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BERICHT

Simone Dietz:
Kulturphilosohie: Kampf der Kulturen? Über Huntingtons These

Die These

Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ ist seit ihrer ersten Veröffentlichung 1993, also vor nahezu vierzehn Jahren, zu einem festen Bestandteil der öffentlichen Debatte geworden. Das ist insofern erstaunlich, als die große Resonanz, die diese These gefunden hat, zumindest von wissenschaftlicher Seite von Anfang in einer massiven Kritik bestand. Huntingtons These sei eine grob vereinfachende Weltformel, deren Einprägsamkeit auf schwammigen Begriffen basiert und deren Anwendung auf konkrete Fälle voller Widersprüche ist – so der einhellige Tenor.

Huntingtons These besagt, kurz gefasst, dass nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr politische Ideologien, sondern Kulturen die Weltordnung bestimmen. Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation sei die politische Welt multipolar und multikulturell geworden. Um neue weltweite Konflikte zu vermeiden, müsste der Westen auch andere kulturelle Wertvorstellungen als die eigenen berücksichtigen. Es sei ein Irrtum, Modernisierung mit westlicher Kultur oder Verwestlichung gleichzusetzen. Der Westen müsse sich darauf einstellen, dass seine Werte von anderen Kulturkreisen nicht geteilt werden und dass sie auch nicht als ‚universelle Werte’ im Zuge der Modernisierung Verbreitung finden könnten.

In der empirischen Anwendung seiner These teilt Huntington die Welt in sieben bis acht große Kulturkreise ein, zwischen denen seiner Ansicht nach die Bruchlinien der drohenden Konflikte verlaufen. Diese Kulturkreise sind: der Westen (zu dem vor allem Europa und die USA zählen, aber auch Kanada, Australien und Neuseeland), Japan, China und Indien als jeweils eigenständige Kulturkreise, außerdem die islamische Kultur, die orthodoxe, die lateinamerikanische und die afrikanische (bei der allerdings auch für Huntington fraglich ist, ob sie als einheitliche Kultur gelten kann). Nationen bzw. Nationalstaaten bleiben aus dieser Sicht zwar die Hauptakteure im Weltgeschehen, aber sie agieren in Koalitionen, die vor allem unter kulturellen Aspekten gebildet werden. Die Definition nationaler Interessen orientiert sich an kulturellen Gesichtspunkten.

Neben der allgemeinen Kritik am wissenschaftlichen Niveau von Huntingtons Ausführungen richten sich Einwände vor allem gegen seine Einteilung der Kulturkreise. Die Kriterien der Einteilung seien heterogen, sie orientieren sich im einen Fall an der Religion, im anderen an den nationalen Grenzen. Ihre Anwendung sei schwammig und widersprüchlich und betreffe in vielen Fällen eher klassische Machtkonflikte um politische und territoriale Kontrolle, so dass die Behauptung einer zentralen kulturellen Dimension der Konflikte nicht belegt wird.

Mit manchen Globalisierungstheorien teilt die Formel vom „Kampf der Kulturen“ die Auffassung, dass die Bedeutung der Nationalstaaten im Schwinden begriffen ist. Die Globalisierungsdiskussion rückt mit der Fokussierung auf die Entwicklung des Weltmarktes jedoch ökonomische Faktoren in den Vordergrund, während Huntington ‚die Kultur’ ins Zentrum stellt: Auch wenn nach wie vor Staaten die wichtigsten politischen Akteure der internationalen Ordnung sind, würde doch ihr Handeln in hohem Maße von kultureller Loyalität oder Gegnerschaft und weniger von rationalen politischen Zielsetzungen und Interessen anderer Art bestimmt.

