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Welt der Gründe | |
Maria Schwartz, Jörg Noller, Ludwig Jaskolla, Nikil Mukerji und Ruben Schneider über den XXII. Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ Der alle drei Jahre tagende Kongress der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“ (DGPhil) ist der größte Kongress für Philosophie in Deutschland. Vom 11.-15. September fand er diesmal an der Ludwig-Maximilians-Universität in München statt. Mit rund 1600 Teilnehmern und über 400 philosophischen Vorträgen fiel er, auch durch den Veranstaltungsort bedingt, wesentlich umfangreicher aus als der XXI. Kongress in Essen. Veranstalter ist stets der Präsident der DGPhil, derzeit noch Julian Nida-Rümelin, was bedeutet, dass dieser für die Auswahl der Hauptvorträge sowie der Kolloquiums- und Sektionsleiter verantwortlich zeichnet. Darüber hinaus wird der Kongress aber dezentral organisiert – wie und mit wem z. B. die Kolloquien gestaltet werden, liegt ganz bei den einzelnen Leitern. Auffällig war die beträchtliche Zahl an Drittmittelprojekten und Institutionen, die nicht nur im Rahmenprogramm vertreten waren, sondern auch Kolloquien eigenständig finanzierten und organisierten. Gerade dieser Kongress stand unter einem hohen Anspruch, der auf dem Höhepunkt der Finanzkrise mit geringeren Mitteln als geplant – personell gesehen den Mitarbeitern eines einzigen Lehrstuhls –, eingelöst werden musste. Dies zeigte sich z. B. daran, dass statt einer eigenen Kongresshomepage die Universitätswebseite mit PDFs bestückt wurde, sowie an der relativ hohen Tagungsgebühr. Erfreulich war die Präsenz fast aller wichtigen Verlage, deren Stände auch dafür sorgten, dass sich die Teilnehmer in den Pausen nicht allzu schnell verliefen. Hauptvorträge. Die sieben Hauptvorträge waren vor allem eines: international. Der Kant- und Hegelforscher R. Pippin (Chicago) kam ebenso zu Wort wie der Kognitionswissenschaftler P. Gärdenfors (Schweden), gleich drei Frauen, S. Neiman, S. Benhabib und L. Daston widmeten sich politischen Themen. Der bekannteste Philosoph Deutschlands, Jürgen Habermas, seit 2008 Ehrenmitglied der DGPhil, war als Hauptredner präsent und füllte erwartungsgemäß, per Videoübertragung, die zwei größten vorhandenen Säle. Der Vortrag von Franz v. Kutschera war ebenfalls, wohl auch aufgrund des Themas, sehr gut besucht. Allerdings war er leider, ebenso wie der Habermassche Vortrag, für einen öffentlichen Vortrag zu fachspezifisch. Kolloquien. Auf Beschluss der letzten Mitgliederversammlung der DGPhil hin wurde erstmals darauf geachtet, die Kolloquien konsequent am Tagungsthema – das allerdings sehr weit gefasst war – auszurichten. Die dreistündigen Sitzungen waren diesmal außerdem als Angebot gedacht, einen einzigen Schwerpunkt pro Vormittag auszuwählen. Statt des klassischen Schemas Thesenvorstellung-Rückfragen war das Ziel der kontroverse Dialog zwischen mehreren Referenten und den Teilnehmern. Dieses bereits auf Tagungen der GAP praktizierte Konzept glückte in unterschiedlichem Maße, wurde insgesamt aber sehr positiv aufgenommen. Der Nachteil eines solch „runden“ Kolloquiums ist allerdings, dass die Auswahl der Referenten selektiv bleiben muss. So war die Religionsphilosophie z. B. ausschließlich in ihrer französischen Ausprägung vertreten. Spezielle Akzente setzten außerdem Kolloquien zur asiatischen Philosophie, zur Filmästhetik, zur Tierphilosophie und interdisziplinäre Diskussionen mit bekannten Referenten wie z.B. dem Neurowissenschaftler Wolf Singer. Sektionen. In den Sektionen herrschte dagegen, wiederum eine Neuerung, größtmögliche Pluralität. In halbstündigem Takt wurden Thesen vorgestellt. Der ehrgeizige Anspruch war, so Nida-Rümelin, alle Epochen und Disziplinen der Philosophie „vollständig abzubilden“ und möglichst vielen Nachwuchsforschern eine Plattform zu bieten. Häufig handelte es sich dabei um Dissertationsprojekte, allerdings nutzten auch etliche etablierte Forscher, deren Thesen nicht in eines der Kolloquien passten, diese Möglichkeit der Vorstellung. Während in Essen nur 60% der papers angenommen wurden, waren es diesmal an die 85% der Einsendungen, die in 24 parallelen Sektionen vorgetragen wurden. Hätte man zugunsten der Qualität mehr ablehnen müssen? Für die Masse spricht, dass die meisten Sektionen mit durchschnittlich 15-20 Teilnehmern durchaus gut besucht waren. Wechsel waren kein Problem, da auch alle Sektionen im Hauptgebäude der LMU stattfanden. Die Sektionsbeiträge sind zudem für eine Online-Publikation mit ISBN-Nummer vorgesehen, wodurch vermutlich sogar mehr Zugänglichkeit erreicht wird, als es durch einen elektronisch nicht durchsuchbaren, heterogenen Kongressband möglich ist. Ist der Anspruch, alle Disziplinen abzubilden, gelungen? Die Antike Philosophie war in den Sektionen leider, ebenso wie schon in den Kolloquien, eher schwach vertreten. Auch Vertreter postmoderner Strömungen waren kaum zugegen. Die Schwerpunkte des gesamten Kongresses schlugen sich, zumindest der Tendenz nach, auch in den Sektionen nieder: In historischer Hinsicht dominierte die Philosophie des 18.-20. Jahrhunderts, in systematischer die politische Philosophie. Die Schwerpunktbildung liegt wohl auch an der Initiative der Fächer. Es mag sein, dass in schwächer vertretenen Gebieten eine Art Sättigung, ein Angebot an einschlägigen Tagungen besteht, auf denen der eigene Beitrag dann von einer höheren Anzahl an Experten des Faches zur Kenntnis genommen wird. So könnte dann allerdings der umgekehrte Effekt erreicht werden wie intendiert: Einige große Strömungen der Forschung werden nur bruchstückhaft abgebildet, während exotischere, neue Strömungen, zu nennen sind hier z. B. sicherlich die Tier-, Sport- oder Musikphilosophie, ein dankbares Forum finden. Rahmenprogramm. An Veranstaltungen im Rahmenprogramm des Kongresses sind vor allem die kontrovers diskutierte Podiumsdiskussion der Internationalen Assoziation der Philosophinnen (IAPh) zu nennen, sodann Arbeitskreise zur asiatischen Philosophie, zu Nietzsche, zu philosophischen Editionen sowie ein ethischer und ein mathematischer, halbtägiger Workshop der beiden Münchner Institutionen „Münchner Kompetenzzentrum Ethik (MKE)“ und „Munich Center for Mathematical Philosophie (MCMP)“. Neben der DFG, die eine Informationsveranstaltung für Nachwuchswissenschaftler anbot, stellte sich außerdem die Alexander von Humboldt Stiftung vor. Der Preis des Goethe-Instituts für den philosophischen Nachwuchs, der auf dem Kongress erstmals verliehen wurde, ging an den Tunesier Sarhan Dhouib (Kassel), der in seiner Arbeit für