung ist kein Allheilmittel. Aber gibt es eine belastbare Alternative zur Aufklärung? Für die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit sowie deren Verbindung (vernünftige Freiheit durch freie Vernunft und freie Vernunft durch vernünftige Freiheit) bedarf es allerdings eines umsichtigen Wahrheitswillens. Falls eine globale dogmatische Gewaltherrschaft nicht die möglicherweise letzte Stufe der Menschheitsgeschichte werden soll, muss angesichts einer solchen Bedrohung irgendeine möglichst vernünftige und möglichst freie Weltordnung gefunden werden, die jedem Menschen, soweit eben möglich, Selbstdenken und Selbstbestimmung erlaubt und für die sich auch jetzt schon möglichst viele Menschen – auf allen Ebenen und in allen Medien – durch die Kritik von Irrtümern und Fehlentwicklungen engagieren könnten. Aufklärung ist unverzichtbar. Also darf auch die Hoffnung auf allgemeine Aufklärung nicht aufgegeben werden.

UNSER AUTOR:

Werner Schneiders ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Münster.