Den Nerv der öffentlichen Debatte getroffen

In den Balkan-Konflikten der 90er Jahre und den Anschlägen auf die USA am 11. September 2001 sahen viele eine Bestätigung für Huntingtons These, dass kulturelle Differenzen in der Weltpolitik eine zentrale Rolle spielen, und dass Kultur nicht etwa bloß eine täuschende Fassade für ökonomische Interessen ist, die von der Kulturindustrie schon längst auf standardisierte Massenprodukte reduziert wurde. In der Globalisierungsdiskussion erscheint kulturelle Vielfalt entweder als bedroht, oder als etwas, das es in dieser Form gar nicht mehr gibt, und das deshalb neue Begriffe (z.B. ‚Transkulturalität’ oder ‚Hybridität’) erfordert. Im Unterschied dazu wird kulturelle Vielfalt in Huntingtons Formel selbst zum Bedrohungsfaktor. Die starke Resonanz auf diese Formel kann nicht einfach als verfehlte Feindbilderzeugung abgetan werden.


Überraschenderweise sah Huntington selbst übrigens, anders als die meisten Kommentatoren, sich durch die Anschläge vom 11. September nicht bestätigt: Die Anschläge seien kein Ausdruck eines Kampfes der Kulturen, sondern ein Akt der Barbarei – ein Angriff nicht nur auf Amerika oder den Westen, sondern auf die Zivilisation als solche. Erst die Haltung der islamischen Länder entscheide, ob daraus ein Kampf der Kulturen werden könnte.

Die terroristischen Anschläge auf Djerba und Bali, in Madrid und London, der islamistisch motivierte Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh und die anhaltende Bedrohung der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali, der Kopftuch- und der Karikaturenstreit, die Unruhen in Pariser Migrantenvierteln Ende 2005 – all diese Konflikte wurden in Europa im Zusammenhang mit der These vom ‚Kampf der Kulturen’ diskutiert. Diese Ereignisse galten als Beleg für einen Kulturkampf, dessen Bedrohungspotential nicht auf die zwischenstaatliche Ebene beschränkt bleibt, weil er längst in die Grenzen der einzelnen Staaten eingewandert ist.

Auffällig ist sicher, dass sich das Bedrohungsszenario in den meisten der genannten Fälle auf eine Konfrontation zwischen dem Westen und dem Islam zuspitzen lässt. Das wird oft als Indiz dafür gewertet, dass die neuen Konflikte genauer als religiöse Konflikte eingeordnet werden müssten. Diese Engführung auf Religion scheint aber schon deshalb nicht angebracht zu sein, weil ‚der Westen’ als Gegenspieler des Islam damit auf den Nenner des Christentums gebracht und der eigentliche Konfliktpunkt, die Säkularisierung und die Festlegung auf säkulare Grundregeln, verfehlt wird. Die Frage der Säkularisierung ist eine kulturelle bzw. politische, nicht eine religiöse Frage, denn sie bezieht sich auf religionsexterne Instanzen.

Ist ‚Kultur’ tatsächlich das zentrale Paradigma in der Weltpolitik, das das Paradigma der Ideologien ablöst? Was bedeutet ‚Kultur’ in diesem Zusammenhang und in welchem Verhältnis stehen Kultur und Politik zueinander? Was wären die Aufgaben einer Welt, in der globaler Frieden von der friedlichen Koexistenz verschiedener kultureller Wertvorstellungen abhängt?

Kultur und Zivilisation

Wenn man sich in deutscher Sprache auf Huntingtons These bezieht, stößt man sogleich auf das Verhältnis der Begriffe ‚Kultur’ und ‚Zivilisation’: Im Originaltitel ist die Rede vom „clash of civilisations“, in der deutschen Übersetzung wird daraus ein „Kampf der Kulturen“. Der Begriffswechsel in der Übersetzung hat zum einen den Grund, dass im Deutschen die Rede von „Zivilisationen“ im Plural ungebräuchlich ist – wir sprechen eher von „der Zivilisation“ im Singular, bei „Kultur“ dagegen auch im Plural von „den Kulturen“. Zum anderen ist mit den deutschen Begriffen der Zivilisation und Kultur seit Beginn ihrer philosophischen Verwendung im 18. Jahrhundert eine wertende Unterscheidung verbunden, zwischen der oberflächlichen, bloß auf äußere Manieren, technische Fertigkeiten oder ökonomische Interessen beschränkten Zivilisation, und der tiefer reichenden Kultur, die sich auf künstlerischen Ausdruck, innere moralische Einstellungen, religiöse Überzeugungen und damit auf die Kultivierung der Persönlichkeit bezieht.