die Begründbarkeit von Menschenrechten in der islamischen Welt argumentiert. Er weist, so aus der Begründung der Juroren, „auf eine innere Affinität zwischen zentralen Koran-Stellen und verschiedenen europäischen Natur- bzw. Menschenrechtskonzeptionen des 17. Jahrhunderts“ hin. Philosophie in der Stadt. Eine Besonderheit des Kongresses war nicht nur die philosophische Beschäftigung mit gesellschaftlich-politischen Themen, sondern auch die konkrete Öffnung hin zur Gesellschaft. Das vom Kulturreferat unterstützte Rahmenprogramm „PhilosophInnen in der Stadt“ umfasste 57 Veranstaltungen an verschiedensten Einrichtungen Münchens, von denen, so J. Nida-Rümelin, „überwältigendes Interesse“ kam. Auf Seite der angefragten Kongressreferenten herrschte dagegen überwiegend Skepsis. Dennoch fanden sich genügend mutige, meist jüngere PhilosophInnen, die das Experiment wagten, mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ins Gespräch zu kommen. Eine Podiumsdiskussion zur Tugendethik an der Münchner VHS mit u. a. C. Horn und M. Betzler war so gut besucht, dass die Räumlichkeiten fast nicht ausreichten, um alle Teilnehmer zu fassen. Darüber hinaus wurden philosophische Gespräche an 15 verschiedenen Schulen angeboten. Sowohl Teilnehmer als auch Referenten beurteilten diese Begegnungen als gelungen. M. Quante zeigte sich begeistert über das Interesse der Schüler der 5.-7. Klasse einer Hauptschule, mit denen er zum Thema „Sinn des Lebens“ diskutierte. Die Öffnung und Vernetzung hin zur Gesellschaft ist essentiell für die Philosophie, die im Elfenbeinturm ihrer Forschung nicht überleben kann und dies auch, wie das hohe gesellschaftliche Interesse zeigt, nicht muss. Befragt danach, wie der erhebliche Mitgliederzuwachs der DGPhil in seiner Amtszeit zustande kam, vermutet Nida-Rümelin einerseits die Medien- und Öffentlichkeitspräsenz, andererseits aber auch die, nicht immer so guten, aber mittlerweile wieder gefestigten Beziehungen zu anderen philosophischen Gesellschaften wie der GAP. Die DGPhil sollte als „Dach ohne Schisma“ für alle möglichen Strömungen und eben auch zahlreiche korporative Mitglieder dienen können. Sie würde, so Nida-Rümelin, daher auch immer pluralistisch agieren müssen. Der auf dem Kongress neu gewählte nächste Präsident der DGPhil, Michael Quante (Münster), möchte diese Linie ab 2012 fortführen. Er versteht die DGPhil als „Dienstleister für das Fach“. Ein zentraler, vielleicht neuer Schwerpunkt seiner Amtszeit wird sein, bereits Schüler für die Philosophie zu gewinnen. Die Veränderung der Rahmenbedingungen an Schulen und die Lehrerausbildung möchte die DGPhil kritisch und konstruktiv begleiten. Die Bereiche „Didaktik der Philosophie“ und „Bildungsphilosophie“ waren, so ist zu ergänzen, auch auf dem Kongress bereits gut vertreten. Die Auswahl der Veranstaltungen, über die berichtet wird, musste aufgrund der Kapazitäten des berichtenden Teams selektiv bleiben. Zu erwähnen wäre hier z. B. noch das sehr gut besuchte Kolloquium „Grund und Abgrund“ mit S. Žižek und M. Gabriel, ein weiteres mit R. Jaeggi zum Verständnis „eigener“ Gründe, das Kolloquium des DFG-Netzwerks zur Bildphilosophie oder der Plenarvortrag von P. Gärdenfors „Reasons for meanings“, in dem dieser seine semantische Theorie darlegte. T. Kobusch trat in Dialog mit fernöstlichen Positionen im Kolloquium zu „Möglichkeiten und Grenzen der Weltphilosophien“, das in Kooperation mit u. a. der Alexander von Humboldt-Stiftung durchgeführt wurde. Auch die Kolloquien mit M. Alvarez und S. Finlay (Reasons for actions), J. Fischer und J. Mele (Personale Autonomie), M. Willaschek und W. Mesch (Vernunftgründe), mit W. Singer (Neurophilosophie), V. Gerhardt (Motiv und Grund) und R. Brandt (Tierphilosophie) waren gut besucht und versammelten interessante Positionen. Last but not least gab es ein Kolloquium zur Logik (H. Rott) und eines zur Bildungsphilosophie (K. Stojanov), zu dem wir aus zeitlichen Gründen ebenfalls keine Berichterstatter entsenden konnten. Alle Vorträge werden 2012 auch im Meiner Verlag, als dritter Band des Deutschen Jahrbuchs Philosophie, publiziert. Die Sektionsbeiträge werden bereits früher online gesetzt unter: http://www.dgphil2011.uni-muenchen.de/ Maria Schwartz Eröffnung/Plenarvortrag Pippin. Eröffnet wurde der Kongress am Abend des 11. September 2011 im Alten Rathaus der Stadt München durch den Oberbürgermeister der Stadt München, Christian Ude, den Bayerische Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Wolfgang Heubisch sowie den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Julian-Nida-Rümelin, Einig waren sich die Redner darin, dass die Philosophie zwar nicht mehr von sich beanspruchen kann, die Königin der Wissenschaften zu sein. Als eine Integrationswissenschaft kommt ihr jedoch nach wie vor große Bedeutung innerhalb der übrigen Wissenschaften zu. In seinem Plenarvortrag über die „Form der Vernunft” betonte Robert Pippin (Chicago), dass die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit in der Klassischen Deutschen Philosophie nicht nur eine abstrakte metaphysische Frage ist. Sie betrifft auch das Leben als einen absoluten Wert. Pippin argumentierte gegen eine „impositionalistische” Lesart der Kantischen Philosophie, nach welcher die spontane theoretische und praktische Vernunft ihre abstrakte Form den amorphen Inhalten der Gefühle und Intuitionen aufzwängt. Moralität besteht demnach nicht schon in der Unterwerfung des Willens unter den kategorischen Imperativ. Nach Pippin benötigt echte Moralität bei Kant ferner eine gewisse Art der Sozialisierung und Erziehung im Rahmen einer sittlichen Gemeinschaft, wie sie etwa in Kants Religionsschrift gefordert wird. Dies bedeutet, dass die Form einer einzelnen Handlung nicht in ihrer Isolation als rational gelten kann, vielmehr hängt diese von der Form einer rationalen Gemeinschaft ab, so dass in der Verwobenheit von Kultur, Erziehung und Selbstverständnis die Verwirklichung der Freiheit eine eher soziale wie individuelle Errungenschaft ist. Damit förderte Pippins Interpretation einen „sittlichen“, geradezu schon hegelianischen Kant zu Tage. Abendvortrag Neiman. Der Begriff des Idealismus ist, so Susan Neiman in ihrem Abendvortrag über „Politische Ziele, moralische Gründe“, in Verruf geraten. Wer von sich sagt, ein politischer oder moralischer Idealist zu sein, macht sich nämlich verdächtig, in hoffnungsloser Verkennung der Realität letztlich mehr Schaden anzurichten als mit einer „realistischen“, weniger moralisch motivierten Politik. Auch steht der Vorwurf im Raum, dass Politiker sich nur deshalb des