Vor allem Sigmund Freud (Das Unbehagen in der Kultur) und Norbert Elias (Der Prozess der Zivilisation) haben sich in den dreißiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts darum bemüht, die wertende Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation durch einen übergreifenden, deskriptiv-neutralen Begriff der Kultur bzw. Zivilisation zu ersetzen. Kultur bzw. Zivilisation steht hier im Singular als ein gattungsgeschichtlicher Prozess der wechselseitigen Formierung sozialer und psychischer Strukturen. Von Interesse ist dabei nicht das Problem von kultureller Einheit und Vielheit, sondern der dynamische im Unterschied zu einem statischen Kulturbegriff.

Samuel Huntington nun will mit seinem Konzept der vielen verschiedenen Kulturen die Bruchlinien der gegenwärtigen politischen Weltordnung erfassen. Es liegt also nahe, dass er einen normativ-neutralen, deskriptiven, aber eben pluralen Begriff der Kulturen verwendet, für den die klassisch deutsche, wertende Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation ohne Bedeutung ist. Doch dies ist nicht der Fall. Zwar definiert Huntington Kultur in einem umfassenden Sinn als „die gesamte Lebensweise eines Volkes“, meint damit aber vor allem „Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen“, insbesondere Religion. Kulturen sind definiert durch ihre geistig-weltanschauliche Dimension, während die technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung als Prozess der Modernisierung bezeichnet wird. Nur der Modernisierungsprozess ist ein weltweiter, singulärer Prozess: Es gibt nur eine Naturwissenschaft und Technik. Die Kulturen dagegen definieren sich über verschiedene Weltbilder – nur sie sind identitätsbildend.

Huntington knüpft also genau an die alte deutsche Unterscheidung zwischen tiefgreifender Kultur und oberflächlicher Zivilisation an. Doch folgt er dabei nicht dem humanistischen Motiv einer persönlichen Selbstvervollkommnung des Menschen, sondern der Absicht, die überragende Bedeutung der partikularen kulturellen Identitäten durch Sprache, Religion und Geschichte zu betonen gegenüber den zwar weltweit verbreiteten, aber bloß äußerlich bleibenden Phänomenen der Naturwissenschaft und Technik, sowie der ökonomischen Vereinheitlichung durch Mode-Produkte wie Jeans, Coca-Cola und MacDonalds, die nach Huntingtons Überzeugung für kulturelle Identitäten ohne Belang sind.

Nicht nur die Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation wird von Huntington neu belebt, sondern auch die statische Auffassung von Kultur, die von der Modernisierungsdynamik abgegrenzt wird. Die Pluralität der Kulturen unterstreicht Huntington in einer Weise, wie es extremer kaum geht: Sie gelten bei ihm als in sich geschlossene Totalitäten ohne übergeordnete Größe, die aufeinander keinen Einfluss ausüben und sich nicht durch Begegnung verändern, sondern allenfalls aufeinanderprallen. Zu diesem Bild passt auch Huntingtons Ablehnung einer universalen Kultur: „das Konzept einer ‚universalen Kultur’“ meint Huntington, sei eine „Ideologie des Westens angesichts von Konfrontationen mit nichtwestlichen Kulturen“.

Probleme mit Huntingtons Kulturbegriff

Denkt man aber an Huntingtons Einordnung des 11. September, die Anschläge auf die USA seien kein Ausdruck eines Kampfs der Kulturen, sondern ein Akt der Barbarei, ein Angriff auf die Zivilisation als solche, so wird deutlich, dass Huntington neben der dargestellten deskriptiven, pluralen Kulturdefinition außerdem einen normativen Begriff der Zivilisation im Singular verwendet.

Huntingtons Buch endet mit dem Satz: „Im Kampf der Kulturen werden Europa und Amerika vereint marschieren müssen oder sie werden getrennt geschlagen. In dem größeren Kampf, dem globalen ‚eigentlichen Kampf’ zwischen Zivilisation und Barbarei sind es die großen Weltkulturen mit ihren großen Leistungen auf dem Gebiet der Religion, Kunst und Literatur, der Philosophie, Wissenschaft und Technik, der Moral und des Mitgefühls, die ebenfalls vereint marschieren müssen, da auch sie sonst getrennt geschlagen werden.“

Huntingtons Berufung auf „die Zivilisation“ und seine gleichzeitige Ablehnung des Begriffs einer „universalen Kultur“ als Ideologie des Westens ist dadurch zu erklären, dass er „universale Kultur“ nicht normativ als Minimalkonsens oder universelle Norm versteht, sondern deskriptiv als Hypothese einer sich im Globalisierungsprozess entwickelnden uniformen Lebensweise, die er für unzutreffend hält. Die faktische weltweite Verbreitung bestimmter Technologien und Moden bleibt aus seiner Sicht für die kulturellen Identitäten folgenlos.

Dass Huntington sich auf verschiedene Begriffe von ‚Kultur’ stützt, einmal in deskriptiver und einmal in normativer Hinsicht, muss nicht als Einwand gegen sein Konzept aufgefasst werden – die verschiedenen Begriffe könnten sich gegenseitig ergänzen, ohne im Widerspruch zueinander zu stehen. Doch es gibt zwei Aspekte in Huntingtons Konzept, die einem solchen Ergänzungsverhältnis im Weg stehen: die Annahme von der Geschlossenheit der partikularen Kulturen und der ausgrenzende Begriff der Zivilisiertheit.

In deskriptiver Hinsicht grenzt Huntington eine Pluralität verschiedener Weltbilder und Lebensformen von Phänomenen der Modernisierung ab, die keine spezifische kulturelle Identität stiften, sondern von universeller Bedeutung sind. Der spezifische Sinn kultureller Pluralität und der allgemeine Sinn universell gültiger Zivilisationsleistungen sind grundsätzlich miteinander vereinbar, auch wenn Huntingtons Konzept hier viele Fragen offen lässt: ‚Wissenschaft’ wird, je nachdem, was genau darunter gefasst wird, mal der einen, mal der anderen Seite zugerechnet; die Zuordnung des ‚Weltbilds’ zur partikularen Seite der Kultur erweckt den Eindruck, es gebe eine ‚weltbildlose’ Naturwissenschaft und Technik; wie Recht, Politik, Ökonomie zuzuordnen sind, bleibt unklar.

In normativer Hinsicht gibt ‚Kultur’ Kriterien an, an denen die vielen Kulturen zu messen sind. Diese Kriterien können übergreifende, absolute Vorschriften für alle Kulturen sein, Minimalstandards des Umgangs miteinander („Zivilisiertheit“). Sie können aber auch als untergeordnete Bewertungen verstanden werden, die selbst Ausdruck jeweiliger kultureller Wertordnungen sind.

Unvereinbar sind der deskriptive und normative Begriff allerdings, wenn Kulturen in deskriptiver Hinsicht als geschlossene Totalitäten dargestellt werden. Mit dem „sittlichen Minimalkonsens“ wird eine übergeordnete Größe ins Spiel gebracht, die die Rede von in sich geschlossenen Kulturen konterkariert. Ohnehin weist das Konzept geschlossener Kulturen die typischen Schwächen kulturrelativistischer Ansätze auf: Wäre es zutreffend, dann könnte Huntingtons Darstellung der „neuen politischen Weltordnung“ selbst nur Ausdruck eines partikularen Weltbildes sein, nämlich des westlichen. Die kulturübergreifende Sicht auf die Welt als Ganze wäre unmöglich und mit ihr auch die übergreifende These vom ‚Kampf der Kulturen’. Trifft diese übergreifende These hingegen zu, dann kann die Behauptung der Geschlossenheit der Kulturen nicht aufrechterhalten werden.