Idealismusbegriffs bedienen, um ihren Trieb nach der Macht zu verschleiern. Wie Neiman betonte, vermag es die Philosophie hier, zu solchen Vorwürfen Stellung zu nehmen und den politischen und moralischen Geltungsanspruch des Idealismus kritisch zu erörtern. Aus globaler Sicht ist gerade Europa prädestiniert für die Verwirklichung eines politischen Idealismus: Europa ist nach Neiman nicht nur das beste politische Vorbild, das die Welt bislang hervorgebracht hat. Es ist auch potentiell ein moralisches Vorbild, insofern Europa aus der moralischen Forderung hervorging, dass die Kriege des 20. Jahrhunderts nicht im 21. wiederholt werden dürfen. Trotz aller berechtigter Skepsis ist ein Idealismus in der Politik nach wie vor notwendig, denn nur er vermag es, Menschen längerfristig zu motivieren. Die Gleichung „Realistisch ist gleich erwachsen ist gleich resigniert“ müsse hier kritisch aufgebrochen werden. Dabei ist nach Neiman ein Rückbezug auf die kritische Philosophie Immanuel Kants fruchtbar, den sie als Vertreter eines „erwachsenen“ Idealismus ansieht. Ein solcher erwachsener Idealismus verlangt, dass wir unsere Zerrissenheit anerkennen, die in dem ungestillten Bedürfnis besteht, die faktische Kluft zwischen dem, wie die Dinge sind, und dem, wie sie sein sollen, zu überbrücken. Kolloquium „Grund und Grundlosigkeit im philosophischen Denken nach Leibniz“ Ein Kolloquium unter der Leitung von Günter Zöller (München) untersuchte den philosophischen Diskurs über den Satz vom Grund bei Schelling, Schopenhauer und Heidegger im Ausgang von Leibniz. Im Mittelpunkt der Beiträge stand das Verhältnis von Grund und Vernunft, insbesondere die Frage nach Bedingungen, Umfang und Grenzen vernünftiger Begründung. Matthias Koßler (Mainz) widmete sich in seinem Vortrag Schopenhauers Begriff des Grundes, der in der Geschichte der Philosophie eine Besonderheit darstellt. Schopenhauer wendet sich nämlich gegen eine Auffassung von einem zweckgerichteten Wollen als Grund der Welt. Der Wille als dumpfer, ziel- und bewusstloser Trieb macht bei Schopenhauer das Wesen der Welt aus. Die Vernunft ist dagegen nur ein Produkt seines Treibens – sie ist machtlos angesichts seiner Abgründigkeit. Koßler versuchte nun in seinem Vortrag zu zeigen, dass Schopenhauers Willensbegriff weitaus komplexer ist als die Etikettierung „Irrationalismus“ es gewöhnlich nahe legt. Das Wesen eine Sache kommt nach Schopenhauer nur wahrhaft in den Blick, wenn nicht gefragt wird „warum“ etwas ist, sondern „was“ es ist. Es kann damit nur durch eine Erkenntnisweise erfasst werden, die nicht nach dem Satz vom Grunde verfährt und für die daher auch der Begriff der Notwendigkeit keine Bedeutung hat. Diese Erkenntnisweise wird von Schopenhauer als Schauen – als Kontemplation in der Kunst und als Durchschauung des Individuationsprinzips in der Ethik – scharf von Verstand und Vernunft, die unter dem Satz vom Grunde stehen, abgegrenzt. Die Philosophie ist nach Schopenhauer nicht ein Sprung ins Arationale, vielmehr hat sie die Aufgabe, zwischen beidem – Rationalität und Arationalität – zu vermitteln und das Verhältnis beider Seiten in einer der Rationalität angemessenen Weise zu fassen. Dies kann aber nur dadurch geschehen, dass die Rationalität selbst zum Gegenstand rationaler Kritik wird, indem der Satz vom Grunde als bloß relativ, bedingt und begrenzt erkannt wird. Diese vermittelnde Funktion der Philosophie sieht Schopenhauer nach Koßler in der Methode der Auslegung oder Entzifferung der Welt erfüllt. Zumindest dem Anspruch nach ist Schopenhauers Philosophie daher keinesfalls einem Irrationalismus zuzurechnen, sondern steht in der Tradition der Philosophie, die im Grenzbereich der Vernunft auf die Notwendigkeit einer Erweiterung des Begriffs von Rationalität stößt. Kolloquium „Die Begründung des Politischen: Stationen der Ideengeschichte“. Barbara Zehnpfennig (Passau) untersuchte unterschiedlichen Konzeptionen der Begründung des Politischen in der Antike, wobei sie sich besonders dem Bei-trag Sokrates’ widmete. Zehnpfennig betonte, dass in Griechenland nicht allein die Politik erfunden, sondern auch die Frage nach ihrer Ursache in besonderer Weise gestellt wurde. Diese Frage ist zunächst als religiöse Frage präsent, wie sie in allen Kulturen gestellt wird; im antiken Griechenland nimmt diese Frage aber eine philosophisch-wissenschaftliche Wendung. Das Fraglichwerden überkommener gesellschaftlicher Hierarchien zeigt sich im sophistischen homo mensura-Ansatz, der auf den ersten Blick eine starke Affinität zur Demokratie aufweist, insofern er jedem die gleiche Urteilsfähigkeit zuerkennt. Allerdings muss sich der Subjektivismus der Sophistik nicht unbedingt demokratisch auswirken. Denn gemäß dieser Theorie ist in Wahrheitsfragen die Mehrheit, in politischer Hinsicht die Durchsetzungsstärke entscheidend. So ist die sophistische Begründungslehre für Demokratie wie für Tyrannis gleichermaßen brauchbar. Nach Sokrates geht es im Gegensatz zur Sophistik bei Begründungen nicht um die richtige Antwort, sondern um die richtige Frage. Es muss also viel radikaler gefragt werden, so radikal, dass auch der Fragende selbst mit in Frage steht. Der grundlegende Fehler seiner Vorgänger hatte demnach darin bestanden, sich bereits im Besitz des Wissens zu wähnen. Das sokratische Erkenntnismodell, welches auch für die Begründung des Politischen von fundamentaler Bedeutung ist, impliziert also, dass der Mensch nicht schon von Natur aus vernünftig ist, sondern dass er Vernunft durch Wahrheitsanstrengung erst erwerben muss, wodurch Erkenntnis nur durch Selbstveränderung möglich wird. Kolloquium „Wahrheit und Zeit“. Anton Friedrich Koch (Heidelberg) untersuchte den Begriff der Wahrheit zwischen veritativem und temporalem Sein. Das temporale Sein stellt laut Koch kein anderes Sein als das veritative dar, sondern ist dasselbe nur unter einem anderen Blickwinkel. Ein aperspektivischer Blick von nirgendwo, wie ihn die Mathematik und Physik als Ideal haben, ist jedoch keine ursprüngliche, der ontologischen Verfassung des Realen angemessene Zugangsweise, sondern ein nachträgliches Konstrukt, das um den Preis einer Generalabstraktion von wesentlichen Zügen des Realen erkauft ist. Koch vertrat die These, dass der volle Gehalt phänomenaler Qualitäten erst dann zum vollen Vorschein an den Dingen komme, wenn unter den Dingen auch solche Dinge auftreten, die verkörperte Subjekte, d.h. Personen sind. Mit der Umstellung auf eine mathematische oder physikalische Betrachtungsweise gehen also wesentliche Aspekte des Realen, seine phänomenalen Qualitäten, seine genuine