Von der relativistischen These der in sich geschlossenen Kulturen hängt auch die Bedeutung des zweiten Grundbegriffs in Huntingtons Weltformel ab: die des „clash“, der in der deutschen Übersetzung vom „Zusammenprall“ zum „Kampf“ geworden ist. Kulturen mit unscharfen Rändern, mit Überschneidungen und gegenseitigen Einflüssen prallen nicht in so dramatischer Weise aufeinander, aber sie können durchaus im Kampf miteinander liegen – einem Kampf, der die mehr oder weniger zivilisierte Form eines Streits oder Krieges annehmen kann.

Unvereinbar ist der deskriptive Begriff der vielen Kulturen auch mit einem ausgrenzenden Begriff von Zivilisiertheit, der alle, die gegen den geforderten Minimalkonsens verstoßen, als Barbaren aus der Zivilisation als solcher ausgrenzt. Huntingtons Erklärung, der Angriff auf Amerika sei kein Kampf der Kulturen, sondern ein Akt der Barbarei wendet die deskriptive These von der Kultur als neuem Paradigma nicht nur unvermittelt normativ, er spielt auch den normativen gegen den deskriptiven Ansatz aus. In deskriptiver Hinsicht ist auch der islamische Fundamentalismus natürlich Ausdruck einer Kultur – selbst wenn er eine Minderheitenposition in der islamischen Welt darstellt. Die Ausgrenzung der Islamisten als „Barbaren“ oder „Schurken“ aus der Zivilisation als solcher entzieht der These vom Kampf der Kulturen die begriffliche Grundlage. Wer im Ernstfall seinen Gegner kurzerhand zum Barbaren und sich selbst zum Vertreter der Zivilisation als Ganzer erklärt, wird einen Kampf der Kulturen allenfalls noch dort feststellen können, wo er selbst nicht beteiligt ist.

Wie lässt sich Kultur von Ideologie abgrenzen?

Wie ist die Abgrenzung des neuen Kultur-Paradigmas vom alten Paradigma der Ideologien zu verstehen? Gemeint ist die ideologische Konfrontation „Kommunismus vs. Freie Welt“, die inzwischen weltpolitisch bedeutungslos geworden und einer Konfrontation zwischen Kulturen gewichen ist – so die These. Genau besehen bilden „Ideologien“ aber keinen Gegensatz, sondern sind selbst Ausdruck einer Kultur – jedenfalls dann, wenn von Kultur in einem beschreibenden Sinn die Rede ist und wenn sie, wie bei Huntington, als Wertsystem und Weltbild dargestellt wird. Welchen Sinn kann die Unterscheidung zwischen Kultur und Ideologie also haben? Intuitiv lässt es sich durchaus nachvollziehen, dass z.B. zwischen der Ideologie des Kommunismus mit ihrem Siegeszug von Deutschland über Russland bis China und den jeweiligen Kulturen dieser Länder ein Unterschied besteht. Drei Deutungen der Differenz sind möglich. ‚Ideologie’ und ‚Kultur’ können aufgefasst werden als Unterscheidung zwischen:

a) „aufgestülpten“ Ideologien und „verwurzelten“ Kulturen,

b) universalen und partikularen normativen Ansprüchen oder

c) expliziten präskriptiven Ansprüchen (der Politik) und impliziten konventionellen Strukturen (der Kultur).

Huntington betont im Sinne von a) vor allem den genetischen Unterschied und die damit verknüpfte lebenspraktische Relevanz: Ideologien sind aus seiner Sicht „aufgestülpte“ Weltbilder, die in der Lebensweise der Menschen kaum verankert sind. Davon unterscheiden sich die historisch gewachsenen Deutungs- und Wertsysteme, allen voran die Religionen, die für das Selbstverständnis der Angehörigen einer Kultur tatsächlich konstitutiv sind. Die Gegenüberstellung kann so jedoch nicht überzeugen – wären politische Ideologien tatsächlich lebenspraktisch bedeutungslos, wären sie wohl kaum in der Lage gewesen, die Welt in zwei Lager zu spalten. Letztlich handelt es sich hier um verschiedene Stufen eines Entwicklungsprozesses und nicht um verschiedene Phänomene. Zunächst „aufgestülpte“ können schließlich zu „verwurzelten“ Weltbilder werden – auch die großen Weltreligionen haben einmal klein angefangen.

Ist der Aspekt des universellen Anspruchs entscheidend, der mit den von Huntington gemeinten Ideologien verbunden ist und der im Gegensatz zu den partikular definierten Kulturen steht? Die Ideen der klassenlosen Gesellschaft und der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln sind, ebenso wie die Idee des freien Marktes und der Honorierung individueller Leistungen, normative Ideen mit universellem Anspruch, Ideen, die mehr sein wollen, als eine historisch-kulturelle Lebensform unter anderen. Das trifft aber genauso auf manche religiösen Überzeugungen zu oder Auffassungen von der richtigen sittlichen Lebensform.

Die dritte Möglichkeit der Unterscheidung bezieht sich auf den Grad der Reflexion und den spezifischen Normtypus, der mit dem Weltbild und Wertsystem der Kultur und der Ideologie jeweils verbunden ist, und mit den Bestrebungen ihrer weltweiten Verbreitung: Kulturen sind nach dieser Deutung allmählich entstandene, unbewusst wirksame Konventionen, die die Lebensform und die Weltsicht ihrer Mitglieder implizit prägen, während politische Ideologien (in einem umfassenden, wertfreien Sinn von Ideologie) reflektierte explizite Konzepte gesellschaftlicher Ordnung mit präskriptivem Anspruch darstellen.

Man kann diese Differenz auch durch verschiedene Integrationsformen erläutern: Kulturen sind im Unterschied zu politischen Zusammenschlüssen keine freiwilligen Asso-ziationen, sondern identitätskonstituierende Gruppen, denen man angehört, ohne über diese Mitgliedschaft im Sinne eines Ein- und Austritts unmittelbar verfügen zu können. Eine Staatsbürgerschaft kann man in einem formellen Akt annehmen und ablegen, auch über die Mitgliedschaft in einer Kirche kann man in dieser Weise entscheiden. Die kulturelle Prägung durch eine bestimmte Religion und die damit verknüpften Überzeugungen und Verhaltensmuster, die Prägung durch eine bestimmte Sprache und Lebensform lässt sich vielleicht allmählich überwinden und überlagern, nicht aber durch einen formellen Akt der Entscheidung ablegen. Eine politische Ideologie kann nach dieser Auffassung aus einer kulturellen Lebensform hervorgehen und Ansprüche an sie richten. Die Durchsetzbarkeit solcher politischen Ansprüche entscheidet sich dann nicht zuletzt daran, in welchem Maße sie der jeweiligen kulturellen Lebensform entgegenkommen.

Wenn man das Verhältnis von Kultur und Politik in dieser Weise auffasst, dann gewinnt die Diagnose vom Kampf der Kulturen eine andere, weniger dramatische Lesart. Sie zielt dann nicht auf Kultur als neues Paradigma der Weltpolitik, sondern auf die grundlegende Bedeutung kultureller Lebensformen als Bedingung und Gegenstand politischer Einigungsprozesse auf internationaler und nationaler Ebene.