Zeitlichkeit, und nicht zuletzt sein wesentlicher Subjektbezug verloren. All dieses versuche die theoretische Physik in der Folge in endloser Suche wieder – wenn auch vergeblich – zu finden. Entgegen solchen reduktionistischen Herangehensweisen an die Welt gilt es nach Koch, eine substantielle Wahrheitstheorie zu entwickeln, die nicht deflationistisch ist und das veritative an das temporale Sein zu binden vermag. Sektion „Philosophie der Aufklärung und Deutscher Idealismus“. Heiner Klemme (Mainz) widmete sich der paradoxen Kantischen Kritik an der Konzeption einer „libertas indifferentiae“. Die Paradoxie besteht darin, dass sich nach Kant ein reines Vernunftwesen nicht für oder gegen das Moralgesetz entscheiden kann, während der Mensch erfahrungsgemäß über eben diese Freiheit verfügt. Wenn Kant weder die These noch die Antithese negieren kann, weil dies entweder die Negation seiner Konzeption der Autonomie oder des im kategorischen Imperativ zum Ausdruck gebrachten moralischen Sollens bedeutet, dann stellt sich nach Klemme die Frage, warum Kant nicht eingesteht, eine Antinomie der praktischen Vernunft entdeckt zu haben. Im Unterschied zu den in den drei Kritiken vorgetragenen Antinomien zeichnet sich nach Klemme die Antinomie von 1797 durch eine Besonderheit aus, denn es gibt keine Möglichkeit, sie durch den Rekurs auf den Transzendentalen Idealismus aufzulösen. Ähnlich wie in Ernst Tugendhats Freiheitslehre stellt dabei der Begriff der Anstrengung eine große Rolle. Klemme wies darauf hin, dass Kant u. a. von einer „Kraftanwendung“ spricht, die den Schlüssel zum Verständnis des Modus darstellt, unter dem wir uns zum moralisch Guten wie zum Schlechten entscheiden. Klemme wies in seinem Vortrag ebenfalls auf die interessante Wirkungsgeschichte der Frage nach dem Wahlcharakter menschlicher Freiheit hin: Wenige Jahre nach der Publikation der Metaphysik der Sitten sollte nämlich Schelling in seiner Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) die These vertreten, dass die Freiheit des Menschen darin besteht, sein eigenes Wesen durch eine intelligible Tat völlig frei wählen zu können. Mit Schelling ändert sich somit die Perspektive, unter der die „libertas indifferentiae“ diskutiert wird, von einer dezidiert moralphilosophischen zu einer schöpfungsmythologischen. Mit diesem Perspektivenwechsel wird jedoch nach Klemme der von Kant behauptete notwendige Zusammenhang von reiner praktischer Vernunft und Autonomie aufgehoben: Das Moralgesetz und unser Bewusstsein von ihm stellen nicht mehr den Rahmen dar, innerhalb dessen die Frage nach der Freiheit unserer Willkür zu beantworten ist. Sektion „Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts“. Georg Bertram (Berlin) rekonstruierte Heideggers Beitrag zur Explikation von Selbstbewusstsein. Zwar scheint es, dass Heidegger in Sein und Zeit eine hermeneutische Position entwickelt hat, die sich subjektkritisch gegen die Tradition des Deutschen Idealismus wendet. Dieser Schein trügt aber nach Bertram. Vielmehr hat Heidegger die Diskussion um die Frage fortgeführt, inwiefern ein Selbstverhältnis für den menschlichen Stand in der Welt wesentlich und wie es konstituiert ist. Nach Tugendhats einflussreicher Interpretation rückt bei Heidegger die Zukunft ins Zentrum der Interpretation des Selbstverhältnisses. Das praktische Sichzusichverhalten wird durch einen Bezug auf das eigene Zu-sein gestiftet. Allerdings deutet Tugendhats Interpretation nach Bertram den Bezug auf die Zukunft zu sehr dezisionistisch, womit Heideggers Einsicht nicht verständlich wird. Zwar mache Heidegger geltend, dass ein Selbst seine Einheit aus der Offenheit gewinnt. Die Einheit kommt aber, so Bertrams Interpretation, nicht dadurch zustande, dass die Zukunft in bestimmter Weise entschieden wird, denn eine solche Entscheidung impliziert bereits die Einheit und kann sie nicht erklären. Die Einheit des Selbst basiert vielmehr auf einer Bindung an die Zukunft. Aufgrund dieser Bindung kommt die Einheit des Selbst allerdings nie zu einem endgültigen Abschluss. Die Einheit des Selbstverhältnisses ist also immer schon mit der Tatsache verbunden, dass etwas in bestimmter Weise auf dem Spiel steht – durch einen bestimmten Entwurf, mit dem ein Selbst sich an die Zukunft bindet. Diesen Sachverhalt betont Heidegger selbst, wenn er sagt, dass das Dasein in seiner Ganzheit „Sorge“ ist. Ein Selbstverhältnis kann demnach nur unter Rekurs auf einen Zukunftsbezug erläutert werden. Jörg U. Noller Kolloquium „Erste Philosophie“. Jonathan Lowe (Durham), der als Kritiker der modernen Formen des ontischen Strukturenrealismus bekannt ist, argumentierte in Absetzung von Quine und Kripke für einen modernen Aristotelismus, der sich aus der Kategorienschrift speist. Lowe versteht die erste Philosophie als Kategorientheorie, die darstellt, welche begrifflichen Strukturen notwendiger Teil eines adäquaten Wirklichkeitsbildes sind. Er vertritt eine 4-kategoriale Ontologie, die neben primären Substanzen – also den Objekten der Außenwelt – auch auf Artbegriffe, individuelle Eigenschaften sowie Universalien zurückgreift. Ein solches reichhaltiges Kategoriensystem, so Lowe, sei unumgänglich, um ein hinreichend komplexes Bild der uns umgebenden Wirklichkeit zu zeichnen. Johannes Hübner (Halle argumentierte in seinem Kommentar zu Lowe, dass dieser an einigen Stellen von der aristotelischen Intuition abweiche. Es sei somit fraglich, ob die Position Lowes als eine Form des Neo-Aristotelismus bezeichnet werden könne. Innerhalb einer lebhaften Diskussion stellten Lowe und einige Teilnehmer klar, dass ein solcher 4-kategorialer Ansatz zwar mit Sicherheit von Aristoteles beeinflusst sei, aber eine Aristoteles-Exegese für Lowes systematisches Interesse nicht wesentlich sei. Einen zweiten Blickwinkel auf das Problem der ersten Philosophie setzte Christian Beyer (Göttingen) mit einer Analyse der grundlegenden Methodik philosophischen Forschens bei Husserl. Als diese Grundlage – oder erste Philosophie – sieht Husserl die radikale Frage nach den phänomenologischen Grundlagen unseres Denkens sowie unserer Wirklichkeitsauffassung an. Beyer verortete Husserl dabei zwischen kritischem und naivem Realismus als einen Philosophen, der unseren intentionalen Bezug auf eine Außenwelt radikal ernst nimmt. Beyer stellte als Grundlage der ersten Philosophie bei Husserl den Begriff der Lebenswelt heraus. Kolloquium „Psychoanalyse in der Welt der Gründe“ . Matthias Kettner (Witten-Herdecke), Organisator und Sprecher des Kolloquiums zur Psychoanalyse in der Welt der Gründe, machte in seiner Einleitung