Damit steht die These zugegebenermaßen unter Trivialitätsverdacht: Für die Warnung vor kulturell bedingten Konflikten in der Welt allein bedarf es keiner ‚neuen These’. Neu sind allerdings die Fronten, die in den letzten Jahren zwischen manchen kulturellen Gruppen aufgebrochen sind. Neu ist auch, dass miteinander streitende kulturelle Gruppen oft keinen territorialen, nationalen Grenzen mehr zugeordnet werden können, weil der Kulturkonflikt einerseits in die Staatsgrenzen selbst eingewandert ist, und andererseits auf weltweite Kommunikationsnetze zurückgreift. Diese Differenzierung zwischen nationalen und kulturellen Zugehörigkeiten ist in Huntingtons Konzept nicht vorgesehen. Erst die korrigierte Lesart von Huntingtons Formel kann plausibel machen, dass der Kampf der Kulturen uns vor allem auf nationaler Ebene Aufmerksamkeit abverlangt.

Kulturelle Vielfalt und Kulturphilosophie

Huntington propagiert zur Vermeidung eines Kampfs der Kulturen drei Prinzipien: das Prinzip der Nichteinmischung, das Neutralität gegenüber den innerkulturellen Konflikten anderer empfiehlt, das Prinzip der gemeinsamen Vermittlung, das auf Verhandlungen zwischen interkulturellen Konfliktparteien zielt, und das Prinzip der Gemeinsamkeit, das die Suche nach Werten, Institutionen und Praktiken empfiehlt, die allen Kulturen gemeinsam sind. Das klingt fast nach der beliebten Formel: Dialog statt Kampf der Kulturen. Doch wenn Dialog mehr ist als die strategische Verhandlung zwischen Interessengruppen, so ist ein Dialog hier eben nicht gemeint. Die Suche nach kulturellen Gemeinsamkeiten ist nicht das Gleiche wie die Suche nach übergeordneten universellen Normen. Kulturelle Gemeinsamkeiten erleichtern die Kommunikation, sie sind aber nicht Gegenstand der Kommunikation. Im Unterschied dazu sind die universellen Normen, die über alle kulturellen Grenzen hinweg Gültigkeit beanspruchen können, der wichtigste Gegenstand eines interkulturellen Dialogs.

Universelle Normen sind kein sittlicher Minimalkonsens in Huntingtons Sinn, keine minimale Moral, die bei „anständigen“ Menschen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden kann, die also weder mühsam gesucht, noch begründet werden muss. Eine Fixierung auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten legt den Grundstein für das Absolutsetzen der eigenen Kultur und die Ausgrenzung des anderen als des Barbarischen. Universelle Normen beanspruchen zwar absolute Gültigkeit, aber gerade deshalb sind sie keineswegs der Diskussion enthoben, sondern stehen unter besonderem Begründungsdruck.

Der „Kampf der Kulturen“ wird auf politischer Ebene geführt und kann auch nur dort gelöst werden. Wer auf politischer Ebene übergreifende Normen für Kulturen sucht und begründet, darf dem Abweichenden nicht den Status der Kultur bestreiten. So kann z.B. als Standard für politische Ideologien deren ‚Offenheit’ im Unterschied zur ‚Geschlossenheit’ gelten: Weltdeutungen müssen offen bleiben für externe Kritik, sie dürfen nicht immun sein gegen Widerlegungsversuche. Aber auch einem geschlossenen Weltbild kann man deshalb nicht den Kulturstatus absprechen.

Die Bewältigung eines „Kampfs der Kulturen“, sei es auf internationaler oder nationaler Ebene, ist im Rahmen wechselseitigen Respekts nur möglich durch Einigung auf universelle Normen, die von allen anerkannt werden. Diese übergreifenden Normen sind keine Leitkultur im Sinne einer für alle verbindlichen Lebensform, sondern Regeln, in deren Rahmen unterschiedliche Lebensformen möglich sein müssen. Allerdings begrenzt die Anerkennung universeller Normen natürlich auch den Freiheitsspielraum der jeweiligen Lebensformen. Es handelt sich bei universellen Normen auch nicht um ein kulturelles Weltbild, sondern um Standards, nach denen kulturelle Weltbilder beurteilt werden können. Es geht dabei also genau genommen nicht um einen normativen Kulturbegriff, sondern um Normen für Kulturen.


UNSERE AUTORIN:

Simone Dietz ist Professorin für Philosophie an der Universität Düsseldorf.