deutlich, dass das Kolloquium dem Brückenschlag zwischen Philosophie und Psychoanalyse gewidmet sein sollte. Eine wechselseitig befruchtende Debatte sei das Desiderat. Leider konnte dieser Vorgabe nach Ansicht des Autors nur teilweise entsprochen werden. Als Philosoph hatte man bisweilen den Eindruck, dass Sprache und Terminologie der Psychoanalytiker zu fachspezifisch waren und somit einem echten Dialog im Wege standen. Dies zeigte sich insbesondere in der Diskussion, die fast ausschließlich im Fachjargon bestritten wurde. Matthias Kettner (Witten-Herdecke) hingegen war an einem expliziten Dialog mit philosophischen Theorien interessiert. Die Philosophie, so Kettner, solle die Vielfalt psychoanalytischer Theoriebildung akzeptieren und nicht versuchen, einen vereinheitlichten Theorierahmen für diese aufzustellen. Achim Stephan (Osnabrück) stellte zunächst ein allgemeines Modell für das Verständnis von Emotionen vor: Diese werden als kulturabhängige, phänomenale Reaktionen eines Subjekts auf einen bestimmten Stimulus verstanden. Stephan setzte dieses Model ins Verhältnis zu Befunden der Psychoanalyse. Dabei wurde deutlich, dass Philosophen von Detailbeschreibungen der Psychoanalytiker lernen können. Umgekehrt muss allerdings auch konstatiert werden, dass die Psychoanalyse das klare, begriffliche Instrumentarium der modernen Philosophie des Geistes besser nutzen sollte. Abendvortrag Kutschera. Franz von Kutschera (Regensburg) leitete seinen Abendvortrag „Fünf Gründe, kein Materialist zu sein“, mit einem Paukenschlag ein: Der Materialismus sei eine Position, die nicht philosophisch begründet werden könne. In der analytischen Debatte sei der Materialismus zunächst als eine einfache, elegante Theorie vorgetragen worden. Im Laufe der Zeit wurde er jedoch immer mehr aufgeweicht, so dass die Position ihren ursprünglichen Charakter verloren habe. In Analogie zum Humeschen Gesetz trug von Kutschera daraufhin ein Argument vor, das die Reduktion des Mentalen auf das Physische in Abrede stellt: Es gibt mehr mentale Zustände als es physische Sachverhalte gibt. Wenn aber die physischen Sachverhalte die mentalen vollständig erklären können sollen, dann darf dies nicht der Fall sein. Kutscheras Streitrede löste kontroverse Diskussionen aus. So wurde, wiewohl von Kutscheras Argumente stichhaltig sind, die Frage gestellt, ob nicht für jede andere Theorie des Geistes ähnlich verheerende Probleme gefunden werden können. Sicher, so ein anderer Teilnehmer, die Reduktion des Mentalen auf das Physische scheint nicht möglich; aber genauso unmöglich scheint es, das physiko-psychische Interaktionsproblem des Dualismus zu lösen. Kolloquium: Belief Changes in the Sciences. Die Wissenschaftstheorie hat an der LMU München eine lange Tradition. Dieser Tatsache wurde von Carlos Moulines (München) mit einem Kolloquium zu Paradigmenwechseln in den Wissenschaften Rechnung getragen. Sven Ove Hansson (Stockholm) stellte einen Ansatz vor, der zeigt, wie mathematische Modelle zur Beschreibung von Veränderungen in den Überzeugungssystemen von Personen zur Modellierung von Veränderungen in wissenschaftlichen Paradigmen eingesetzt werden können. In der Diskussion mit Peter Gärdenfors (Lund) wurde aber auch deutlich, dass, obwohl es sich bei Hanssons Modell um eine elegante und praktikable Theorie handelt, einige Bereiche wissenschaftlichen Fortschritts, wie etwa kreatives Forschen, noch nicht sinnvoll abgebildet werden können. Hans Rott (Regensburg) stellte auf der Grundlage des in München von Wolfgang Stegmüller entwickelten Theorie-Strukturalismus ein Modell zur Beschreibung wissenschaftlichen Fortschritts vor, das wesentlich auf den Intuitionen von Imre Lakatos' Theoriendynamik und dem damit verbundenen Begriff des Paradigmenwechsels beruhte. In der Diskussion mit Gärdenfors machte er klar, dass in einem solchen Modell Ramsey-Tests zur Überprüfung der Frage, unter welchen Umständen eine bestimmte Theorie als eine „gute“ Nachfolgertheorie einer Ausgangstheorie anzusehen ist, genutzt werden können. Kolloquium Filmästhetische Begründungen. Mit dem Kolloquium sollten, so die Organisatoren Michaela Ott (Hamburg) und Andreas Rost (München). die Möglichkeiten der Begründung philosophischer Thesen mit den Mitteln des Films ausgelotet werden. Unter der Leitfrage: Wie wandelt der Film das Verständnis der historischen Medea, erforschte Astrid Deuber-Mankowsky (Bochum) die Dekonstruktion sozialer Rationalität durch Pasolinis „Medea“. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Eva Schürmann (Magdeburg) mit ihrer Analyse von Bergmanns Film „Persona“. Im Rahmen ihrer Überlegungen zur Konstruktion von Begründungen stellte sie „Persona“ als paradigmatischen Fall einer nicht-narrativen Begründungsstruktur vor. Höhepunkt des Kolloquiums war der Vortrag „Film and Philosophy“ von Noëll Carroll (New York). Neben den klassischen Linien einer Philosophie des Films als Philosophie in Filmen oder als Philosophie der Filme, so Carroll, sollte die Möglichkeit eines genuinen Philosophierens durch das Medium Film ernst genommen werden. Ludwig Jaskolla Kolloquium „Ökonomische und außer-ökonomische Gründe wirtschaftlichen Handelns“. Für Peter Koslowski gibt es eine Vielzahl praktischer Gründe. Und manche dieser Gründe könnten ökonomische Vorteilserwägungen bisweilen ausstechen. Dabei handle es sich insbesondere um moralische Erwägungen. Ingo Pies witterte in diesen Überlegungen einen „moralistischen Fehlschluss“. Wer an das moralische Gewissen des Einzelnen appelliere, laufe Gefahr, dass seine Appelle verhallen. Denn es gebe Handlungssituationen, in denen moralisches Verhalten systematisch bestraft werde und sich wirtschaftliche Akteure deshalb gar nicht moralisch verhalten können. An dieser Stelle brach Pies eine Lanze für die Ökonomik, die bei der Beantwortung ethischer Fragen helfen könne. Sie analysiere mithilfe des homo-oeconomicus-Modells die in einer Handlungssituation gegebenen ökonomischen Handlungsgründe der Akteure – in wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie Anreize genannt – und könne so Probleme der Durchsetzung moralischen Handelns offen legen. (Anschließend führte Pies seine ordonomische Sichtweise von Wirtschaftsethik ein, die den moralistischen Fehlschluss verhindern könne. Die Ordonomik setzt als mehrstufige Konzeption bei den Bedingungen moralischen Verhaltens an und versucht, durch öffentlichen Diskurs und politische Entscheidungen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen moralisches Handeln möglich ist.) Matthias Kettner wies in seinem Vortrag Aspekte der Pies‘schen Position zurück. Insbesondere plädierte er für eine Abkehr vom homo oeconomicus als Rationalitätsmodell und machte sich im Anschluss an den schweizerischen Wirtschaftsethiker Peter Ulrich für die Umstellung auf einen diskurstheoretischen Begriff „guter Gründe“ stark. Bevor Alexander Brink unter dem Vortragstitel „Die Weisheit der Vielen“ eine neue Theorie der Unternehmung als Netzwerk von Versprechen präsentierte, stellte er treffend fest, seit geraumer Zeit herrsche in der deutschen Wirtschaftsethik ein festgefahrener Schulenstreit. Dieser werde im Wesentlichen zwischen ökonomisch und normativ ausgerichteten Ethik-Ansätzen geführt. Der Verlauf des Kolloquiums bestätigte diese Diagnose Brinks. Die anfänglichen Positionen der Referenten näherten sich auch im Verlauf der Debatte kaum aneinander an. Kolloquium „Angewandte Ethik“. Im zweiten ethischen Kolloquium unter der Leitung von Carl Friedrich Gethmann konnte hingegen weitgehend Konsens erzielt werden. Hier referierten Armin Grunwald und Michael Quante unter dem Titel „Angewandte Ethik – Zwischen Rationalitätsanspruch und Weltanschauung“. Der Technikethiker Grunwald beobachtet seit geraumer Zeit – und nicht erst seit dem atomaren Super-GAU in Fukushima – eine Tendenz zur „Ethisierung“ technischer Probleme. Der wissenschaftliche Fortschritt bringe neue Handlungsmöglichkeiten mit sich und sorge etwa im Bereich der Biomedizin und in der Nanotechnologie für politischen Regelungsbedarf. Hier erfahre der Beitrag der angewandten Ethik zunehmende Wertschätzung. Allerdings wies Grunwald auch auf die Probleme und Beschränkungen ethischer Politik-Beratung hin. Da das Subsystem „Politik“ eigenen Gesetzen unterliege, sei es illusorisch anzunehmen, Ethik-Beratung könne politischen Entscheidungen einfach eine Agenda diktieren. Wie Grunwald betonte, habe Ethik-Beratung vor allem eine orientierende Funktion. Sie könne politischen Verantwortungsträgern die Entscheidung aber nicht abnehmen, sondern ihnen lediglich Orientierung in der Welt der Gründe verschaffen. Diese Einschätzung wurde von den Teilnehmern des Kolloquiums rege diskutiert und mit Einwänden konfrontiert. Insbesondere wurde geltend gemacht, die Ethik verlöre ihre raison d'être, wenn sie ohne unmittelbar handlungsleitenden Anspruch auftrete. Michael Quante arbeitete zunächst die Rahmenbedingungen öffentlicher Ethik-Debatten heraus und stellte dann fest, dass sowohl im Bereich ethischer Praxen als auch im Bereich ethischer Theorien eine bemerkenswerte Pluralität herrsche. Daher werde eine angewandte Ethik, die sich auf einen bestimmten grundlegenden Theorieansatz festlege und die tatsächlichen moralischen Anliegen der Menschen ignoriere, keinen Erfolg bei der Vermittlung und Lösung realer ethischer Probleme haben. Dies gelte gleichermaßen für utilitaristische Ansätze wie auch für Varianten einer kantischen Deontologie. Quante warb deswegen eindringlich dafür, die Anliegen und Empfindungen der Menschen ernst zu nehmen. Eine Ethik, die dies nicht leisten könne, so warnte er, öffne esoterischen Sinnstiftern Tür und Tor. In der nachfolgenden Diskussion schloss sich Grunwald Quantes Appell grundsätzlich an. Allerdings gab er zu bedenken, dass dafür theoretische Erwägungen und nicht die Angst vor Esoterikern ins Feld geführt werden sollten. Schließlich sei es die ureigenste Aufgabe ethischer Theorie – und darin stimmte ihm Quante schließlich zu –, die wohlerwogenen Urteile der Menschen aufzunehmen und zu systematisieren. Kolloquium „Reasons in Politics“. Das Kolloquium „Reasons in Politics“ war im Bereich der politischen Philosophie eines der zentralen Ereignisse des Kongresses. Vor gut gefüllten Reihen referierten die kanadische Politologin Simon Chambers und der amerikanische Philosoph Charles Larmore zum Problem der öffentlichen Rechtfertigung. Kommentiert und diskutiert wurden deren Beiträge von Rainer Forst und Stephan Gosepath sowie den interessierten Zuhörern. Chambers, die derzeit ein Buch zur Thematik der öffentlichen Rechtfertigung schreibt, eröffnete das Kolloquium mit ihrem Vortrag „Reason, Reasons and Reasoning: Three Faces of Public Justification“. Sie gab einen Überblick über die Debatte um den öffentlichen Vernunftgebrauch und unterschied zwischen zwei Klassen von Konzeptionen öffentlicher Vernunft: ethischen und epistemischen. Ethischen Versionen, die sie favorisiert, gehe es darum, die Teilnehmer der öffentlichen Debatte möglichst in den Diskurs einzuschließen. Dagegen liege das Hauptaugenmerk epistemischer Erscheinungsformen darauf, Gründe zu ermitteln, die von allen geteilt werden können. Forst unterstützte Chambers Position grundsätzlich. Er wandte jedoch ein, es gebe Diskurse – etwa die amerikanische Debatte um die Stellung des Kreationismus im Biologieunterricht – in denen epistemisch argumentiert werden müsse. Im darauf folgenden Vortrag “A Critique of Rawls’ Conception of Public Reason” setzte sich Charles Larmore, der neben John Rawls als Urvater des politischen Liberalismus gelten kann, mit Rawls' Theorie des öffentlichen Vernunftgebrauchs auseinander. Er vertrat die These, Rawls habe irrtümlich angenommen, der politische Liberalismus sei “doctrinally autonomous”, beruhe also nicht auf moralischen Annahmen. Dies habe ihn zu falschen Schlüssen hinsichtlich der Konzeption des Öffentlichen Vernunftgebrauchs geführt. Bei Rawls erfordert die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs, dass die Bürger einer liberalen Gesellschaft im politischen Diskurs nur auf Gründe verweisen, von denen sie annehmen, alle könnten sie ungeachtet ihrer religiösen und weltanschaulichen Orientierung akzeptieren. Larmore argumentierte zunächst für die These, der politische Liberalismus sei nicht moralfrei, sondern beruhe auf einem moralischen Prinzip des Respekts für Personen. Darauf aufbauend vertrat er den Standpunkt, die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs schließe weltanschauliche und religiöse Argumente lediglich bei der Entscheidung über politische Fragen aus, verbiete jedoch nicht, sie in der öffentlichen Debatte vorzubringen. In Ihren Kommentaren schlossen sich Rainer Forst und Stephan Gosepath Larmores Position grundsätzlich an. Forst kritisierte jedoch eine allzu rigide Trennung zwischen Entscheidung und Diskurs. Diese sei problematisch, da eine nachträgliche Separierung entscheidungsrelevanter Gründe schwierig erscheine. Vielmehr, so Forst, müsse bereits im öffentlichen Diskurs deutlich gemacht werden, welche Gründe politische Entscheidungen informieren können. Gosepath gab abschließend zu bedenken, dass das Gebot öffentlicher Rechtfertigung ganz allgemein für die Moral und nicht nur für die politischen Regelungen gelten müsse. Schließlich sei öffentlicher Vernunftgebrauch angesichts zwangsbewährter Regeln geboten. Und die Moral sei ebenso wie die formale Rechtsordnung als System (impliziten) Zwangs anzusehen. Plenarvortrag „Menschenrechte“. Seyla Benhabib untersuchte verschiedene normative Theorien von Menschenrechten und argumentierte schließlich zugunsten eines diskurstheoretischen Verständnisses. In der modernen Debatte, so Benhabib, hätten sich zwei Theoriestränge entwickelt: „traditionelle“ (Joseph Raz) bzw. „humanitäre“ (Pablo Gilabert) Theorien auf der einen Seite und „funktionale“ (Beitz) bzw. „politische“ Theorien auf der anderen Seite. Jene interpretierten Menschenrechte als notwendige Voraussetzung rationalen menschlichen Handlungsvermögens. Diese stützten sich im Anschluss an John Rawls’ Spätwerk auf die Idee einer öffentlichen Vernunft als Begründungsbasis von Rechten. Beide Konzeptionen kritisierte Benhabib als inadäquat. Gegen traditionelle/humanitäre Theorien wandte sie etwa ein, diese könnten ausgehend von der Feststellung, es gebe Bedingungen rationalen Handelns, nicht erklären, warum der Einzelne einen Anspruch auf die Schaffung dieser Bedingungen habe. „Warum sollte ich anerkennen, dass Sie bestimmte Rechte haben?“, fragte Benhabib. Die Antwort, so fuhr sie fort, liege in einem diskurstheoretischen Verständnis von Menschenrechten. Dieses mache klar, dass die Anerkennung meiner Rechte durch Sie überhaupt nur dann möglich sei, wenn bei Ihnen die Bedingungen einer solchen Anerkennung vorlägen. Diese Bedingungen, so erklärte sie weiter, seien eben die Bedingungen kommunikativer Freiheit, als die Rechte verstanden werden sollten. Plenarvortrag „Rationalitätstheorie“. In ihrem Plenarvortrag „Vernunft, Rationalität und Regeln. Von der Aufklärung zum Kalten Krieg“ gab die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston einen interessanten Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Rationalitätsgedankens. Sie legte dar, wie sich ab den 1940er Jahren und vor allem im Zuge des Kalten Krieges die Aufmerksamkeit in den Wissenschaften vom Gedanken der Vernunft in Richtung der Rationalität verschob und sich ein Interesse an der Charakterisierung letzterer herausbildete. Dann spürte sie den historischen Wurzeln dieser Entwicklung, etwa in den Arbeiten von Leibniz, Condorcet und Laplace, nach und zeichnete die regelbasierte Charakterisierung der Rationalität und deren Tendenz zur Algorithmisierung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nach. Zentrales Anliegen des Vortrags war der Aufweis, dass historische Umstände – insbesondere die spezifische Problemstellung der Militärstrategen des kalten Krieges – das Interesse an regelgeleiteter Rationalität verstärkten und die Vermögen der Vernunft und Urteilskraft aus dem Rampenlicht verdrängten. Diese geschichtliche Entwicklung, so Daston, habe bis heute Spuren hinterlassen. Sie erkläre, warum wir Fragen, die sich einer Algorithmisierung weitgehend verschließen (z.B. Mustererkennung in der Wahrnehmung, Planung in der Wirtschaft, akademische Evaluierung etc.) so problematisch empfinden. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass „wir alle Erben einer Geschichte sind, in der Rationalität eine Sache des Befolgens von Regeln wurde“. Nikil Mukerji Kolloquium „Sprache, Zeichen, Gründe“. Robert Brandom behandelte die Vereinigung des modal realism und des modal expressivism: Beide sind Brandom zufolge als komplementär zu erachten. Sehr lehrreich war der Vortrag von Michael Tomasello, auf den sich auch Jürgen Habermas, der dem Kolloquium beiwohnte, am letzten Kongresstag in seinem Abendvortrag bezog: Anhand evolutionstheoretischer Forschungen mit höheren Primaten beleuchtete Tomasello die Schnittstelle zwischen Philosophie und Naturwissenschaften im Bereich der Gründe. Hierbei präsentierte er Forschungsergebnisse, denen zufolge Schimpansen bereits über Proto-Begriffe, Negationen und Proto-Syllogismen verfügen. Der entscheidende Unterschied zum Menschen liegt auf einer anderen Ebene: Den Primaten geht jegliches Verständnis für „joint intentionality“ bzw. „collective intentionality“ ab. Schimpansen weisen zwar ein social behaviour auf – collaborative behaviour, geteilte Ziele, verstehender Tausch von Rollen und kollektive Intentionalität hingegen sind typisch für den Menschen. Hieraus lässt sich Tomasello zufolge eine Ontogenese der Sprache und der sozialen und institutionellen Strukturen ableiten. Die kritische Grundfrage, ob die Ethik nur eine soziale Konstruktion unter kooperativen Intentionen sei, beschloss die Sitzung. Kolloquium „Historische Gründe“. Ist die Trennung von Tatsachen und Geschichte willkürlich? Sind historische Gründe nur akzidentell? Lösen wir philosophische Probleme ebenso ahistorisch wie die Naturwissenschaften? Mit diesen Fragen befasste sich das mit Andreas Speer, Thomas Zwenger, Gregori Kapriev (Sofia) und Constantino Esposito (Bari) besetzte Kolloquium. Zwenger und Esposito gingen der Frage nach, ob die Philosophie nicht geltungslogisch unterbestimmt sei, wenn sie rein formallogisch arbeite und die historische Entwicklung von Begriffen außer Acht lasse. Hierbei stellt sich vor allem das Subjektivitätsproblem der Geschichte: Gibt es eine „objektive Geschichte“? Wer ist das Subjekt der Geschichte? Und wie können wir vergangene und damit eben nicht mehr existierende Fakten erkennen? Nach Zwenger kann es hier keine platte „adaequatio intellectus ad rem“ geben, und dennoch bestehe in der Geschichtsforschung in praktischer Hinsicht ein Anspruch auf Wahrheit, der jedoch grundsätzlich immer verfälscht werden könne. Dies dürfe jedoch zu keinem Historismus und Relativismus in der systematischen Philosophie führen, da diese sich immer letztlich mit „quid-iuris“-Fragen zu befassen habe. Esposito erörterte vor allem Heideggers Koinzidenz von Geschichte der Metaphysik und Geschichte des Seins. Metaphysik bestehe in einem Verhältnis des Zeitlosen mit dem Zeitlichen, was den schöpferischen Umgang mit den metaphysischen Traditionen beinhalte. Die Bedeutung der historischen Gründe liege dann vor allem in der Erforschung der Struktur des philosophischen Denkens. Gregori Kapriev führte hierzu beachtenswerte Beispiele aus der Neuerforschung der byzantinischen Philosophie an, die zu einer Neuanwendung byzantinischer Begriffe in aktuellen philosophischen Debatten geführt hat, sogar darüber hinaus in Soziologie und Interpretation der Quantenphysik. Kolloquium „Gründe ohne Grund“. Gott als Letztgrund von allem wurde von der deutschen Mystik als Abgrund aufgefasst. Im Mahayana-Buddhismus wurde von Nagarjuna ganz ähnlich der Letztgrund als Leerheit beschrieben. Die Neuzeit fand im 18. Jahrhundert. diese Begründung ohne letzten Grund in der Seele und schließlich, im 19. Jahrhundert, im Leib. Entsprechend führte die Reihe der Kolloquiumsvorträge die überdurchschnittlich gut informierten Zuhörer zunächst in die Gottesspekulation des Nicolaus Cusanus ein: Ingo Bocken legte Gott, das „Nicht-Andere“ (non-aliud), als eine letzte Leere dar, welche eine Überfülle an Gottesnamen zulässt. Die Definition Gottes als eine Definition, die alles und sich selbst definiert, in der Definierendes zugleich das Definierte ist, verweist auf eine Praxis des Definierens und Begründens, die sich selbst begründet. Die japanischen Humboldt-Stipendiaten Tanehisa Otabe und Shigeto Nuki (beide Tokyo) zeichneten die weitere Entwicklung der Thematik nach: Otabe wies in einem äußerst lehrreichen Vortrag eine Kontinuität der Gedankenbildung von der Unendlichkeitsspekulation des Cusanus bis hin zu den petites perceptions von Leibniz auf, die schließlich in das Denken Schellings mündet, für welchen der letzte Grund ebenfalls nicht außerhalb des Begründeten stehen kann. Nuki zeigte dann, wie unsere Leiblichkeit eine Fülle von Gründen und Motivationen liefert, die alle nicht mehr so leicht letztbegründet werden können. Kolloquium „Gott als Grund“. Das von Hans Otto Seitschek und Rémi Brague geleitete und zusätzlich mit Jean-Luc Marion (Paris) und Hans Maier prominent besetzte und sehr gut besuchte Kolloquium „Gott als Grund“ stellte sich die Aufgabe, die Diskussion, ob Gott als Grund in philosophischem Sinne gelten könne, in den Rahmen des aktuellen philosophischen Diskurses zu stellen. Dabei präsentierte Marion zunächst eine konzise Auseinandersetzung mit der kantischen Gottesbeweiskritik. Marions Gegenkritik an Kants Kritik des Ontologischen Gottesbeweises war ausgesprochen aufschlussreich: Kant überträgt – wie Hegel bereits gesehen hat – die für das endliche Seiende zutreffende Kritik am ontologischen Argument bezüglich des Begriffs vom Daseins als bloßer Position fälschlicherweise auf das unendliche Seiende. Wird Dasein nur als Position eines Dings aufgefasst, muss Gott weder existieren noch nicht existieren. Marion zeigte überzeugend, dass eine Metaphysik, die das eigene Erkenntnisapriori zum Maß für alles macht und damit auch die Rede vom Existieren verendlicht, nicht über die von Kant aufgezeigten Erkenntnisgrenzen hinauskommt. Dem will Marion dann durch den Rekurs auf das (für uns) Unmögliche, durch seine Theorie vom saturierten Phänomen und durch Verweise auf andere phänomenologische Ansätze abhelfen. Hierbei bleibt er jedoch erstaunlicherweise völlig bei einem transzendental-phänomenalen Begriff der Möglichkeit stehen und macht nach aller Kritik an Kant doch wieder den kantischen Ansatz zum Ansatz jeglichen Denkens über Gott. Rémi Bragues Vortrag behandelte dann die Atheismusfrage: Pointiert legte Brague dar, dass der Atheismus ein gescheitertes Projekt darstelle. Eine Gesellschaft, die sich völlig vom Atheismus durchdringen ließe, würde verschwinden. Ohne eine starke Fassung des Guten und ohne Aneignung der Schöpfungsidee sei der Mensch in selbstzerstörerischer Weise auf sich selbst gestellt. Daher habe die Philosophie die Befassung mit der Religion wieder in ihr Zentrum zu stellen. Der Vortrag von Hans Maier behandelte abschließend die Geschichte des Gottesbezuges in den europäischen Verfassungen. Der Abendvortrag von Jürgen Habermas. Was Michael Tomasello im Kolloquium „Sprache, Zeichen, Gründe“ über kollektive Intentionalität und die phylogenetische Entstehung der menschlichen Sprache und der sozialen und institutionellen Strukturen ausführte, wurde von Jürgen Habermas im letzten der vier großen Abendvorträge aufgegriffen: Habermas' Ausführungen widmeten sich der symbolischen Verkörperung von semantischen Gehalten bzw. von Gründen, die sich in kulturellen Überlieferungen und institutionalisierten Verhaltensweisen verfestigt haben: Der Geist externalisiere sich in einer symbolisch strukturierten Lebenswelt. Jedoch lässt sich Habermas zufolge die starke Normativität und Bindungswirkung von Traditionen und Institutionen nicht allein durch eine Sprachpragmatik erklären, die auf die „kognitiven Erfordernisse für eine effiziente Handlungskoordinierung“ rekurriert. Es müsse zusätzlich die rituelle Kommunikation in Betracht gezogen werden. Diese sei von unmittelbaren Funktionen gesellschaftlicher Kooperation entkoppelt und beziehe sich nicht auf einen Referenten „in der Welt“. Sie beziehe sich vielmehr auf die durch symbolische Kommunikation erzeugte, evolutionär neue Dimension des gesellschaftlichen Zusammenlebens selbst. Die starke Normativität von Riten des gesellschaftlichen Zusammenhanges, die Dogmatisierung und Institutionalisierung von Verhaltensweisen internalisiere und verkörpere einen Grundbestand an Kultur in den Persönlichkeitsstrukturen der Menschen, entziehe ihn der diskursiven Veränderung und kanalisiere so das Dissensrisiko und das Negationspotenzial der in jeder Kommunikation freigesetzten, frei flottierenden Gründe. Darüber hinaus verkörperten sich die verfestigten Wertorientierungen auch in materiellen Artefakten. Jedoch könnten die in der Kultur konservierten Gründe in kognitiven Schüben einer Gesellschaft auch besseren Gründen weichen (z.B. in Revolu-tionen). So komme es zur Entbindung der Potenziale, die in „sakralen Komplexen gewissermaßen eingekapselt sind“. Der Raum der Gründe bleibe jedoch „in einen nicht-verbalisierbaren oder vorprädikativen Sinnhorizont eingebettet“ (verkörpert in Bild, Musik, Tanz, usw.). Der sakramentale Kult der Religionen erschließt sich nach Habermas jedoch nur aus der Teilnehmerperspektive und durch den Mitvollzug der kultischen Praxis, was den Ungläubigen der säkularisierten Gesellschaft weitgehend verschlossen bleibe. Habermas fragt deshalb, „ob wir die Religion, und darunter verstehe ich den Kultus in Verbindung mit Konzeptionen einer rettenden Gerechtigkeit, als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes noch philosophisch ernst nehmen können“. Jedoch stoßen wir nach Habermas auch bei den modernen Künsten auf ähnliche Grenzen diskursiver Explikation. Ruben Schneider UNSERE MITARBEITER: Maria Schwartz, Ludwig Jaskolla und Ruben Schneider sind wiss. Mitarbeiter der Hochschule für Philosophie München, Jörg Noller ist Lehrbeauftragter an der LMU München, Nikil Mukerji ist Promovend der LMU und wiss. Mitarbeiter der TU München. |